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Helma Lutz, Martina Schiebel et al. (Hrsg.): Handbuch Biographieforschung

Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 29.12.2020

Cover Helma Lutz, Martina Schiebel et al. (Hrsg.): Handbuch Biographieforschung ISBN 978-3-658-21830-0

Helma Lutz, Martina Schiebel, Elisabeth Tuider (Hrsg.): Handbuch Biographieforschung. Springer VS (Wiesbaden) 2018. 2., korrigierte Auflage. 805 Seiten. ISBN 978-3-658-21830-0. D: 149,99 EUR, A: 154,20 EUR, CH: 154,50 sFr.
Reihe: Handbuch.

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Thema

Diese Publikation bildet auf fast 800 Seiten die große thematische, methodische und methodologische Breite und Tiefe der Biographieforschung ab und präsentiert einen Überblick über diverse in diesem Zusammenhang relevante Theorien, Ansätze und Forschungsfelder.

Herausgeberinnen

Dr. Helma Lutz ist Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt am Main. 

Dr. Martina Schiebel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fakultät Bildungs- und Sozialwissenschaften, Institut für Pädagogik, Fachgruppe Forschungsmethoden.

Dr. Elisabeth Tuider ist Professorin für Soziologie der Diversität am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. (Verlagsangaben).

Aufbau

Die umfangreiche Publikation Handbuch umfasst 65 Beiträge und gliedert sich in vier Teile. Zunächst wird im ersten Teil des Handbuchs die Verortung der Biographieforschung in verschiedenen Bezugstheorien und -disziplinen diskutiert und eine Beschreibung der methodologischen und theoretischen Grundlagen vorgenommen.

Der zweite Teil des Handbuchs beleuchtet die verschiedenen Forschungsfelder der Biographieforschung. So werden hier die Felder von Kindheits- und Jugendforschung, von Geschlechter- und Sozialisationsforschung, von Gewaltforschung und Rechtsextremismus, Sozialer Arbeit und Professionsforschung ebenso wie die Forschungsbereiche Behinderung, Migration, Religion, Familie, Zeit und Soziale Bewegungen genauer beleuchtet.

Im dritten Teil des Handbuchs erfolgt eine nähere Betrachtung der methodischen Herausforderungen beim biographieanalytischen Forschen. Besonders Augenmerk wird auf methodische Bezüge zu anderen Forschungsbereichen, auf Abgrenzungen, sowie auf die besonderen Herausforderungen von sprachlicher Vielfalt und Übersetzung und auf ethische Fragen des Forschens gelegt.

Ein vierter Teil des Handbuchs betrachtet die internationale Diversifizierung der Biographie- forschung.

Inhalt

Exemplarisch sollen hier zwei der 65 Kapitel ausführlicher vorgestellt werden: zum einen das Kapitel „Krise(n), Prekariat und Biographieforschung“, zum andern das Kapitel „Biographie und Bildung“.

Im Kapitel „Krise(n), Prekariat und Biographieforschung“ beschäftigt sich Brigit Griese vom Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Hochschule Emden Leer, mit (sozial-)wissenschaftlichen (Begriffs-) Bestimmungen zur Krise, um im Anschluss auf ein, u.a. mittels biographietheoretischem und -analytischem Zugang erkundetes Krisenphänomen in der Gegenwartsgesellschaft einzugehen, nämlich das neue Prekariat. Sie geht in ihrem Beitrag von der Annahme aus, dass sich nicht nur Gesellschaftsformationen in der Krise befinden, sondern auch die Wissenschaft(en). Diesem Aspekt, widmet sie sich u.a. unter forschungsethischen Vorzeichen.

Dazu definiert die Autorin zunächst den Begriff Krise und ordnet ihn aus soziologischer Perspektive ein. Dabei erachtet sie drei Aspekte als relevant, um überhaupt von Krisen im gesellschaftlichen Zusammenhang sprechen zu können: Es bedarf der Menschen, die Vorgänge in der Welt als Krise erleben/​bezeichnen, gehäufter Kommunikation bzw. Medienpräsenz und politischer Resonanz (317). Diese Krise manifestiert sich dann in bestimmten Akzentuierungen, wie z.B. der Bildungsgesellschaft oder dem Kapitalismus.

Einen besonderen Schwerpunkt in ihren Betrachtungen legt die Autorin auf die Prekarisierungsforschung, in deren Mittelpunkt Teilzeitarbeit, Leiharbeit, (Schein-) Selbstständigkeit, geringfügige Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Hilfebezug und Effekte aktivierender Arbeitsmarktpolitik stehen. Sie präsentiert einige aktuelle Studien und kommt zum Schluß: „Insgesamt ist festzustellen, dass das soziale Phänomen Prekariat derzeit einige Biographieforscher_innen zu Untersuchungen motiviert: (Verlaufs-)Typen werden entwickelt, typische Bewältigungsmuster im Horizont prekärer Lebenslagen rekonstruiert sowie biographische Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster systematisiert.“ (321)

Die Autorin unterstreich abschließend, dass Biographieforscher*innen einen wichtigen Beitrag dahingehend leisten können, die Frage nach gesellschaftlichen Krisen bzw. sozialem Zusammenhalt aus makro-, meso- und mikrosoziologischer Warte aufzurollen. (324)

Die Autorin des Kapitels „Biographie und Bildung“ Minna-Kristiina Ruokonen-Engler vom Frankfurter Institut für Sozialforschung setzt sich in ihrem Text damit auseinander, was genau eigentlich biographische Bildungsforschung ist, nämlich die „Untersuchung der subjektiven Lern- und Bildungsprozesse aus der Perspektive der Gesamtgestalt der Lebensgeschichte“ (441), und mit welchen Fragen diese sich beschäftigt. Die Autorin grenzt zudem die qualitative Bildungsforschung im Vergleich zur quantitativen ab. Anschließend wird die biographische Perspektive dargestellt und die Frage diskutiert, wie Lern- und Bildungsprozesse aus einer biographischen Perspektive zu verstehen sind. Die Autorin macht deutlich, dass die biographische Perspektive auf Lern- und Bildungsprozesse eine analytische Betrachtungsweise anbietet, die diese in zeitlich strukturierten Sinn- und Wirkungszusammenhängen mit anderen lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Prozessen und deren Bearbeitung versteht, die sich im biographischen Material rekonstruieren lassen (441). Dabei sind biographische Lernprozesse als etwas zu verstehen, das in der Auseinandersetzung des Subjekts mit der sozialen Welt entsteht. Daran schließt sich eine Übersicht über die historische Entwicklung der biographischen Bildungsforschung und eine Diskussion einschlägiger und richtungsgebender Studien zu Bildungsbiographien an. Hier weist die Autorin beispielsweise darauf hin, dass sich in den neueren biographischen Studien eine Wendung zur Analyse der Reproduktion sozialer Ungleichheit abzeichne (444), auch würden zunehmend migrantische und auch rassismuskritische Perspektiven als Forschungsthemen aufgenommen. Der Beitrag wird abgeschlossen durch eine Diskussion des Forschungsdesiderats bezüglich der biographischen Bildungsprozesse und ihrer Ermöglichung unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Diskussion

Das Handbuch Biographieforschung greift zentrale Fragestellungen der Biographieforschung aus soziologischer Perspektive auf, inkludiert aber auch Wissenschaftler*innen aus anderen Forschungsfeldern, gibt wichtige wissenschaftliche Diskurse wieder, nimmt Abgrenzungen zu verwandten Forschungs- und Fachbereichen vor, ohne dabei jedoch die Interdisziplinarität aufzugeben, die so unverzichtbar für die Biographieforschung ist. Für die Herausgeberinnen ist eine Biographie zu verstehen als „eine soziale Konstruktion, die von Menschen in Auseinandersetzung mit den sie umgebenden und sich wandelnden soziohistorischen Rahmenbedingungen und Kontexten hergestellt wird“ (5). Biographien sind also demnach flexible Gebilde, denen eine ordnende und Sinn gebende Funktion zukommt. Als soziale Konstruktionen sind sie als prozesshaft und interaktiv zu verstehen und bezogen auf Erlebnisse und Veränderungen im Leben eines/​einer Einzelnen ebenso wie auf Krisen und Umbrüche der Gesellschaftsformation und -geschichte. In diesem Zusammenhang ist die Aufgabe von Biographieforschung so zu beschreiben, dass sie sich der Aufgabe stellt, „einen Zugriff auf soziale Verhältnisse zu erlangen, indem sie versucht, die interpretativ von Menschen erzeugten Sinn- und Deutungshorizonte nachzuvollziehen“ (5). Da Menschen soziale Wesen sind und sich ihr Leben überwiegend in Gemeinschaften ereignet und organisiert, „sind Narrationen von einzelnen Biograph_innen nicht nur singuläre Zeugnisse von eingeschränkter Reichweite, sondern gleichzeitig vergesellschaftlichte Erzählungen über Lebenswelten“ (5).

Fazit

Das Handbuch Biographieforschung bietet in seinen 65 knappen und dennoch fundierten Beiträgen auf fast 800 Seiten einen spannenden, aktuellen und tatsächlich umfassenden Rundumschlag zum Thema Biographieforschung. Dabei werden nicht nur soziologische Perspektiven berücksichtigt, sondern auch Beiträge aus Erziehungswissenschaft, der Sozialanthropologie, der Sozialen Arbeit und Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Religions- und Gesundheitswissenschaften, der Geschlechter-, Migrations- und Diversitätsforschung. Eine abwechslungsreiche und hochspannende Lektüre!

Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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Es gibt 184 Rezensionen von Elisabeth Vanderheiden.

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ISSN 2190-9245