Angela Rein: Normalität und Subjektivierung
Rezensiert von Dr. Carolin Ehlke, 27.04.2021

Angela Rein: Normalität und Subjektivierung. Eine biographische Untersuchung im Übergang aus der stationären Jugendhilfe.
transcript
(Bielefeld) 2020.
438 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5170-6.
D: 44,99 EUR,
A: 44,99 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.
Thema
In dem vorliegenden Buch werden wissenschaftliche Diskurse zu Normalität und Subjektivierung mit dem Praxisfeld der Erziehungshilfen verknüpft. Aus biographischer Perspektive von jungen Menschen, die in stationären Erziehungshilfeeinrichtungen in der Schweiz aufgewachsen sind, wird in der empirischen Studie rekonstruiert, welche Bedeutung Normalitätskonstruktionen für sie vor, während und nach der Jugendhilfe haben.
Autorin
Angela Rein ist Professorin für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung am Institut für Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Buch wurde 2018 als Dissertation an der Universität Tübingen angenommen und 2020 im transcript Verlag veröffentlicht.
Aufbau
Das Buch ist insgesamt in drei Teile gegliedert, denen eine Einleitung vorangestellt ist.
- Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 1) nähert sich die Autorin dem Kontext ihrer Untersuchung an und verortet diese in den bisherigen empirischen Studien und wissenschaftlichen Diskursen.
- Im zweiten Teil (Kapitel 2 und 3) stellt sie ihre theoretischen und methodologischen Rahmungen vor.
- Der dritte und umfangreichste Teil (Kapitel 4–8) widmet sich der eigenen Untersuchung und der Ergebnisdarstellung.
- Das abschließende Kapitel 9 bildet einen Ausblick auf weitere Forschungsperspektiven und Ansatzpunkte für die Fachpraxis der Erziehungshilfen.
Inhalt
Einleitung
Das Buch beginnt mit einer Einleitung, die die Leser*innen sehr gut in das Thema der Arbeit einführt. Care Leaver, welche einen Teil ihres Lebens nicht bei ihren Eltern, sondern in öffentlicher Erziehung aufgewachsen sind, weichen von dem als „normal“ konstruierten Aufwachsen ihrer Peers ab. Die jungen Menschen erleben dadurch Erfahrungen von Ent-Normalisierung. Wie Normalitätskonstruktionen von Care Leavern sowohl retrospektiv – insbesondere im Rahmen des Aufwachsens in der Kinder- und Jugendhilfe – als auch mit Blick auf ihre aktuelle Lebenslage wahrgenommen und biographisch erzählt werden, ist zentrales Anliegen des Buches.
Kapitel 1: Das Feld der stationären Jugendhilfe
In Kapitel 1 ordnet die Autorin ihre Untersuchung in bisherige nationale wie internationale wissenschaftliche Diskurse und Studien ein. Sie bezieht sich zunächst auf Forschungen, die die Adressat*innenperspektive in den Mittelpunkt stellen. Dann skizziert die Autorin aktuelle Diskurse um „Care Leaver“ bzw. „Leaving Care“. Daraus geht die wichtige Information hervor, dass es in der Schweiz kein nationales Kinder- und Jugendhilfegesetz gibt, weshalb die Gestaltung von Hilfen und der Übergang aus der Kinder- und Jugendhilfe von Kanton zu Kanton mitunter stark variiert. In den letzten beiden Unterkapiteln werden die theoretischen Hintergründe zu Differenzierungs- und Ungleichheitsverhältnissen und zu Normalität und Normalisierung in der Sozialen Arbeit prägnant dargestellt. In diesem ersten Kapitel gelingt es der Autorin, die Forschungslücken aufzuzeigen, an die ihre Untersuchung anknüpft:
- Bislang liegen in der Schweiz noch keine Forschungen mit einer „dezidierten Perspektive auf Subjektivierungsprozesse in den Institutionen der stationären Jugendhilfe“ vor (S. 25).
- Es gibt ebenfalls keine Studien, die „mit explizit dekonstruktiver und poststrukturalistischer Perspektive die Institution der stationären Jugendhilfe als performativen Diskursraum verstehen, an dem Normalitätsordnungen reproduziert und Subjekte entlang dieser Ordnungen hervorgebracht werden“ (S. 36).
- Zudem wurde noch nicht untersucht, „wie die Prozesse der Normalisierung aus Subjektperspektive in der stationären Jugendhilfe erlebt werden und welche Bedeutung hierbei Differenzverhältnisse haben“ (S. 40).
Kapitel 2: Theoretische und methodologische Perspektiven
In diesem Kapitel werden die theoretischen und methodologischen Rahmungen der Studie differenziert dargestellt und ein mehrebenenbezogenes Erkenntnisinteresse hervorgehoben. Auf folgende Theorien, welche in der Arbeit als sensibilisierende Konzepte verstanden werden, wird Bezug genommen: Biographietheorien, Übergangstheorien, Subjektivierungstheorien und Intersektionalität. Aus diesen verschiedenen Theorien leitet die Autorin am Ende des Kapitels die verschiedenen Ebenen ab, entlang derer sie die Entstehung und Bedeutung von Normalitätskonstruktionen aus Sicht von Care Leavern rekonstruiert: a) gesellschaftliche Bedingungen, b) soziale Diskurse und institutionalisierte Praktiken und c) subjektiv begründetes Handeln und subjektive Orientierungen (S. 92).
Kapitel 3: Methodische Herangehensweise
In Kapitel 3 wird das Forschungsdesign der Untersuchung vorgestellt. Die Studie ist in der Grounded Theory verortet. Zur Erhebung der Daten hat die Autorin die Methode des biographisch-narrativen Interviews ausgewählt. Neben der Beschreibung des Feldzugangs, der Durchführung und der Auswertung der Interviews wird auch das Sample vorgestellt: insgesamt wurden Interviews mit 14 Care Leavern im Alter von 17–30 Jahren geführt (13 junge Frauen, 1 junger Mann; die Mehrheit mit Migrationserfahrungen). Einen großen Anteil nimmt das Unterkapitel zur Reflexion des eigenen Forschungsdesigns ein (S. 109 ff.). Diese reflexive Auseinandersetzung mit z.B. der (Re-)Produktion von Differenzen und Normalität im Forschungsprozess stellt eine gute Ergänzung zu den theoretischen Herleitungen zu Normalität und Subjektivierung dar – denn auch im Forschungsprozess spielen diese Aspekte eine bedeutende Rolle.
Kapitel 4–7: Darstellung von drei Einzelfallanalysen
Ab Kapitel 4 beginnt die Darstellung der Ergebnisse aus der empirischen Untersuchung. Nach einer kurzen Einführung im vierten Kapitel werden in Kapitel 5 (Elif Yildiz), Kapitel 6 (Celina Schweizer) und Kapitel 7 (Nazar Sautin) drei kontrastive Einzelfälle mit Auszügen aus den Interviews sehr ausführlich dargestellt (je ca. 60–65 Seiten). Der Aufbau der Falldarstellungen ist bis auf wenige Abweichungen immer der gleiche:
- biographisches Kurzportrait,
- Anbahnung des Interviews und Reflexion der Interviewsituation,
- Konstruktion der Biographie – Übersicht Interviewverlauf,
- Feinanalyse der Anfangssequenz – Rahmungen der Interviewsituation,
- Biographie bis zur Jugendhilfe,
- Übergang in die Jugendhilfe,
- Biographie in der stationären Jugendhilfe,
- Entwicklungen nach der stationären Jugendhilfe,
- Fazit.
In den Ausführungen wird der unterschiedliche Umgang mit Normalitätskonstruktionen und dementsprechende Subjektivierungsprozesse sehr gut deutlich. Während bspw. eine Interviewte ihre Handlungsfähigkeit über bzw. entgegen ihrer eigenen migrations- und gewalterfahrungsbedingten „Opferrolle“ herstellt, beschreibt eine andere Befragte ihre Lebensgeschichte als problembehaftete Hilfebiografie, in der sie viele ent-normalisierende und exkludierende Erfahrungen gemacht und wenig eigene Handlungsfähigkeit erlebt hat.
Kapitel 8: Biographien zwischen Prozessen der „Ent-Normalisierung“ und „Ringen um Normalität“
In Kapitel 8 findet eine fallübergreifende Ergebnispräsentation statt. Zu den zuvor ausführlich dargestellten „Kernfällen“ werden nun auch Ausschnitte aus den anderen Interviews ausgewählt, um entlang von bestimmten Themen (z.B. Anerkennung von Hilfebedarf, Ungleichheitserfahrungen, ent-normalisierende Diagnosen) die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammenzufassen. An einigen Stellen findet hier auch eine Theoretisierung der Ergebnisse statt. Die Autorin kann in diesem Kapitel aufzeigen, dass Care Leaver eine große Vielfalt an Erfahrungen und Umgangsstrategien mit Blick auf Normalitätskonstruktionen haben – diese bewegen sich zwischen einer erfahrenen „Ent-Normalisierung“ und einem „Ringen um Normalität“.
Kapitel 9: Ausblick
Im letzten Kapitel zieht die Autorin ein methodologisches Resümee und zeigt „Perspektiven und Ansatzpunkte für Veränderungen und Dekonstruktion von hegemonialen Normalitätsordnungen in Fachdiskursen, Forschungen sowie der pädagogischen Praxis der stationären Jugendhilfe“ auf (S. 389). Es wird daraus deutlich, dass in fachlichen und gesellschaftlichen Diskursen zu Adressat*innen von Erziehungshilfen individualisierende und problemorientierte Perspektiven vorherrschen. So wird ein vermeintliches Scheitern in und nach der Jugendhilfe einem individuellen Versagen zugeschrieben, was wiederum zu unterschiedlichen Bewältigungsstrategien bei den jungen Menschen führt. Weniger jedoch werden gesellschaftliche Normalitätskonstruktionen reflektiert, die sich auch im Jugendhilfesystem und in der alltäglichen Hilfepraxis zeigen und durch die beteiligten Akteure reproduziert werden. Die Autorin resümiert in ihrem letzten Satz des Buches: „Somit könnte anstelle der Ent-Normalisierung von Jugendlichen eine Normalität der Ent-Normalisierung und Dekonstruktion von institutionellen und gesellschaftlichen Normalitätsordnungen und damit verbundenen wissenschaftlichen Diskursen entstehen“ (S. 399).
Diskussion
Das vorliegende Buch ist ein weiterer wichtiger Beitrag in der deutschsprachigen Forschung zu Care Leavern und Leaving Care. Inhaltlich knüpft die Untersuchung von Angela Rein sehr gut an die Studie von Daniela Reimer zu „Normalitätskonstruktionen in Biografien ehemaliger Pflegekinder“ (2017) an. Während zudem bisherige Studien mitunter ehr praxisorientiert sind, zeichnet sich die Studie von Angela Rein durch ihre theoretische Fundiertheit aus. Sie setzt sich auf mehreren Ebenen – sowohl im Theorie- als auch im Empirieteil – tiefgehend mit den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen um Normalität und Subjektivierung auseinander. Die Übertragung dieser Diskurse auf das Praxisfeld der Hilfen zur Erziehung schafft einen Gewinn für die Fachpraxis – nicht zuletzt dadurch, dass Care Leaver befragt wurden und aus ihrer Subjektperspektive berichten. Viel zu wenig wird in der Fachpraxis von den verschiedenen beteiligten Akteuren bisher reflektiert, wie die jungen Menschen „ent-normalisiert“ werden und ihnen dabei das Gelingen bzw. Nicht-Gelingen von ihren Lebensläufen selbst zugeschrieben wird. Insbesondere in der Hilfegewährung gilt es, Hilfebedarfe ressourcen- und nicht defizitorientiert anzuerkennen und die jungen Menschen dabei ehrlich und umfangreich zu beteiligen und zu unterstützen.
Fazit
Durch den komplexen Theoriefokus in der Arbeit sind die Zielgruppe dieses Buches ehr Wissenschaftler*innen. Gleichwohl gelingt es der Autorin sehr gut, ihre theoretischen Erörterungen und Reflexionen durch ihre empirische Untersuchung für die Fachpraxis der stationären Jugendhilfe zugänglich zu machen. Insbesondere die Empfehlungen im letzten Kapitel regen Fachkräfte in stationären Einrichtungen dazu an, (Ent-)Normalisierungsprozesse sichtbar zu machen, diese kritisch zu reflektieren und sie für und mit den jungen Menschen zu dekonstruieren. Das Buch ist ein wichtiges Plädoyer für weniger Stigmatisierungen bzw. Kategorisierungen und dafür mehr Diversität in Erziehungshilfen.
Literatur
Reimer, Daniela (2017): Normalitätskonstruktionen in Biografien ehemaliger Pflegekinder. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Rezension von
Dr. Carolin Ehlke
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Carolin Ehlke. Rezension vom 27.04.2021 zu:
Angela Rein: Normalität und Subjektivierung. Eine biographische Untersuchung im Übergang aus der stationären Jugendhilfe. transcript
(Bielefeld) 2020.
ISBN 978-3-8376-5170-6.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27292.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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