Jens Baas (Hrsg.): Digitale Gesundheit in Europa
Rezensiert von Prof. Dr. Gudrun Faller, 27.08.2020

Jens Baas (Hrsg.): Digitale Gesundheit in Europa. Menschlich, vernetzt, nachhaltig. Mit einem Geleitwort von Jens Spahn. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2020. 360 Seiten. ISBN 978-3-95466-531-0. D: 59,95 EUR, A: 61,75 EUR, CH: 72,00 sFr.
Thema
Das Herausgeberwerk erhebt den Anspruch, eine Standortbestimmung zur Digitalisierung des Gesundheitswesens vorzunehmen und auf diese Weise einen Beitrag zu einer verbesserten Versorgung der Patienten zu leisten. Ausgehend von der These, „dass in einer vernetzten und globalen Welt ein einheitlich europäisches Denken und Handeln für alle von Vorteil ist“, wird davon ausgegangen, dass ein „europäischer Weg“ der Digitalisierung die gesundheitliche Versorgung wesentlich verbessert.
Herausgeber
Der Herausgeber des Sammelbandes ist seit Juli 2012 Vorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK). Davor war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer.
Die weiteren, knapp 60 Autorinnen und Autoren der insgesamt 33 Einzelbeiträge kommen hauptsächlich aus den Bereichen Krankenversicherung (hier ausschließlich Techniker Krankenkasse), Unternehmen/​Unternehmensberatung, Klinik/​Medizin und Forschung.
Entstehungshintergrund
Wie der Herausgeber im Vorwort betont, wurde der Erscheinungstermin des Bandes gezielt auf den Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gelegt. Das Buch will diesen Anlass nutzen, um eine Standortbestimmung vornehmen, die zeigt, dass „eine Vielzahl an Aktivitäten“ existiert und „die Digitalisierung im Gesundheitswesen in Europa bereits zahlreiche Wurzeln geschlagen hat“, gleichzeitig „aber noch viel zu tun [bleibt], um die Versorgung der Menschen zu verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sichern“ (Seite V). An mehreren Stellen des Bandes wird betont, dass es darum gehen müsse, bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine gemeinsame europäische Position zu vertreten. Jenseits einer primär unternehmens- bzw. marktgesteuerten Praxis der USA und einer staatlich reglementierten Datennutzungspolitik in China sollen in Europa die Prinzipien der Ethik, der Datensicherheit und der Nützlichkeit für den Menschen handlungsleitend sein.
Aufbau und Inhalt
Die 344 Seiten umfassende Publikation gliedert sich in drei Hauptabschnitte mit jeweils neun bis zwölf Einzelbeiträgen. Die Hauptabschnitte sind überschrieben mit den Titeln „Wie digitale Technik den Patienten nutzt“, „Wie digitale Medizin den Patienten in Europa nutzt“ und „Wie die Digitalisierung des Gesundheitssystems den Patienten in Europa nutzt“.
Im ersten Teil mit dem Fokus auf digitale Techniken finden sich Beiträge zum Verständnis, der Funktionsweise und den Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien wie Blockchain im Gesundheitswesen (Kapitel 1), Digitale Plattformen in der Krankenversicherung (Kapitel 2), generell zur Digitalisierung der Medizintechnik (Kapitel 3), die Nutzung von Quantentechnologien für die medizinische Versorgung (Kapitel 6) oder die aktuelle und künftige Rolle der Plattformwirtschaft (Kapitel 7). Ferner enthält Teil I mehrere Beiträge, die sich mit Chancen und Risiken der Digitalisierung des Gesundheitswesens auseinandersetzen, so Kapitel 10 (Risiken der KI in Form eines Schattensystems neben der gesetzlichen Krankenversicherung) und Kapitel 8 (Chancen und Risiken der Open Data und KI im Gesundheitswesen) und ein Cluster mit konkreten Vorschlägen zur Gestaltung bzw. Regulierung des Themenfeldes, wie Kapitel 4 (Rolle der neuen EU-Medizinprodukteversordnung beim Marktzugang von digitalen Gesundheitsanwendungen), Kapitel 5 (Bewertungsverfahren und -kriterien von Gesundheitsapps in ausgewählten Ländern), Kapitel 12 (Notwendigkeit eines European Health Data Space für eine europäische Strategie im Gesundheitswesen) und Kapitel 11 (Semantische Standards für die automatisierte Weiterverarbeitung von Daten zwischen IT Systemen im Ländervergleich). Ergänzend wird in Kapitel 9 berichtet, welche Methoden der digitalen Datennutzung die Techniker Krankenkasse in welchen Einsatzbereichen verwendet.
Teil zwei „Wie digitale Medizin den Patienten in Europa nutzt“ umfasst neun Beiträge, darunter einen Teil, der die Chancen und Möglichkeiten der digitalisierten Medizin in Bezug auf verschiedene Diagnosegruppen bzw. Patientenkollektive reflektiert, wie z.B. Krebserkrankungen (Kapitel 1), psychische Erkrankungen (Kapitel 2), die dermatologische Versorgung (Kapitel 5), die Allergologie (Kapitel 6), seltene und häufige Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter (Kapitel 7) und seltene Erkrankungen allgemein (Kapitel 9). Ein weiteres Themencluster adressiert die digitalen Möglichkeiten für Versorgungsinstitutionen, wie sich in Kapitel 3 in der Idee des Smart Hospitals zeigt. Diskutiert werden aber auch weitere aktuelle praxisbezogene Projekte und Ansätze der digitalen Medizinanwendung in Deutschland (Kapitel 4). Ein stärker grundsätzlich ausgerichtetes Kapitel ist das achte, das vom Humangenomprojekt ausgehende Chancen für eine individualisierte Medizin diskutiert.
Teil drei „Wie die Digitalisierung des Gesundheitssystems den Patienten in Europa nutzt“ setzt sich mit europaweiten Anforderungen für den Datenschutz und die Datennutzung von Medizininformationen auseinander, und expliziert dies anhand der Themen elektronische Patientenakte (Kapitel 1), europäische Datenschutzregeln (Kapitel 2), E-Health-Konzepte (Kapitel 3), Dienstleistungen (Kapitel 4) sowie Forschung im europäischer Gesundheitsdatenraum (Kapitel 5). Ferner wird die Bedeutung der EU bei der Digitalisierung der deutschen Krankenhäuser dargestellt (Kapitel 6), die Herausforderungen für die Gesundheitswirtschaft benannt (Kapitel 7) und die Verwirklichung einer „Digitalen Gesundheit“ in Europa, u.a. durch gemeinsamen Datenraum, Innovationsförderung und eine Liberalisierung der Märkte gefordert (Kapitel 8). Kapitel 9 kommt erneut auf das Thema Datennutzen und Datenschutz durch den so genannten „Europäischen Weg“ zu sprechen, während Kapitel 10 Impulse aus Europäischen Nachbarstaaten für Digital Health ableitet und Kapitel 11 Eintrittsmöglichkeiten chinesischer Tech-Unternehmen in den deutschen Gesundheitsmarkt erörtert.
Das optisch im Inhaltsverzeichnis hervorgehobene Kapitel 12 des dritten Teils stellt im Sinne eines Fazits die Digitalisierung des Gesundheitswesens erneut in den Kontext des aufgeworfenen Spannungsbogens Europa – USA -China. Es greift die mehrfach in dem Band adressierten Themen DSGVO als europäische Basis sowie den „europäischen Datenraum“ auf und kommt auf Seite 342 zu dem Fazit: „wir stehen heute also vor einer grundsätzlichen Weichenstellung. Wenn es nicht gelingt, einen funktionierenden europäischen Weg zu gestalten, werden wir Europäer in einer globalisierten Welt digitale Gesundheitslösungen zu einem hohen, auch persönlichen Preis einkaufen müssen“.
Um den Leser*innen einen exemplarischen Eindruck über Themen des Bandes zu vermitteln, werden nachfolgend zwei nach Ansicht der Rezensentin gelungene Beiträge detaillierter vorgestellt:
Kapitel 5 in Teil I von Hendrikje Lantzsch et al. setzt sich mit konzeptionellen Überlegungen zur Nutzenbewertung von digitalen Gesundheitsanwendungen in Deutschland und Ansätzen aus Großbritannien und Frankreich auseinander. Hierzu ermitteln die Autoren im Vergleich der genannten Länder, welche Rahmenbedingungen für die Bewertung und Kostenerstattung durch die jeweils gesetzlich finanzierten Gesundheitssysteme gelten und entwickeln Vorschläge zur Optimierung der Bewertung der digitalen Gesundheitsanwendungen.
Kapitel 5 in Teil II von Matthias Augustin stellt Überlegungen für eine Verbesserung der dermatologischen Versorgung in Deutschland mit Hilfe digitaler Techniken an. Hierzu stellt er zunächst die Häufigkeit von Hauterkrankungen sowie den Stand der aktuellen Versorgung im europäischen Vergleich dar, illustriert den Beitrag, den die Digitalisierung für die Dermatologie leisten kann und erläutert deren praktische Anwendung in der Versorgung und der medizinischen Ausbildung.
Diskussion
Die auf der Buchrückseite genannten Adressaten – Entscheider und Gestalter im Gesundheitswesen, die die europäische Zukunft nachhaltig im Interesse der Patient*innen gestalten wollen, finden in dem Band ein reichhaltiges Repertoire an mit der Thematik der Digitalisierung des Gesundheitswesens verbundenen Aspekten. Neben der Auseinandersetzung mit grundlegenden Informationen finden Leserinnen und Leser auch stärker anwendungsbezogene Beiträge und damit einen gelungenen Mix an Anregungen und Basisinformation.
Abgesehen von einigen Wiederholungen, die bei der Komplexität der Thematik wohl nicht ganz zu vermeiden sein dürften, ist die Zuordnung der Beiträge zu den drei Hauptteilen nicht immer gut nachvollziehbar, und auch die Abschnittsüberschriften tragen nicht zur Klärung bei.
Auch wenn im Band keine explizit digitalisierungskritischen Positionen vertreten werden, ist das Spektrum der Erwartungen an die Möglichkeiten der Digitalisierung im Band relativ breit. Neben einigen sachlich-kritischen Bestandsaufnahmen wird in anderen Passagen von der digitalen Entwicklung die (quasi automatisierte) Lösung sozialer und gesellschaftlicher Probleme erwartet – etwa eine Demokratisierung des Zugangs zu Informationen, die Verbesserung der Arzt-Patient-Interaktion oder ein optimiertes operatives Miteinander aller Professionen im Gesundheitswesen. Als irritierend dürfte für einige Rezipient*innen ferner der in einzelnen Artikeln zum Ausdruck kommende, betriebswirtschaftlich verengte Blick wahrgenommen werden, der dazu tendiert, Patient*innen und Beschäftigte im Gesundheitswesen auf eine funktionale bzw. konsumierende Rolle zu reduzieren.
Formal hätte ein Schlagwortverzeichnis die Handhabung des Bandes sehr erleichtert und wäre dem Preis durchaus angemessen gewesen.
Fazit
Von den oben aufgeführten Kritikpunkten abgesehen handelt es sich bei dem Buch und ein informatives, zahlreiche Aspekte der Digitalisierung im Gesundheitswesen einbeziehendes Werk, das dazu anregt, die Diskussion über die Chancen, Grenzen und Risiken der Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzubringen.
Rezension von
Prof. Dr. Gudrun Faller
MPH, Professorin für Kommunikation und Intervention im Kontext Gesundheit und Arbeit an der Hochschule für Gesundheit in Bochum
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Gudrun Faller.
Zitiervorschlag
Gudrun Faller. Rezension vom 27.08.2020 zu:
Jens Baas (Hrsg.): Digitale Gesundheit in Europa. Menschlich, vernetzt, nachhaltig. Mit einem Geleitwort von Jens Spahn. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-95466-531-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27297.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.