Beatrice Voigt (Hrsg.): Vom Werden
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.08.2020
Beatrice Voigt (Hrsg.): Vom Werden. Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft : Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung. Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition (Mühldorf am Inn) 2019. 317 Seiten. ISBN 978-3-9816143-6-7. D: 48,00 EUR, A: 37,10 EUR.
„Das Sein ist das Werden des Ganzen“
Es sind die existentiellen, anthropologischen und philosophischen Fragen; „Wer bin ich?“ und „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“, die zu allen Zeiten die Menschen veranlasst haben, über den eigenen, physischen und psychischen Gartenzaun zu schauen, und sich nicht zufrieden zu geben mit einem: „Da kann man nichts machen!“. Es ist vor allem in Krisenzeiten die Frage: „Was wird aus uns und unserem Leben auf der Erde?“, die nach Aussicht sucht. Vor allem stellen dabei die schnellen und oberflächlichen Antworten nicht zufrieden, die von der Überschätzung des menschlichen Tuns – „Ich kann und will alles, und das sofort!“ – bis hin zur kritischen Erkenntnis reichen, dass der Mensch nicht alles machen dürfe, was er kann oder zu können glaube.
Entstehungshintergrund
In den Zeiten des Zweifelns, von Ohnmachtsempfindungen und momentanistischen, populistischen Einstellungen ist es dringend geboten, nach wissenschaftlichen, systemischen und interdisziplinären Theorien und Konzepten Ausschau zu halten, diese zu diskutieren und zu erproben. Die Wiener Universität für Bodenkultur und die Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns haben in einem Symposium darüber diskutiert, wie es gelingen könne, in den Zeiten von tiefgreifenden Veränderungen, lokalen und globalen Vielfalten, humane Wirklichkeiten so mitzugestalten, dass sie Fake News und Ideologien zu widerstehen vermögen: „Was können wir einer ‚Welt im Ungleichgewicht‘ entgegen setzen?“. Beim Innovations- und Forschungsprojekt „Vom Werden“ wurden interdisziplinäre Fragen zur „Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft“ thematisiert und das Augenmerk darauf gerichtet, wie den zunehmenden globalen Umwelt-, den menschengemachten Wirtschafts- und Finanzkrisen, und den menschheitsbedrohenden Pandemien und Gefährdungen begegnet werden kann. Das Symposium fand vom 8. bis 10. Dezember 2017 in München statt. Die Ergebnisse und Perspektiven werden in dem Band „Vom Werden – Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft“ vorgestellt. Die antike, griechische Ovidsche Erkenntnis – „Nichts auf der ganzen Welt ist beständig. Alles fließt und jede Erscheinung wandelt sich im Laufe der Zeit“ – kann als Wahlspruch und Richtungsweiser für den notwendigen Perspektivenwechsel verstanden werden, wie ihn 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“.
Herausgeberin
Die in Mühldorf am Inn lebende Kunst- und Kulturmanagerin und Autorin Beatrice Voigt gibt den Symposiumsband heraus, der auch im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt entstandenem Buch „BodenLeben – Erfahrungsweg ins Innere der Erde“ (2013, ISBN 978-3-9816143-0-5) zu verstehen ist: „Im Mittelpunkt steht das nachhaltige Zusammenwirken von Mensch, Natur und Technik sowie der lebendige transkulturelle Dialog zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft“.
Aufbau und Inhalt
Der buchbinderisch, ästhetisch und anschaulich gestaltete Band weist 36 Textbeiträge und mehr als 300 Abbildungen und Grafiken von namhaften Kunst-, Kultur- und BildungsexpertInnen aus. Es sind die immerwährenden, ständigen An- und Herausforderungen an die Individuen und Kollektive, sich ihres Menschseins bewusst zu sein, sich human und kritisch zu fragen: „Wer bin ich?“ – „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“, und sich zu orientieren an dem anthropologischen, kantischen Appell: „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“.
Der Tagungsband „Vom Werden“ wird, neben den Geleitworten der am Symposium beteiligten Einrichtungen – dem Rektor der Wiener Universität für Bodenkunde, Martin H. Gerzabek, dem Vorsitzenden des Kuratoriums der Münchner Stiftung Kulturelle Erneuerung, Meinhard Miegel, dem Generaldirektor der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns, Gerhard Haszprunar, und der Einführung durch Beatrice Voigt – in sechs Kapitel gegliedert:
- Im ersten werden Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach den Imponderabilien, dem Gewordenen, und den Zufälligkeiten des Lebens (vgl. z.B. dazu auch: Jörg Link, Schreckmomente der Menschheit. Wie der Zufall Geschichte schreibt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/22145.php) gestellt.
- Im zweiten wird das Menschengemachte und -gewollte als Bildungs- und Aufklärungsanforderung und Lebenslehre nachgefragt (vgl. auch: Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363ff).
- Im dritten wird der „Dialog mit der Erde“ aufgenommen und der „Bodenkontakt als transkulturelles Ereignis“ dargestellt (siehe auch: Nationaler Kulturdialog, Hrsg., Kulturelle Teilhabe, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26410.php).
- Im vierten wird zum (Selbst-)Denken aufgefordert (auch: Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24084.php).
- Im fünften werden kulturphilosophische Fragen nach dem menschlichen, humanen Bewusstsein gestellt (siehe auch: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php ).
- Und im sechsten Kapitel wird das „Gesetz des Werdens“ als natürliches Entstehen und Vergehen, und als wirkliches und gemachtes Entwickeln reflektiert.
Es sind die vielfältigen, unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen, die den Autor und Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer Ausschau nach den „bewegten Bewegern“ machen lässt: „Nichts ist, alles wird, auch das Werden. Es ist nicht nur die Welt, die weltet, es ist auch das Werden, das werdet. Die Zukunft bleibt offen“. Der Astrophysiker Georg Feulner unternimmt einen Streifzug durch das „Werden der Welt“. Es sind die Hab-Acht-Aufforderungen, dass die Menschheit im Anthropozän sich bewusst wird, sich „für den Schutz der Biosphäre und des Klimas zu engagieren“.
Der Biologe Axel Lange zeigt am Modell der menschlichen Hand die evolutionären, biologischen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse auf (vgl. dazu auch: Jamie Metzl, Der designte Mensch. Wie die Gentechnik Darwin überlistet, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25836.php).
Der Hochschuldidaktiker Hans-Peter Voss plädiert für „Kognition, Lernen und Bildung in der digitalen Zeitenwende“, indem er die Bedeutung von Kreativität und Emotionalität aufmerksam macht: „Die Welt der digitalen Medien bedarf der Ergänzung und Begleitung durch konkrete spürbare Erfahrungswelten, zweckfreie Räume echten Innehaltens und des Staunens zur Förderung der Selbstorganisation des Denkens und Handelns, für das Werden der individuellen Persönlichkeit“.
Der Soziologe und Humanbiologe Rainer Paslack stellt mit dem Beitrag „Urgeschichte der Selbstorganisation“ die Theorien, Systeme, Strukturen und Pioniere von organisierten und spontanen Ordnungs- und Unordnungsphänomenen vor, als synonyme wie antonyme, entstehende und vergehende Ordnungen.
Der Mathematiker und Chaosforscher Heinz-Otto Peitgen und der Musiker und Komponist Andreas Skouras gehen den „Spuren von Chaos und Selbstorganisation in Wissenschaft und Kunst“ nach. Mit der irritierenden wie gleichzeitig bestimmenden Erfahrung, dass man Unendlichkeit hören könne, geben sie Rätsel auf und Richtungen an.
Der Physiker Eberhard Bodenschatz stellt fest: „Fluidphysik bestimmt die Welt“. Er zeigt die Zusammenhänge und Wirkungen auf, die sich durch Flüssigkeiten und Gase ergeben: „Wasser und Luft und insbesondere deren Strömung sind elementare Grundlagen dynamischer Kreisläufe des Lebens“.
Die Konzeptkünstlerin und Biologin Marianne Greve zeigt mit ihren Arbeiten auf, dass kulturelle, transkulturelle und spirituelle Bodenkontakte Grundlagen für das menschliche Sein sind.
Die Architektin und Planungswissenschaftlerin Susanne Kost vermittelt, wie sich Transformation und Beständigkeit als Raumsichten darstellen. Der Anthropologe Bernd Herrmann demonstriert am Beispiel des Uexküllschen Funktionskreislaufes die „Entdeckung der Umwelt“ als individuelles und Welterlebnis.
Der Landschaftsökologe Wolfgang Haber betrachtet „Werden aus ökologisch-evolutionärer Sicht“, indem er über das Zusammenspiel von Natur- und Kultursystemen reflektiert. Es sind die Verbindungen, Zusammenhänge und Vernetzungen, die sich in den zwei Umwelten des Menschen zeigen: der bio-ökologischen und der human-ökologischen Umwelt.
Der Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts spricht vom „Werden der Städte“, wenn er über Planung, Selbstorganisation und Experimente im (urbanen) Zeitalter der Globalisierung nachdenkt und mahnt: „Planung darf sich – im Unterschied zu heute – nicht auf einen vermeintlichen Endzustand richten, sondern muss sich auf den Vorgang, auf die Schritte der Transformation selbst konzentrieren“.
Die Ingenieurwissenschaftlerin Meike Tilebein verweist auf kybernetische Prozesse von selbstorganisierten Entwicklungsprozessen. Sie plädiert für innovatives Variieren, nicht Reduzieren von Komplexität (vgl. auch: Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php).
Der Psychologe Günter Schiepek setzt sich mit synergetischen Strukturen der Selbstorganisation auseinander und zeigt ihre theoretischen und praktischen, psychologischen und neurologischen Wirkungen auf.
Der Münchner Philosoph Rainer Zimmermann unternimmt mit dem Beitrag „Emergenz und Evolution aus dem Geist der Indifferenz“ systemtheoretische Vergleiche zwischen Ethik und Politik: „Leben (ist) Abbildung (der) Landschaft, zugleich geographische Orientierung, sittliches Regelwerk, metaphysische Kosmologie, Narration“.
Der Wirtschaftswissenschaftler Florian Kapmeier zeigt zur Thematik „World Climate“ Möglichkeiten auf, wie die Phänomene Klimawandel spielerisch verstanden und zukunftsfähig behandelt werden können. Es geht um Lernen als Verhaltensänderung beim simulationsorientierten Rollenspiel.
Der Philosoph Daniel Zöllner unternimmt mit dem Beitrag „Ursprung und Gegenwart“ am Beispiel des philosophischen Werks von Jean Gebser (1905 – 1973) einen kulturphilosophischen Exkurs zur Geschichte des Bewusstseins. Es sind die „integralen“ Denk- und Handlungsstrukturen, die „das Irrationale in das Menschsein ( ) integrieren, statt es zu verdrängen und abzuspalten“.
Der Forstwissenschaftler Winfried E. H. Blum verweist mit dem Beitrag „Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft im Fluss der Zeit“ auf kurzzeitig und zyklische, wie langfristige, lineare Rhythmen.
Die Berliner Historikerin Imke Rajamani zeigt solche Phänomene an Beispielen von emotionalen Monsunempfindungen und -erfahrungen auf.
Der Jenenser Philosoph Wolfgang Welsch zeigt am Beispiel des transkulturellen Bewusstseins auf, dass die anthropologischen, biologischen und kulturellen Vielfalten es sind, die den Menschen zu einem multiplen, transkulturellen Lebewesen machen.
Der Physiker und Philosoph Cornelius Schmidt geht davon aus, dass „Instabilitäten als Quelle und Kern des Werdens“ zu verstehen sind. „Natur ist zeitlich, ist Wachsen und Werden (.) Darin liegen zentrale Perspektiven für Kultur und Ethik, nämlich dass wir Teilnehmende und Beteiligte – und nicht nur Beobachter – im Prozess einer lebendigen Natur sind: einer Natur, die wir (auch) selbst sind“.
Der Künstler und Didaktiker Werner Kroener verweist mit dem in der Münchner Glyptothek gezeigten Kunstprojekt „Time Codes“ – mit dem Kunstwerke der griechischen und römischen Antike konfrontiert werden mit zeitgenössischer digitaler Malerei – auf kreative Verständnis- und Vermittlungsprozesse. Der Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer verdeutlicht mit mathematischen und technikphilosophischen (KI, Robotik), symmetrischen Forschungen die intelligenten und intellektuellen Vorstellungen der Mensch- und Weltbilder.
Der Physiker Herbert Pietschmann stellt fest: „Das Ganze ist etwas Anderes“. Er fordert zu einem neuen Denken in einer Welt des Wandels auf, dahingehend nämlich, dass „Realität und Wirklichkeit … als Horizont verstanden (wird), der nicht erreichbar ist“.
Der Philosoph Aljoscha Berve verweist mit prozessphilosophischen Mustern darauf hin, dass „Wirkliches geschieht“; und zwar mit dem ständigen Ab- und Ausgleich des Werdens: „Das Universum ist raum-zeitlich gequantelt, ihr ständiger kreativer Fortschritt besteht in der Wechselbewegung spekulativer Verallgemeinerung und ihrer Überprüfung an Partikularbeobachtungen“.
Fazit
„Jeder weiß es und spürt es: Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Transformation“. Die Geschwindigkeiten der lokalen und globalen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse nehmen zu. Die Analysen und Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt und der Menschheit zeigen vielfältige Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten. Die Krisensituationen nehmen zu. Die Herausforderungen, wie sie sich im anthropologischen, philosophischen, menschenwürdigen, lebensweltlichen Verantwortungsbewusstsein darstellen, werden im Projektband „Vom Werden“ eindringlich und anschaulich aufgezeigt. Es sind Aufforderungen und Ermunterungen, das scheinbar (Un)Mögliche zu denken und zu wagen – in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten und Gutwilligen!
Im Epilog verweist der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Hubert Weiger, auf den notwendigen, nützlichen Perspektivenwechsel und die Entwicklung eines Leitbildes, das „ohne quantitatives Wachstum auskommt, die Begrenztheit unseres Planeten anerkennt und auch künftigen Generationen eine Zukunft durch die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ermöglicht“.
Der Tagungsband „Vom Werden. Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft“ sollte in den Bibliotheken und Büchereien einen guten Platz finden!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.08.2020 zu:
Beatrice Voigt (Hrsg.): Vom Werden. Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft : Perspektiven einer zukunftsoffenen Wertekultur im Dialog von Wissenschaft, Kunst und Bildung. Beatrice Voigt Kunst und Kulturprojekte & Edition
(Mühldorf am Inn) 2019.
ISBN 978-3-9816143-6-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27299.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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