Norbert Bischof: Moral
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann, 11.01.2021

Norbert Bischof: Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2020.
724 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2957-7.
D: 49,90 EUR,
A: 51,30 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Thema
Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Moral in der Anthropologie als gesellschaftlicher Gegenpol der menschlichen Natur gilt, unternimmt es der Autor zu zeigen, dass sie „tief in der Natur wurzelt und deren Ambivalenz nicht aufhebt, sondern teilt“. Dabei liegt ihm eine Idealisierung der Moral fern, beschäftigt er sich doch „empirisch mit der Psychodynamik der Mechanismen, die ihr zugrunde liegen“. Im Grunde geht es „um die Frage nach der Entstehung und dem Stellenwert des normativen Überbaus menschlicher Verhaltensorganisation“ (vgl. Klappentext)
Autor
Norbert Bischof, 1930 in Breslau geboren, studierte zunächst an der Phil.-Theol. Hochschule in Bamberg Mathematik, Physik und Philosophie, anschließend Psychologie und Zoologie in München, wo er 1966 mit dem Thema 'Grundlagen und Probleme einer Psychophysik der Raumwahrnehmung' an der LMU München promovierte, 1970 habilitierte und 1975–1997 als Professor für allgemeine Psychologie experimentell-mathematischer Richtung an der Universität Zürich unterrichtete. Seit 1997 ist Bischof Honorarprofessor der LMU München. Zuvor war er Mitarbeiter der Verhaltensforscher Erich von Holst und Konrad Lorenz am Max-Planck-Institut für Verhaltenspsychologie.
Entstehungshintergrund
Das Werk von Norbert Bischof erschien erstmals 2012 als dritter Teil einer Trilogie zur psychologischen Grundlagenforschung und liegt nunmehr als überarbeitete Neuausgabe vor. Während der Autor in den beiden ersten Teilen der Trilogie zum einen das vergleichend-ethologische Fundament einer Systemtheorie der Motivdynamik (Das Rätsel Ödipus) gelegt hat, analysierte er im zweiten Teil die Persönlichkeitsentwicklung anhand ihres Widerscheins in den Bildern kultureller Weltdeutung, um sodann im dritten und letzten Teil der Frage nach der Entstehung und dem Stellenwert des normativen Überbaus menschlicher Verhaltensorganisation nachzugehen – um damit das Gesamtwerk zum Abschluss zu bringen.
Aufbau
Das sehr umfangreiche Werk gliedert sich in drei Teile mit insgesamt 22 Kapitel, die wiederum differenziert unterteilt erscheinen, auf. Den Abschluss bilden ein Literaturverzeichnis, Abbildungsnachweise, Namens- und Sachregister.
Inhalt
Ausgehend von der grundsätzlichen Fragestellung, wie Moral funktioniert, sollen im ersten Kapitel 'Werte und Tatsachen' Schlüsse und Trugschlüsse aufgezeigt werden, deren Unverbindlichkeit letztlich hinterfragt wird. Dabei geht es dem Autor darum, von einem allgemeinen Hinterfragen der moralischen Verfassung der eigenen Identität des Menschen ausgehend, zu einer konkreten beispielhaften Folgerung zu gelangen.
Er arbeitet zunächst zwei propädeutische Thesen heraus:
Zum einen müsse bei der Frage nach den Gründen moralrelevanten Verhaltens zwischen einer moralistischen und einer empirischen Antwort unterschieden werden, was beispielsweise bei der (häufig gestellten) Frage nach dem 'Warum'
- aus moralischer Sicht „mit welchen Recht?“
- aus empiristischer Sicht „aus welchem Grund“ (S. 24) bedeuten würde.
Zum anderen kommt es Bischof darauf an, seinem Werk eine empiristische Intention zu unterlegen, was für ihn bedeutet, dass es keine Brücke zwischen Wahrheit und Geltung gibt, also zwischen einem „naturalistischen“ und einem „moralistischen Trugschluss“ (ebd.) unterschieden werden muss.
Somit kommt der Autor aufgrund seiner in diesem Kapitel vorgenommenen Überlegungen zu dem Fazit, dass moralische Forderungen sich nicht empirisch legitimieren lassen.
Das zweite Kapitel mit der Fragestellung „Was ist Wahrheit?“ hat eine erkenntnistheoretische Standortbestimmung – gemeint ist die Untersuchung einer bewusstseinsjenseitigen Wirklichkeit und deren kognitiver Repräsentation als Erlebnisinhalt (S. 58) – zum Gegenstand. Dabei bezeichnet Bischof seine erkenntnistheoretische Position 'kritischen Realismus', versteht diesen als Mittelposition zwischen dem 'naiven Realismus' und dem Kantischen Kritizismus. Da sich sein 'kritischer Realismus' auf die evolutionäre Erkenntnistheorie stützt, setzt er sich folglich sowohl mit den kosmischen Ebenen Evidenz, Veridikalität und Objektivität, aber auch bezogen auf eine bewusstseinsjenseitige Welt mit den verschiedenen Modi der Evidenz: Orthokosmos, Parakosmos, Kryptokosmos, aber auch mit dem Sonderfall des Metakosmos auseinander.
Das nachfolgende dritte Kapitel begibt sich auf die „Suche nach Letztbegründung“. Hier werden 'naturalistische' Begründungen ebenso hinterfragt wie 'intuitionistische' und 'eudämonistische', 'deontologische' und 'diskurstheoretische' Begründungsversuche. Bischof diskutiert damit die namhaftesten Überlegungen und Denkmuster im Sinne eines philosophischen Zugangs, um zu einer Bestandsaufnahme auf der Suche nach einer moralischen Letztbegründung zu kommen.
Der erste Teil des Werkes – mit „Philosophie der Moral“ überschrieben – wird mit den Kapiteln 4 und 5 zum Abschluss gebracht. Hier geht es zum einen um die Erkenntnis, dass man von der philosophischen Ethik kritische Einwände und lohnende Fragestellungen erwarten könne, ohne jedoch belastbare Antworten zu erhalten. Der Autor hinterfragt die eigentliche Suche nach der 'Wahrheit' der Philosophen – oder würde es diesen nur um moralistische Orientierungshilfen gehen? Und weil er glaubt, dass das Philosophieren das Bedienen der moralistischen Bedürfnisse der Menschheit bedeuten würde (vgl. S. 116), verlässt er in den nachfolgenden Kapiteln den philosophischen Zugang zu seinem Thema und wendet sich stattdesssen einer Analyse der psychologischen Dynamik bzgl. der Moral zu – nicht ohne sich zuvor mit der Frage nach der 'Freiheit' in Zusammenhang mit Spontaneität und der Polarität von Mechanik und Intentionalität zu beschäftigen.
Der zweite Teil des Buches ist der „Genealogie der Moral“ gewidmet. Hier beschäftigen sich die Kapitel 6 -11 unter anderem mit 'Mutmaßungen über den Menschen' und dem Wesen des Menschen, sodann mit einer 'evolutionären Anthropologie' oder mit den unterschiedlichen Verständnissen von Identität und deren Kategorisierung, bis hin zu definitorischen Klärungsversuchen moralanalogen Verhaltens.
Im dritten Teil des Buches geht es um „Synergie der Moral“, welche anhand von Erläuterungen zur 'Sozialen Selbstorganisation', Fragen nach der 'Moralischen Entwicklung', nach der 'Regulation der sozialen Distanz', 'Gut und Böse' oder aber 'Tugend und Schönheit' einer Klärung zugeführt werden sollen. Im letzten Teil – überschrieben mit „Paradoxie der Moral“ – wendet sich Bischof der Phänomenologie des Schuldgefühls zu, wirft in einem Kapitel Fragen zu 'Schuld und Scham', oder aber zu einer 'Psychodynamik der Schuld' etwa in Zusammenhang mit Status- und Besitzfragen, oder aber beispielsweise zu Strategien einer Schuldreduktion, schließlich gar zu einer 'Phänomenologie des Schamgefühls', auf. In den weiteren Kapiteln werden so unterschiedliche Themen wie etwa die 'Relativitätstheorie der Moral', 'Der Meister aus Deutschland', 'Das Volk ohne Grenzen' und 'Die eigene Gebärde' zum Gegenstand der Untersuchung gemacht.
Diskussion
Norbert Bischof ist in seinem voluminösen Werk von der Frage ausgegangen, „ob eine Letztbegründung der Moral möglich ist“? Seine Antwort darauf fällt negativ aus, da für ihn kein für alle Menschen erkennbares objektives Sittengesetz existiert. Und so gelangt er schließlich zu einer in seinem Buch vorgelegten Analyse einer 'Relativitätstheorie der Moral', was für ihn bedeutet, dass unsere moralischen Werturteile zwar relativ, aber nicht beliebig seien, sich somit die Schlussfolgerung ergebe, dass es „auch keine bequeme Lösung für die immanenten Spannungen des menschlichen Zusammenlebens“ geben könne.
Das Buch bietet eine nicht selten sich aufdrängende und gerade deshalb verwirrende, teils philosophisch, teils psychologisch oder naturwissenschaftlich intendierte Vielfalt an Überlegungs-, Begründungs- und Analysierungs-Ansätzen, die nicht gerade zu einer leichteren Lesbarkeit, verbunden mit unmittelbarer Verständlichkeit der Ausführungen, beitragen.
Die unendliche Fülle an unterschiedlichsten Argumentationsebenen und -linien macht es überaus schwer, eine inhaltliche Evaluierung bzw. Überprüfung der Darlegungen im Sinne eines Faktenchecks vornehmen zu wollen. Die mehr oder weniger aussagekräftigen Einlassungen und Behauptungen führen letztlich auch dazu, dass eine grundsätzliche und auch verständliche Auseinandersetzung – schließlich auch und gerade des interessierten und durchaus fachkundigen Lesers – mit dem eigentlichen Thema des Werkes, nämlich mit der 'Moral' im Kontext einer evolutionären Anthropologie, anhand dieser inhaltlich überbordenden Abhandlung, kaum zu leisten ist.
Und dennoch soll und kann diesem Buch nicht auch eine gewisse Bedeutsamkeit hinsichtlich der Vermittlung eines näheren Verständnisses von „Moral, deren Natur, ihrer Dynamik und ihrer Schatten“ gerade dann abgesprochen werden, wenn man es versteht, so manche argumentative Verklausulierung auf deren Kernaussage zu reduzieren, bzw. wenn es einem gelingt, begriffliche Verbindungen und faktische Verknüpfungen, fachwissenschaftlich und auch methodisch unterschiedliche Vorgehensweisen entschlüsselt vereinfacht verstehen zu können.
Fazit
Aufgrund der größtenteils gesamtinhaltlich, faktisch wie auch methodisch verwirrenden Darlegung ist das vorliegende Werk nach Ansicht des Rezensenten nur all jenen zu vermitteln, die sich durch bereits andernorts angeeignete fundierte Fachkenntnisse ergänzend mit den Ausführungen Bischofs zu beschäftigen willens sind. Sicher stößt man dann auf Teilbereiche der thematischen Analyse dieses Buches, welche zumindest gewisse Erkenntnisse und plausible Überlegungen zu vermitteln in der Lage sind.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. habil. Peter Eisenmann
Professor (em.) für Andragogik, Politikwissenschaft und Philosophie/Ethik an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
Mailformular
Es gibt 85 Rezensionen von Peter Eisenmann.