Susanne Hartmann: Bindungsqualität und Erziehungsverhalten
Rezensiert von Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, 22.10.2020

Susanne Hartmann: Bindungsqualität und Erziehungsverhalten. Zusammenhänge vor dem Hintergrund der mittleren Kindheit und ihrer Rubikon-Phänomene. Logos Verlag (Berlin) 2020. 246 Seiten. ISBN 978-3-8325-4955-8. D: 43,50 EUR, A: 44,70 EUR.
Thema
Die Autorin stellt die Bindung von Eltern und ihren Kindern in den Fokus ihres Buches sowie das Werden der Kinder in Abhängigkeit von deren Bindungserfahrungen in der „mittleren Kindheit“. Dabei arbeitet sie den Modus und die Qualität der Bindung heraus und weist auf die hohe Relevanz Letzterer für das Gelingen des letzten Stadiums der Kindheit vor der Pubertät deutlich heraus.
Herausgeberin
Fr. Dr. phil. Susanne Hartmann ist pensionierte Lehrerin. Sie studierte Deutsch, Englisch und Französisch und lehrte in diesen Fächern seit 1973. Neben wissenschaftlichen Bemühungen neben ihrem Beruf widmete sie sich ihren fünf Kindern und widmet sich nun ihrem „sechsten Kind“, der Liebe zur wissenschaftlichen Fundierung von Erlebtem. Zudem gibt sie seit ihrer Pensionierung im Jahre 2015 Sprachkurse für Flüchtlinge.
Entstehungshintergrund
Die Autorin legt mit ihrem Buch zugleich ihre Dissertationsschrift vor. Sie selbst hat an einer „Regelschule“ gearbeitet, hatte aber immer Kontakte zur Reformpädagogik (nach Rudolf Steiner). Sie hat nun in ihrer Dissertation ihre Kenntnisse und Erfahrungen aus ihrem beruflichen und privaten Leben empirisch fundiert.
Inhalt
Die Dissertationsschrift umfasst über 200 Seiten und weist die Struktur einer klassischen, wissenschaftlichen Dissertation bzw. eines wissenschaftlichen Aufsatzes mit den entsprechenden Teilen auf.
Die Autorin beginnt ihr Buch nach der Darstellung des Inhaltes (Inhaltsverzeichnis) mit dem Aufzeigen von Teilstudien, sodass klar wird, dass ihre Dissertation zu einem größeren Forschungsprojekt gehört und einen Teil dieses Projektes darstellt. Sie stellt daher zunächst die einzelnen Teilforschungsgebiete vor und stellt diese in Bezug zu ihrem eigenen Werk; es handelt sich somit um eine als multizentrisch zu bezeichnende Studie.
Anschließend führt sie in Kapitel 1, der „Einleitung“, in die Thematik ihrer Dissertation ein und nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Entwicklung der Kindheit. Hier stellt sie Umbruchsituationen in der Kindheit als Herausforderungen bzw. Entwicklungsaufgabe heraus, dringt dabei in die Bedeutung des Elternhauses ein und betont hier nicht die Rahmenbedingungen, sondern vielmehr die Bindung von Eltern und Kind. Bereits hier werden namhafte Autoren aus den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten wie Bowlby und andere zitiert. Hier geht sie auch bereits auf das Rubikon-Phänomen ein, dass auf Rudolf Steiner zurückzuführen ist und den nicht selten schwierigen und ebenso nicht seltenen konfliktfreien Übergang vom ca. 7. bis zum ca. 10. Lebensjahr; hier fände (unter anderem) ein (weiterer) „kognitiver Schub“ statt. Dabei macht sie auch den Fokus ihrer Dissertation deutlich: Wie nehmen Eltern die Veränderungen ihrer Kinder in der „mittleren Kindheit“ wahr und wie gehen sie damit um. Sie formuliert sodann ihre Hypothesen.
Das Folgekapitel, Kapitel 2 über „Theoretische Überlegungen“, beginnt die Autorin mit einem Unterkapitel mit Ausführungen über „Bindung, Bindungserfahrungen, Bindungsverhalten“. Wie zu erwarten, beginnt sie die Betrachtung mit Ausführungen über die Bindungstheorie nach John Bowlby und führt dann die Ausarbeitungen/Theorien anderer namhafter Autoren hinzu (z.B. Mary Ainsworth, Martin Dornes, etc.). Hier stellt sie ausführlich richtungsweisende Aspekte dar, die die Bindung zwischen Kind und Mutter sowie Eltern determinieren. In diesem Rahmen geht sie auch auf „Messmethoden“ bzw. Möglichkeiten der Monitorierung ein sowie auf das beforschte Thema in Zusammenhang zwischen Bindung und Verhalten. Hier belegt sie zunächst den Zusammenhang und stellt damit ihre Fragestellung auf ein solides Fundament. Im Anschluss daran führt sie Aspekte der „mittleren Kindheit“ aus und berichtet über das Rubikon-Phänomen nach Rudolf Steiner und lehnt sich damit an die Lehren der Anthroposophie an. Es wird damit auch der Hintergrund des Rubikon-Phänomens ausgeführt und als „Eigenmächtigkeit“ bzw. Selbstbestimmungsstreben im Rahmen der Individualisierungsprozesse. Auch der Kontakt zu diversen Bezugspersonen wird thematisiert. Selbst eine kritische Betrachtung fehlt dabei nicht.
In Kapitel 3 stellt die Autorin ihre „Methoden“ dar. Hier wird deutlich, dass Fr. Dr. phil Susanne Hartmann ihre Erkenntnisse auf Fallstudien aufbaut. Die Daten gewinnt sie, so die Autorin, durch die Auswertung narrativer leitfadengestützter Interviews. Darüber hinaus werden standardisierte Testinstrumente eingesetzt (z.B. Separation Anxiety Test, SAT, Fragen zum elterlichen Erziehungsverhalten, FEE); auch die „Grounded Theory“ findet in einem eigenen Unterkapitel Erwähnung.
Nach einer nachvollziehbaren Darstellung der Methodik beginnt die Autorin, das Procedere ihrer Untersuchung im vierten Kapitel „Die Untersuchung“ darzustellen.
Nach diesem kurzen Kapitel folgen die Hauptteile des Buches: die Autorin stellt die untersuchten acht Fälle dar; jedem Fall widmet sie ein eigenes Kapitel (Kapitel 5 – 12, Fallstudien). Die Darstellungen der acht Fälle wiederum ist untergliedert in einzelne Unterkapitel. Fr. Dr. Susanne Hartmann beginnt zunächst mit der Schilderung der Biographien der Testpersonen, weicht aber ab der dritten Fallstudie von diesem Schema ab und beginnt mit der Darstellung von ausgewählten Abschnitten/Ausschnitten der Biographie der Probanden. Dabei macht die Autorin bereits im Vorfeld klar, dass es ihr unmöglich ist, das komplette Datenmaterial darzustellen, sodass sie auf ausgewählte Passagen zurückgreifen muss. Frau Dr. Hartmann geht dabei auf die jeweiligen Besonderheiten der Fälle genau ein und überschreibt die Unterkapitel der Fälle mit entsprechende bildhaften Überschriften. Die Ergebnisse der standardisierten Instrumente werden für jede Testperson bzw. für jeden Fall eigens dargestellt und illustriert.
Ab Seite 195 beginnt die Autorin mit der „Diskussion“, dem 13. Kapitel der Dissertation. Hier diskutiert sie zunächst die angewendete Methodik selbst und diskutiert direkt im Anschluss die Auswahl der Fälle mit einem kritischen Auge. Im Anschluss daran widmet sie sich der inhaltlichen Diskussion der Ergebnisse. Hier führt sie bestimmte, für die Fragestellung relevante Ergebnisse zusammen und kondensiert die Ergebnisse, um sie für die Fragestellung fruchtbar zu machen. Sie betrachtet die Ergebnisse erwartungsgemäß unter der Überschrift des Rubikon-Phänomens. Dabei unterteilt sie die Diskussion in zwei Teile: „Der frühe Eintritt in den Rubikon“ und „Der späte Eintritt in den Rubikon“.
Kapitel 14 enthält schließlich eine „Zusammenfassung“ der Ergebnisse sowie insgesamt der Erkenntnisse, die die Autorin aus ihren Daten zieht. Zunächst gesteht sie aber Limitationen ihrer Daten bzw. ihrer Dissertation ein. Im Wesentlichen stellt sie 4 Ergebnisse heraus:
- eine vertrauensvolle Bindung des Kindes an die Eltern führt zu eine resilienten Bewältigung von Krisen bzw. Herausforderungen,
- auch unter ungünstigen eigenen Kindheitsfaktoren der Mutter ist es dennoch für Letztere möglich, ihrem eigenen Kind emotionale Wärme und Vertrauen entgegenzubringen,
- auch bei/trotz einer prekären familiären Situation ist ein Kind bei einer eigenen positiven Grundstruktur seines Wesens in der Lage, den Rubikon erfolgreich zu überwinden,
- schwerwiegende Erkrankungen eines Kindes verzögern den Eintritt in das Rubikon.
Schließlich sensibilisiert die Autorin die Leser – v.a. die Eltern unter ihnen – dass die Auswahl einer geeigneten Betreuungs- und Bildungseinrichtung für ein Kind von höchster Bedeutung ist, um den Rubikon best möglich zu überwinden.
In Kapitel 15 befindet sich das Literaturverzeichnis; in Kapitel 16, dem Anhang, stellt die Autorin die verwendeten, standardisierten (Untersuchungs-) Instrumente dar.
Zielgruppe
Eine Zielgruppe wird von der Autorin nicht explizit benannt. Dennoch ist davon auszugehen, dass die Zielgruppe sich in Kreisen suchen lassen dürfte, die sich mit pädagogischen Fragestellungen beschäftigen und auch anthroposophischen Themen nicht abgeneigt sind.
Fazit
Das Buch bzw. die Dissertation von Fr. Dr. phil. Susanne Hartmann beschäftigt sich mit einem Thema, dass in der klassischen Freudschen Theorie der (psychosexuellen) Entwicklung wenig Beachtung gefunden hat; in der Psychoanalyse wird die „mittlere Kindheit“ als recht lange latenzartige Phase beschrieben. Auch die moderne Bindungsforschung beschäftigt sich primär mit anderen Entwicklungsphasen von Kindern (v.a. frühe Kindheit, Säuglingsalter). Somit beschäftigt sich die Dissertation mit einem Thema, das in den o.g. Disziplinen sowie auch in anderen Disziplinen bislang wenig Impact gefunden hat. Hier zeigt Fr. Dr. Hartmann ein Gespür für das Auffinden einer Forschungslücke. Sie schafft mit ihrer Dissertation nicht zuletzt eine Brücke zwischen Anthroposophie, dem dort benannten Rubikon-Phänomen, und der Bindungstheorie und verknüpft damit kenntnisreich und wissenschafts-methodisch korrekt zwei „Welten“. Mit dieser für das Thema sehr geeigneten Methodik erforscht sie schließlich das bislang wenig beforschte Feld der „mittleren Kindheit“ und kommt zu gewissen Schlüssen, die sie klar benennt. Darüber hinaus zeigt die Autorin ein Gespür für die Limitationen ihres Vorgehens.
Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A.
Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung.
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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