Doris Dawidt: Autonomie am Lebensende
Rezensiert von Alexandra Günther, 08.10.2021
Doris Dawidt: Autonomie am Lebensende. Klärung der Begrifflichkeit als notwendige Voraussetzung praktischen Handelns. Logos Verlag (Berlin) 2020. 205 Seiten. ISBN 978-3-8325-5067-7. D: 55,00 EUR, A: 56,50 EUR.
Thema
Autonomie und Sterben sind zentrale Begriffe in der Debatte um Selbstbestimmung am Lebensende. Doch die genauere Analyse zeigt, dass diese Begriffe trotz ihrer häufigen Verwendung unterbestimmt sind und ihre Bedeutung vorausgesetzt wird. Das erschwert auch eine konfliktfreie Realisierung von Selbstbestimmung am Lebensende in den Institutionen des Gesundheitswesens.
Autorin
Dr. Doris Dawidt ist promovierte Philosophin und Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege in München. Sie ist Mitglied in der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis.
Aufbau
Das Fachbuch ist die Promotionsarbeit von Doris Dawidt. Inhaltlich ist es folgendermaßen aufgebaut:
- Einführung
- Argument
- Konsequenzen aus dem Ergebnis: Begriffsentwicklung
- Schluss: Was kann ich tun?
Inhalt
Im ersten Teil stellt die Autorin Doris Dawidt ihr Forschungsvorhaben vor. Realisierungsdefizite von Autonomie am Lebensende können nicht ausreichend durch Wissensdefizite oder fehlende Motivation der Akteure im Gesundheitswesen oder Angehöriger erklärt werden. Dawidt entwirft eine akteursunabhängige Erklärung, die den Grund dafür in der Verfassung der ethischen Norm selber und der Unterbestimmung der verwendeten Begriffe erkennt. Damit werden die Voraussetzungen und die Situation selbst in den Blick genommen.
Für ihre Ausgangsthese analysiert Dawidt im zweiten Teil die zentralen Begriffe Autonomie und Sterben und ihren intensionalen und extensionalen Gehalt. Sie erläutert, anhand welcher Merkmale und Eigenschaften sich die Unterbestimmung der Begriffe zeigt. Außerdem untersucht sie, wie sich diese auf die Realisierung von Selbstbestimmung am Lebensende in medizinischen Entscheidungssituationen auswirkt, in denen Willensäußerungen unklar sind oder fehlen.
Des Weiteren geht Dawidt darauf ein, welche Rolle und Funktion die Begriffe in den involvierten Subsystemen, vor allem der Medizin, aber auch Recht, Medien und Gesellschaft haben. Sie zeigt, inwiefern ihre Bedeutung innerhalb der Systeme vorausgesetzt wird.
In ihrer philosophischen Begriffsanalyse erarbeitet die Autorin, dass der Autonomiebegriff ebenso wie der Sterbebegriff insgesamt bedeutungsoffen bleiben. Sie erläutert umfangreich, warum die fehlenden Begriffsbestimmungen und Voraussetzungen zu Defiziten bei der Realisierung von Selbstbestimmung am Lebensende führen. Beim Sterbebegriff beispielsweise führt das Fehlen von sicheren Kriterien zur Erkennung des Sterbebeginns zu Konflikten und negativen Folgen für den Anspruch auf eine palliative Versorgung am Lebensende.
Im dritten Teil entwickelt die Autorin ein neues prozedurales Autonomiemodell. Es soll in medizinischen Entscheidungssituationen am Lebensende für alle Akteure eine gemeinsame Orientierung geben. Das prozedurale Autonomiemodell zeigt unterschiedliche, aufeinander aufbauende Prozessschritte in der Interaktion. Ausgehend von der ethischen Ebene, zur Klärung der Voraussetzungen und des gemeinsamen Therapiezieles wird zur hypothetischen Ebene übergangen. Diese umfasst dann die medizinischen Interventionen, Klärung rechtlicher Vorgaben sowie die anschließende Überprüfung der Zielsetzungen.
Der vierte und letzte Teil setzt sich mit Vorsorgemöglichkeiten für Notfallsituationen, in denen die eigene Selbstbestimmung von anderen abhängt, auseinander. Hier weist die Autorin auf geeignete Maßnahmen hin. Im Besonderen bezieht sie sich auf den Ansatz der vorsorglichen Gesundheitsplanung (BVP).
Diskussion
Den Wunsch, Zuhause in hohem Alter im Kreis der Angehörigen oder Freunden zu sterben, haben viele Menschen. Dies entspricht allerdings nicht der statistischen Realität. Die letzte Lebensphase findet häufig als Patient in den Institutionen des Gesundheitswesens statt und wird als fremdbestimmt erlebt. Durch den medizinischen und technischen Fortschritt werden erstmalig Entscheidungen hinsichtlich des Sterbens bzw. des Sterbezeitpunktes erforderlich. Obwohl rechtliche Instrumente, wie z.B. die Patientenverfügung, die Selbstbestimmungs- und Patientenwünsche vorsorglich klären sollen, treten oftmals Konflikte auf.
Der Pluralismus von Weltanschauungen über das, was gutes Sterben ausmacht, gehört zu unserer liberalen, demokratischen Gesellschaft. Die Autorin zeigt, in welcher Weise es von Bedeutung ist, die zentralen Begriffe Autonomie und Sterben genau zu reflektieren und Bestimmungen und Rahmenbedingungen transparent zu machen. Es braucht gelingende ethische Interaktionen, damit notwendige Entscheidungen in der letzten Lebensphase nicht zu Schuldzuweisungen, medizinischem Paternalismus oder rechtlichen Verantwortungskonflikten zwischen Angehörigen und Mitarbeitenden des Gesundheitswesens führen.
Das neue prozedurale Autonomiemodell von Doris Dawidt bietet eine Grundlage, um die ethische Ebene in die medizinischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Es bedarf am Lebensende, wenn Willensäußerungen des Patienten fehlen, in den asymmetrischen Beziehungen zwischen Arzt bzw. Pfleger und Angehörigen, einer gemeinsamen ethischen Zielsetzung, um das Recht auf Selbstbestimmung zu realisieren.
Mit der Reflexion des Autonomiebegriffs und ihrem Autonomiemodell leistet Dawidt einen wichtigen Beitrag sowohl für die aktuelle Debatte zur Selbstbestimmung am Lebensende als auch für eine ethisch reflektierte Umsetzung in den Institutionen des Gesundheitswesens. Die Auseinandersetzung mit dem Selbstbestimmungsrecht wird zunehmend wichtiger.
Fazit
Das Fachbuch von Doris Dawidt ist ein Beitrag zur aktuellen Debatte um Autonomie am Lebensende. Die Autorin stellt eine akteursunabhängige Erklärung für Realisierungsdefizite von Selbstbestimmung am Lebensende vor. Die Unterbestimmung der verwendeten Begriffe Autonomie und Sterben führt in medizinischen Entscheidungssituationen zu Konflikten zwischen medizinischem Personal und Angehörigen. Dawidt entwickelt zur Lösung ein prozedurales Autonomiemodell, das die ethische Ebene und gemeinsame Zielsetzung einbindet.
Die Forschungsarbeit von Doris Dawidt bietet für Führungs- und Leitungskräfte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ein neues Modell von Autonomie und eine ethische Grundlage für die fortlaufende Auseinandersetzung mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung am Lebensende. Impulse für die Konzept- und Qualitätsentwicklung und die Reflexion von Entscheidungssituationen werden darin vermittelt.
Rezension von
Alexandra Günther
Sozialpädagogin und Ethikerin
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Zitiervorschlag
Alexandra Günther. Rezension vom 08.10.2021 zu:
Doris Dawidt: Autonomie am Lebensende. Klärung der Begrifflichkeit als notwendige Voraussetzung praktischen Handelns. Logos Verlag
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-8325-5067-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27311.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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