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Michael Sztenc: Embodimentorientierte Sexualtherapie

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Weller, 31.05.2021

Cover Michael Sztenc: Embodimentorientierte Sexualtherapie ISBN 978-3-608-40053-3

Michael Sztenc: Embodimentorientierte Sexualtherapie. Schattauer (Stuttgart) 2020. 208 Seiten. ISBN 978-3-608-40053-3. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

„Dieses Buch überträgt die Theorie des Embodiment auf die Sexualtherapie und entwickelt anhand des Sexocorporel-Ansatzes eine embodimentorientierte Sexualtherapie. Es verbindet damit eine umfassende Theorie des Verhältnisses zwischen Körper und Geist mit einem psychotherapeutischen Spezialgebiet.“ (3). Der Autor verfolgt drei Ziele: Er stellt die für den sexuellen Kontext relevanten Bereiche des Embodiment-Paradigmas zusammen, unterlegt sie dem (bislang noch wenig publizierten und wissenschaftlich elaborierten) Behandlungssystem des Sexocorporel als Meta-Theorie und setzt dieses neu entstandene Konzept in Bezug zu den etablierten Schulen der Systemischen Sexualtherapie und des Hamburger Modells zur Therapie sexuell gestörter Beziehungen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in 9 Kapitel. Die ersten fünf bilden den Teil I des Buches und widmen sich theoretischen Grundlagen. Teil II (die Kapitel sechs und sieben) behandeln die Praxis embodimentorientierter Sexualtherapie. Teil III (Kapitel acht und neun) beinhaltet ein kritisches Resümee.

Der Begriff des Embodiment bezeichnet ein Paradigma und umfasst „Theorien aus der Philosophie, der Kognitionspsychologie, der Emotionstheorie, der Soziologie, der Biologie, der Theorie dynamischer Systeme, der Informatik, der Künstlichen Intelligenz (KI) und anderer wissenschaftlicher Disziplinen.“ (8).

Kapitel 2 des Buches schildert den aus der Kognitionsforschung stammenden 4-E-Ansatz: Extended-Mind (der über die Körpergrenzen erweiterte Geist), Embedded-Mind (der in die Umwelt eingebettet Geist), Embodied-Mind (der eingekörperte Geist), Enactive-Mind (der aktiv hervorbringende/​inszenierende = enagierende Geist bzw. Organismus). Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des Enaktivismus: „Der menschliche Geist ist eingekörpert in seinen Organismus und dieser ist eingebettet in die Welt. Bedeutung und Erfahrung werden durch die kontinuierliche wechselseitige Interaktion zwischen Gehirn, Körper und Welt geschaffen … ‚in Szene gesetzt/​enagiert‘.“ (21).

Mit Blick auf eine embodimentorientierte Sexualtherapie werden drei Ebenen unterschieden:

  • die Ebene der intraorganismischen Selbstregulation,
  • die Ebene der sensomotorischen Koppelung mit der Umwelt (die Anwendung gelernter Handlungs-Wahrnehmungs-Muster, sog. sensomotorischer Kontingenzen),
  • sowie die Ebene der intersubjektiven Interaktion.

Im dritten Kapitel werden zunächst Aspekte der kognitions- und emotionswissenschaftlichen Embodiment-Grundlagenforschung vorgestellt, gefolgt von Ausführungen zu psychotherapeutischen Anwendungen (Züricher Ressourcen-Modell, prozess- und embodimentorientierte Psychotherapie, emotionale Aktivierungstherapie).

Das vierte Kapitel stellt sich der Frage „Ist Embodiment die neue Psychosomatik?“ Dargestellt wird ein Modell sexueller Gesundheit, welches die bio-psycho-sozialen Wechselwirkungen im Blick hat.

Im fünften Kapitel wird zunächst das von Jean-Yves Desjardins (1931-2011) seit den 1970er Jahren entwickelte 4-Komponenten-Modell des Sexocorporel vorgestellt (physiologische, kognitive, sexodynamische und Beziehungskomponenten). Die Einzelaspekte des Sexocorporel werden danach auf den drei Regulationsebenen betrachtet:

  • auf der Ebene der Selbstregulation werden die vier Erregungsmodi (Druck, Reibung, ondulierend, wellenförmig) detailliert beschrieben und mit Praxisbeispielen konkretisiert;
  • auf der Ebene der Mensch-Umwelt-Interaktion das Konstrukt der Geschlechtszugehörigkeit/der sexuellen Selbstsicherheit sowie der sexuellen Anziehungscodes;
  • auf der Ebene der sexuellen Interaktion die Aspekte der Aufmerksamkeitssteuerung und der Verführungskompetenzen.

Die Darstellung der Praxis embodimentorientierter Sexualtherapie behandelt im 6. Kapitel zunächst allgemeine Aspekte des therapeutischen Vorgehens, Fragen des Settings und der Gestaltung körperbezogener Übungen (in der Sprache des Embodiment: Enactments). Anknüpfend an Überlegungen aus der Systemischen Sexualtherapie (Clement) wird die Dialektik von „Können oder Wollen?“ diskutiert. Beschrieben werden Interventionen etwa zur Verbesserung der emotionalen Selbstregulation, der sexuellen Selbstsicherheit, der Aufmerksamkeitssteuerung.

Das siebente Kapitel widmet sich dem therapeutischen Vorgehen entlang der verschiedenen sog. sexuellen Funktionsstörungen. Der Autor unterscheidet „Lust auf Sex“ (Störungen des Begehrens) und „Lust beim Sex“ (die Erregungs– und Emotionsregulation bzw. Selbststeuerung vor, während und am Ende der sexuellen Interaktion) sowie Störungen der sexuellen Kompatibilität. Die Darstellungen knüpfen an die Klassifikationen des ICD-10 und des DSM-5 an, gehen aber phänomenologisch über sie hinaus. Anhand von vielen anschaulichen Praxisbeispielen werden diagnostische Evaluationen und Interventionen vorgestellt. Im Zentrum steht immer die Frage nach dem „Wie?“ der sensomotorischen Gestaltung von Symptomatiken (Körperspannung, Rhythmus, Atmung, Aufmerksamkeit), nicht die psychodynamischen oder systemischen Fragen nach „Warum?“ und „Wozu?“ (also die Fragen nach Ursachen, Bedeutungen, Sinn und Zweck von Symptomen). Im Rahmen der Erörterung partnerschaftlicher Kompatibilitätsprobleme entwickelt der Autor – anknüpfend an die von Clement (2015) vorgestellte Idee des individuellen „sexuellen Profils“ das Konzept des „sexuellen Selbst“, in das, neben den sexuellen Erfahrungen und Fähigkeiten, den erotischen Wünschen und Phantasien und der aktuell gelebten sexuellen Praxis die „sexuellen sensomotorischen Erlebens- und Verhaltensgewohnheiten“ (173) zugefügt werden.

Im kurzen dritten Teil des Buches werden einige Bezüge der embodimentorientierten Sexualtherapie zur systemischen Sexualtherapie und zum Hamburger Modell formuliert, wobei es dem Autor mit der Darlegung jeweiliger Stärken und Grenzen um Anschlüsse und Vernetzung geht. Das abschließende Kapitel 9 stellt Kritiken am (ursprünglichen) Konzept des Sexocorporel dar und diskutiert sie, etwa den Vorwurf der heteronormativen und geschlechterbinären Sichtweise.

Im Anhang befindet sich neben einigen Informationen zu Aus- und Weiterbildungsangeboten für Sexocorporel, einschlägigen Veröffentlichungen und dem allgemeinen Literaturverzeichnis ein hilfreiches Glossar zu den Sexocorporel- und Embodiment-spezifischen Begrifflichkeiten und Neologismen.

Diskussion

Das vorliegende Buch liefert sowohl eine wissenschaftliche Fundierung wie eine Modernisierung des Sexocorporel-Konzepts, die Einbindung in psychologische und psychotherapeutische Forschung und Konzeptentwicklung und seine sexualwissenschaftliche Anpassung an sexualkulturellen Wandel, an Diversifizierungsprozesse von Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: die Benennung und Erläuterung eines vibrationsinduzierten Erregungsmodus als zeitgemäßer Spezifizierung/​Diversifizierung des Reibungsmodus (früher: mechanischer Modus) angesichts der fortschreitenden Technisierung des Solosex. Dem Autor gelingt der Spagat zwischen theoretischer Abstraktion und sinnlich-konkreter Praxis. Zugleich nimmt er vielfach konstruktiven Bezug zu bereits etablierten sexualtherapeutischen Konzepten und geht ebenso konstruktiv mit der von dort geäußerten Kritik um. (Diese wohltuende Gelassenheit – bislang eher untypisch für sexualwissenschaftlichen Austausch – spiegelt sich auch im ebenso humorvollen wie wertschätzenden Geleitwort von Ulrich Clement wider: „Man mag ja (wie z.B. ich) die Typologie von Erregungsmodi ein bisschen überbewertet finden. Aber sie ist konsistent begründet und passt zur Theorie. Immerhin ist der Ansatz des Sexocorporel der einzige Sexualtherapie-Ansatz, der diese theoretisch begründet.“/V).

Fazit

Die Ideen des Sexocorporel werden in Deutschland seit 2004 in Weiterbildungen gelehrt, seit 2016 auch im Rahmen eines kooperativen schweizerisch-deutschen Master-Studienganges an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Merseburg. Das vorliegende Buch bereichert die bislang noch sehr überschaubare Literatur zum Thema nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, denn es kreiert eine eigenständige sexualtherapeutische Schule. Die Lektüre ist für therapeutische Neueinsteiger*innen ebenso empfehlenswert wie für Etablierte zur Bereicherung ihrer jeweiligen Praxis.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Weller
Professor i.R. für Psychologie und Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, Diplom-Psychologe (Universität Jena), Analytischer Paar- und Sexualberater (pro familia)
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Es gibt 15 Rezensionen von Konrad Weller.

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ISSN 2190-9245