Philipp Austermann: Der Weimarer Reichstag
Rezensiert von Sebastian Elsbach, 10.12.2020

Philipp Austermann: Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2020. 338 Seiten. ISBN 978-3-412-51985-8.
Thema
Das Buch thematisiert das Ende der Weimarer Republik aus der Perspektive des Reichstages. Der Autor schildert die Zerstörung des Parlamentarismus durch die Reichsregierung und die extremistischen Parteien, wobei der Fokus auf juristischen Aspekten und der Debattenkultur im Reichstag liegt.
AutorIn oder HerausgeberIn
Der Autor Philipp Austermann war als Jurist über mehrere Jahre in der Verwaltung des Bundestages tätig und lehrt derzeit als Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Somit vereint er eine praxisnahe und eine wissenschaftliche Perspektive.
Entstehungshintergrund
Die Studie ist als Wortmeldung eines public intellectual zu verstehen, da Austermann die Parallelen zwischen der Zerstörung des Weimarer Parlamentarismus und heutigen Angriffen auf die parlamentarische Demokratie zieht, die der Autor verteidigen möchte (S. 13). Dafür wendet der Autor seine staatsrechtliche Expertise in einer detaillierten Auseinandersetzung mit den juristischen Aspekten dieses Zerstörungsprozesses an, sodass das Buch nicht als rein appellarisch anzusehen ist.
Aufbau
In zwei Kapiteln werden zunächst der parteipolitische und verfassungsrechtliche Kontext der parlamentarischen Arbeit des Reichstages und das „parlamentarische Leben“ – also der Arbeitsalltag der Parlamentarier – dargestellt. Die folgenden vier Hauptkapitel thematisieren die Vorgeschichte der Verfassungskrise von 1930, die „semiparlamentarische“ Arbeit der Brüning-Regierung von 1930 bis 1932, die „antiparlamentarische“ Arbeit der Papen-Regierung von 1932 und die völlige Entmachtung des Reichstages durch die Hitler-Regierung im März 1933, wobei dem sogenannten Ermächtigungsgesetz viel Raum gegeben wird.
Inhalt
Austermann beginnt mit einer Besinnung auf die Zeit des Nationalsozialismus, als der Reichstag als Parlament zerstört und zahlreiche Abgeordnete verfolgt und ermordet wurden. Angesichts des Einzuges der AfD, den der Autor als Parlamentspraktiker miterlebte, in den nunmehr politisch und baulich renovierten Reichstag, würden sich viele fragen, ob sich hier Geschichte wiederhole (S. 12). Auch auf die turbulente Regierungsbildung in Thüringen, wo bei der Landtagswahl von 2019 die AfD und Die Linke zusammengenommen mehr als 50 % der Stimmen erhielten, wird sorgenvoll verwiesen (ebd.). Demgegenüber möchte der Autor ein „Plädoyer für einen freiheitlichen Parlamentarismus“ abgeben und argumentiert gegen die Stimmabgabe für eine der „radikalen“ Parteien (S. 13 f.).
Die folgende Darstellung der Vorbelastungen der parlamentarischen Arbeit des Reichstages ist ganz klassisch gehalten und orientiert sich an der gängigen Weimar-Literatur. Konkret werden die Kriegsniederlage, die anti-parlamentarischen Parteien (KPD, DNVP, NSDAP), Wirtschaftskrisen, echte und vermeintliche Fehler der Weimarer Reichsverfassung – dazu unten mehr – und die mangelhafte Kompromissfähigkeit der damaligen Parteien als Probleme genannt. In diesem Kapitel zeigt sich vereinzelt ebenfalls der appellarische Charakter der Arbeit, wenn etwa auf historische Kontinuitäten zwischen der KPD und der heutigen Linkspartei hingewiesen wird (S. 23). Diese Problemlisten sind soweit auch in anderen Übersichtswerken zur Weimarer Republik zu finden. Der Autor stellt in Bezug auf die verfassungsrechtlichen Vorbelastungen als Erstes fest, dass der Reichstag das uneingeschränkte Budgetrecht hatte (S. 30); ein Punkt, der 1930 von hoher Bedeutung werden sollte. Wichtig erscheint Austermann zudem der Weimarer Wahlmodus des reinen Verhältniswahlrechtes, das er als „Grundübel“ der Verfassung bezeichnet, da es zu einer Zersplitterung der Parteienlandschaft geführt habe (S. 33–37). Insgesamt fällt in diesem Kapitel der wiederholte Bezug auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse auf, beispielsweise wenn darauf verwiesen wird, dass die Weimarer Republik wesentlich mehr Reichskanzler erlebte, als die Bundesrepublik in ihrem wesentlich längerem Leben. Im zweiten Kapitel widmet sich Austermann vor allem anhand einer von dem DNVP-Abgeordneten Walther Lambach herausgegebenen Broschüre dem Arbeitsalltag der Parlamentarier (S. 50–52). In die Schilderungen zur Geschäftsordnung des Reichstages, die in Vielem mit derjenigen des Bundestages identisch ist, streut Austermann einzelne Erfahrungen aus seiner Praxisarbeit ein (S. 53–62).
Eigentliches Kernstück der Arbeit bilden die Kapitel zu den Präsidialkabinetten, deren Aufkommen die titelgebende „ schleichende Entmachtung“ des Parlamentes bezeichnete. Ein zentraler Punkt Austermanns ist, dass er den Beginn der verfassungswidrigen Ausschaltung des Parlamentes auf die Reichstagsauflösung vom Juli 1930 datiert. Andere Autorinnen und Autoren haben den Beginn dieses Prozesses schon auf Brünings Ernennung im März 1930 gelegt oder wollten im Extremfall erst im Ermächtigungsgesetz eine Abweichung von der Weimarer Reichsverfassung erkennen. Austermann beschreibt sehr detailliert den Kontext, den Ablauf und die Tragweite dieses Verfassungsbruches durch die Reichsregierung. Die Argumente, die vom Brüning-Kabinett zur Rechtfertigung der Reichstagsauflösung und der erneuten Verabschiedung eines Reichshaushaltes per Notverordnung vorgelegt wurden, werden geprüft und die Position entwickelt, dass sie juristisch gesehen haltlos waren und vor allem die Konfrontationsbereitschaft der Regierung wiederspiegelten (S. 117 f.). Ebenso detailliert wird die weitere Machtausweitung der Präsidialkabinette analysiert, die stets zu Ungunsten des Parlamentes erfolgte. Zwar seien die Verfassungsbrüche aus der Brüning-Zeit noch heilbar wären und es hätte prinzipiell die Perspektive auf eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Verhältnissen bestanden, aber Austermann bestreitet nicht Brünings zentrale Rolle in dem Zerstörungswerk an der Weimarer Verfassung (S. 166). Der betont antiparlamentarische Stil der Papen-Regierung stellte jedoch gewiss eine Eskalation gegenüber Brünings Vorgehen dar. Die Wahlergebnisse vom Juli und November 1932 machten den Reichstag endgültig handlungsunfähig (S. 202). Folglich markierte das im letzten Kapitel ausführlich thematisierte Ermächtigungsgesetz lediglich einen Endpunkt in der Zerstörung des Parlamentarismus, der eine Bedingung für die höchstens scheinlegalen Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten darstellte. Das Buch kreist somit in seinem Ende wieder an den Ausgangspunkt zurück.
Diskussion
Das Buch tritt mit einem populärwissenschaftlichen Anspruch auf und möchte vor allem als Warnung vor einer Wiederholung von „Weimarer Verhältnissen“ verstanden werden. Dies ist prinzipiell zu begrüßen, da die juristischen Aspekte der Endphase der Weimarer Republik und insbesondere die Tatsache, dass es sich eben um ein bewusstes Zerstörungswerk handelte, außerhalb der Fachwissenschaft wenig bekannt sein dürften. Nach wie vor hält sich in der Öffentlichkeit eine hartnäckige Fehlinterpretation des Geschehens rund um die Errichtung der Präsidialkabinette, wonach dieser Schritt erstens völlig verfassungskonform und zweitens politisch alternativlos gewesen sei. Beides ist falsch, wie Austermann überzeugend und detailliert nachweisen kann. Dies ist aus der Sicht der Fachwelt keine neue Erkenntnis, aber das Buch richtet sich eben nicht primär an Weimar-Historiker oder -Juristinnen, sondern an akademisch Gebildete ohne Kenntnis der jüngeren Fachliteratur.
Hier ist aber der wichtigste Kritikpunkt anzubringen, da Austermanns Literaturrecherchen einem veralteten Stand entsprechen. Gerade in Hinblick auf die juristische und ideengeschichtliche Einordnung der Weimarer Reichsverfassung werden mehrere wichtige Monographien aus den Federn von u.a. Christoph Gusy, Kathrin Groh und Michael Dreyer nicht berücksichtigt. Dabei sind diese Bücher zum Teil bereits über 20 Jahre alt. So ist es inzwischen in der Weimar-Forschung Konsens, dass eine Bewertung der damaligen Verfassung anhand bzw. durch die Brille des Grundgesetzes den historischen Realitäten nicht gerecht wird. Die Weimarer Reichsverfassung stellte gegenüber der Bismarck-Verfassung des Kaiserreiches einen enormen Fortschritt in Richtung einer freiheitlichen Demokratie dar. Austermanns Diskussion des umstrittenen Art. 48 fällt zwar differenzierter aus als dies vor allem in der älteren Fachliteratur der Fall ist (S. 31 f.). Doch ist insbesondere seine Kritik des Wahlmodus insofern schief, als dass es rein spekulativ ist, zu behaupten, dass die Weimarer Republik mit dem Bonner Wahlrecht besser gefahren wäre. Das heute geltende personalisierte Verhältniswahlrecht ist – politikwissenschaftlich betrachtet – ja nichts weiter als ein ‚normales‘ Verhältniswahlrecht + einem Bonus für die stärkste Partei in Form der Überhangmandate, wobei dieser Bonus durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht faktisch beseitigt und eine (bislang nicht erfolgte) verfassungskonforme Wahlrechtsreform eingefordert wurde. Heute wird also wie in der Weimarer Republik das reine Verhältniswahlrecht praktiziert, wobei das Weimarer Wahlrecht, dessen Grundprinzip lautete 1 Mandat bei 60.000 Stimmen, zwei gewichtige Vorteile hatte: Einfachheit und Gerechtigkeit. Beide Punkte waren 1919 von überragender Wichtigkeit, da das Wahlrecht der Kaiserzeit mehrheitlich als ungerecht und kompliziert empfunden wurde. Die Zuschnitte der Wahlkreise hatten die Opposition stark benachteiligt und jedes Landesparlament verfügte über ein eigenes Wahlrecht, was zu einem kuriosen Flickenteppich geführt hatte. Beide Missstände wurden durch das von der Weimarer Nationalversammlung beschlossene Wahlrecht beseitigt und die aktuelle Reformdebatte täte gut daran sich an dieses historische Beispiel zu erinnern.
Auch Austermanns Bemängeln der Parteizersplitterung und das Anpreisen der Bonner 5 %-Hürde ist nicht zu Ende gedacht, da es ja gerade die mittleren, teils bürgerlich-liberalen Parteien waren, denen eine solche Hürde am meisten geschadet hätte. Die DDP als wichtige Unterstützerin der Republik wäre schon 1928 aus dem Reichstag ausgeschieden. Die große Nutznießerin einer Weimarer 5 %-Hürde wäre hingegen die DNVP gewesen, deren Abspaltungen politisch bedeutungslos geblieben wären. Dies war von der DNVP-Publizistik durchaus erkannt worden, wo Tiraden über die vermeintlich lächerliche (tatsächlich aber sehr gerechte, weil dem Wählerwillen entsprechende) Parteizersplitterung zu finden sind. Als Ergebnis dieser Spekulation rund um eine Sperrklausel stünde also keineswegs eine Stärkung des damaligen Parlamentarismus, wie Austermann annimmt.
Die DNVP führt zu einem weiteren Kritikpunkt, da Austermanns allzu suggestive Parallelsetzung zwischen der AfD und der NSDAP auf der einen und der Linkspartei und der KPD auf der anderen Seite nicht überzeugt. Die Parteiführung der AfD lässt (Stand: Nov. 2020) anders als diejenige der NSDAP nicht verlauten, dass sie im Falle eines Wahlsieges die Führungspersönlichkeiten der Konkurrenz aufknüpfen werde. Das durchschaubare Wechselspiel zwischen populistischer Provokation, extremistischen Inhalten und Koalitionsangeboten in Richtung eines „Bürgerblocks“, welches die AfD betreibt, entspricht eher dem historischen Fallbeispiel der DNVP. Es würde der AfD zudem an einem mit der SA vergleichbaren, militanten Arm fehlen, um mit den historischen Braunhemden gleichziehen zu können. Noch schiefer ist der Vergleich zwischen der KPD und der (ebenfalls unbewaffneten) Linkspartei, die in ihrem Spannungsbogen zwischen Linksextremismus und Sozialdemokratie am ehesten der USPD ähnelt und nicht der stalinistisch eingestellten und linksterroristisch handelnden KPD. Derartige Vergleiche laufen zudem Gefahr die historischen Gewaltverbrechen, die im Namen der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Ideologie begangen wurden, zu relativieren.
Diese Beispiele sollten verdeutlichen, dass die Heranziehung der „Weimarer Verhältnisse“ allein zwecks Mahnung und Abschreckung einseitig ist und der historischen Komplexität nicht gerecht wird. Wichtig ist ebenfalls die Feststellung, dass Wahlempfehlungen gegen oder für bestimmte Parteien in wissenschaftlichen Publikationen nichts verloren haben, da dies dem Neutralitätsgebot der Wissenschaft zuwiderläuft und insofern noch einmal klar zu unterstreichen ist, dass es sich hier um eine populärwissenschaftliche Arbeit handelt.
Fazit
Als Meinungsäußerung eines etablierten Staatsrechtlers und Parlamentspraktikers bietet das vorliegende Buch von Philipp Austermann eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Endphase des Weimarer Parlamentarismus. Hierbei wird die bewusste, anti-parlamentarische Machtausweitung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburgs und der von ihm eingesetzten Präsidialkabinette detailliert beschrieben. Zur Orientierung in einem kritischen Zeitabschnitt der jüngsten deutschen Geschichte ist das preiswerte Buch gut geeignet und es werden dabei einige (wenn auch nicht alle) der gängigsten Fehlurteile über die Weimarer Republik korrigiert.
Rezension von
Sebastian Elsbach
Post-Doktorand an der Forschungsstelle Weimarer Republik – Jena
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Es gibt 3 Rezensionen von Sebastian Elsbach.
Zitiervorschlag
Sebastian Elsbach. Rezension vom 10.12.2020 zu:
Philipp Austermann: Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments. Böhlau Verlag
(Wien Köln Weimar) 2020.
ISBN 978-3-412-51985-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27340.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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