Michael Gehler: Deutschland
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.10.2020

Michael Gehler: Deutschland. Von der geteilten Nation zur gespaltenen Gesellschaft 1945 bis heute. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2020. 448 Seiten. ISBN 978-3-412-51786-1. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Mehr als die Summe seiner Einzelteile – Wind of change
Geschichtsschreibung ist Vergewisserung, Bestandsaufnahme, Analyse, Ahnung und Vision – für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Inhaber des Jean Monnet Chair für Vergleichende europäische Zeitgeschichte und Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim, Michael Gehler, ist ein Historiker, der die neuere Geschichte Deutschlands in vielfältigen Zusammenhängen analysiert, die politischen und gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtpositionen nach 1945 thematisiert, die Teilungs- und Vereinigungsverläufe kritisch betrachtet und die nationalen und internationalen, europäischen und globalen Entwicklungen im Fokus hat. Wir bezeichnen das Hildesheimer Institut als „Europa-Schmiede“ und „Europa-Labor“.
Mit der 2010 erschienen Studie „Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute“ (www.socialnet.de/rezensionen/13169.php) setzt er sich mit der Geschichte Deutschlands auseinander, wie sie sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete. Es sind die drei deutschen Republiken, die beachtet werden müssen: Die (alte) Bundesrepublik Deutschland (BRD) in der Zeit von 1949 bis 1990, die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die „neue Berliner Republik“ seit der Einigung Deutschlands. Es sind Entwicklungen, Zäsuren und Brüche, die mit den Daten und Situationen verbunden sind, wie: Kriegsende (1945), Zweistaatenbildung (1949), Zeit des Kalten Krieges (1947 – 1953), Blockbindung der beiden Teilstaaten (1955), Mauerbau in Berlin (1961), Grundlagenvertrag (1972), KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975), Fortsetzung des Kalten Krieges (1979), politischer Machtwechsel im Parteienspektrum (1982), Machtwechsel in der Sowjetunion (1985), Maueröffnung (1989), deutsche Einheit (1990), erneuter Regierungswechsel (1998), Große Koalition (2005), und schwarz-gelbe Regierungskoalition (2009).
Die „Achterbahn“ der Geschichte geht weiter (Ian Kershaw, 2019). Die durchaus unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Bewohner der vormals geteilten deutschen Staaten, dass sich der Wiedervereinigungsprozess nach 1990 als unkompliziert und reibungslos vollziehen würde, sind rissig geworden. Die Annahme, dass die Zustände des „besseren“, demokratischen Deutschlands sich gewissermaßen als „blühende Landschaften“ auch selbstverständlich und logisch auf den ursprünglich anderen (diktatorischen) Teil übertragen ließen, ist in Zweifel zu ziehen. Ein Vergleich der je spezifischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor, während und nach der Wiedervereinigung: „Es gilt, beide Staaten nach gleichen Kriterien zu betrachten und sie nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen, nicht lediglich allein aus westlicher oder nur aus östlicher Sicht, sondern aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers mit gebührendem Abstand und der Identifizierung von Analogien, Parallelen, Übergängen und Überlappungen.“ Die Fortschreibung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung im vereinigten Deutschland ist nicht nur deshalb angesagt, weil im wissenschaftlichen Diskurs neue Aspekte und Geschichtsanalysen vorliegen, weil die vielfältigen lokalen und globalen Krisensituationen – Klima-, Migrations-, Finanz-, Euro- und Health-Krise – wie eine gemeinsame Last auf dem Land liegen, sondern auch, weil die weltweiten ideologischen, demokratiefeindlichen ego-, ethnozentrischen, rassistischen und populistischen Tendenzen an den deutschen Grenzen nicht Halt machen. Die vereinigte, so genannte „Berliner Republik“ erhebt Ansprüche, ein wichtiger und bedeutsamer Player im europäischen und globalen Einigungsprozess zu sein. Die Widerstände dagegen gilt es, sie zu identifizieren und mit freiheitlicher, demokratischer Politik zu antworten.
Aufbau
Neben dem Vorwort gliedert Gehler seine aktuelle Geschichtsanalyse zur deutschen Entwicklung in 12 chronologische und thematische Kapitel.
Im ersten geht es um die „Deutschland-Frage und zwei deutsche Staaten (1945/49 – 1961)“. Im zweiten um „Verfestigung der Teilung (1961 – 1972)“ Im dritten setzt sich der Autor mit „Wandel durch Annäherung“ auseinander, indem er über die Phasen von „Entspannung und Normalisierung (1972 – 1979)“ reflektiert. Im vierten wird der Zeitraum von 1979 – 1989 unter den Gesichtspunkten von „Entspannung in der Krise. Neue Konfrontation, Rüstungsabbau und Blockerosion“ betrachtet. Das fünfte Kapitel handelt von der „Wiederkehr der ‚Deutschen Frage‘ und Wiedervereinigung Deutschlands (1989/90)“. Im sechsten werden „Folgen und Lasten der Einheit: Transformation, Stagnation und der Ausklang der Ära Kohl (1990 – 1998)“ thematisiert. Im siebten wird „‘Rot-Grün‘ als Experiment auf halbem Weg (1998 – 2005)“ gewertet. Das achte Kapitel ist überschrieben mit „Bruch und Tradition: Große Koalition unter Angela Merkel (2005 – 2009)“. Im neunten wird „die schwarz-gelbe Koalition (2009 – 2013)“ angeschaut. Das zehnte Kapitel titelt der Autor „Vom europäischen Krisenmanager zur lahmen Ente Europas (2014 – 2017)“. Im elften wird „die ausklingende Ära Merkel und die Berliner Republik am Scheideweg (2017 – 2020)“ analysiert; und im zwölften Kapitel erläutert Gehler in zehn Dimensionen eine Einschätzung der Entwicklung der drei unterschiedlichen Republiken: „Bonn – Pankow – Berlin“.
Inhalt
Die umfangreiche Analyse der Frage, wie Deutschland geworden ist, wie es ist, nach der ideologischen Verirrung, nach der unmenschlichen, katastrophalen Entwicklung, nach Kriegsende und Teilung Deutschlands in zwei Staaten, bringt zahlreiche Quellenmaterialien und historische Zeugnisse zutage, zeigt bisher nur selten veröffentlichte Dokumente, offizielle und offiziöse Medien und vermittelt so ein faktenreiches Bild dieses ideologischen, politischen und mentalen Geschichtsprozesses. Mauerbau und Mauerfall, als die beiden signifikanten Merkmale der neueren deutschen Geschichte, verdeutlichen die Hoffnungen, Irrungen und Wirrungen in diesem historischen Prozess. Mit der von den Bewohnern der ehemaligen DDR skandierten Parole „Wir sind das/ein Volk“, die von den Westdeutschen aufgenommen und als Zeichen verstanden wurde, dass der DDR-Staat abgewirtschaftet hatte und zur „Übernahme“ bereit war, vollzog sich der „Anschluss“ an die Bundesrepublik Deutschland, mit der Geltung der westdeutschen Währung und des westdeutschen Grundgesetzes.
Eine Replik, als Aufforderung zur Weiterentwicklung und Vollendung der deutschen Einheit soll an dieser Stelle aufgeführt werden: Im letzten 146. Artikel der Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (vom 23. Mai 1949) heißt es: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Auch wenn es in der revidierten Präambel des Grundgesetzes u.a. heißt: „Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“, bleibt als zukünftige Aufgabe, eine „deutsche Verfassung“ im Rahmen einer „Verfassung für Europa“ zu etablieren; ein bis heute nicht verwirklichter, politischer Akt. Denn das Manko besteht: Der vom Europäischen Konvent am 20. Juni 2003 dem Europäischen Rat vorgelegte Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa wurde bis heute nicht realisiert.
Die Suche nach der „nationalen Identität“, die in Deutschland und überall anderswo in der Welt sowohl zur Brückenbegehung, wie vor allem aber zum Brückenabriss, zu Konfrontation, Leid, Kriegen und Unmenschlichkeit geführt hat, darf sich nicht als Alleinstellungsmerkmal und als Höherwertigkeitsempfindung äußern, sondern als rationales, demokratisches Bewusstsein (vgl. dazu z.B.: Julian Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26507.php), und der Erkenntnis, dass der Mensch, als Mitglied der menschlichen Familie darauf angewiesen ist, die Conditio Humana zu leben (Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php).
Fazit
Die vielfältigen, differenzierten Analysen darüber, wie die Entwicklungen der drei betrachteten deutschen (neuzeitlichen) Republiken – Bonn, Pankow, Berlin – mit dem historischen „Jetzt“-Blick betrachtet werden können, münden in zehn Dimensionen, die zweifellos Grundlage für ein freiheitlich-demokratisches, deutsches Identitätsbewusstsein sein können:
- Deutschland ist, damit es human und menschenwürdig existieren kann, ein freiheitlich-demokratischer Staat.
- Deutschland ist, damit es sich als friedlicher und gerechter Lebensraum weiterentwickeln kann, ein sozialer Staat.
- Deutschland ist, damit die conditio humana gelten kann, ein sicherer Staat.
- Deutschland ist, damit die Menschen interkulturell zusammen leben können, ein europäischer und globaler Staat.
- Deutschland ist, damit die Menschen sich als zôon politikon verstehen können, ein politischer Staat.
- Deutschland ist, damit sich die Gesellschaft nicht spaltet und ungerecht entwickelt, ein integrierter Staat.
- Deutschland ist, damit die Menschen selbstbewusst leben können, ein sinnstiftender Staat.
- Deutschland ist, damit die Menschen vergangenheitsbewusst, gegenwartsbestimmt und zukunftsorientiert leben können, ein Kulturstaat.
- Deutschland ist, damit nicht Abhängigkeit und Konsumterror herrschen, ein nachhaltiger Staat.
- Deutschland ist (wird), damit die Deutschen friedlich, gerecht, gleichberechtigt und menschenwürdig leben können, ein humaner Staat.
So bleibt der Gehlersche Imperativ: „Handle jeweils so, dass dein Verhalten in Europa zu einer allgemeingültigen gemeinschaftlichen Gesetzgebung werden kann“.
Das im Anhang beigefügte Abkürzungsverzeichnis bietet den Leserinnen und Lesern Hilfen an; bibliographische Hinweise werden auf 19 Seiten gegeben; im Verzeichnis der Abbildungen und Grafiken wird auf die zahlreichen Illustrationen verwiesen; und das Personenverzeichnis erleichtert die Nutzung der Studie auch als Handbuch.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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