Michael Gehler: Europas Weg
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.08.2020

Michael Gehler: Europas Weg. Von der Utopie zur Zukunft der EU. Studienverlag (Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2020. 376 Seiten. ISBN 978-3-7065-6060-3. D: 24,90 EUR, A: 24,90 EUR.
Europa: Mythos, Maxime, Macht
Der Hildesheimer Historiker Michael Gehler, Inhaber des Jean Monnet Chairs für Vergleichende Europäische Zeitgeschichte, mehrjähriger Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Ausland, gehört nicht zu denjenigen, die angesichts der nationalistischen und populistischen Gegnerschaften gegen die integrative, demokratische Europapolitik bereits einen Abgesang des europäischen Einigungsprozesses anstimmen; vielmehr bildet die „Hildesheimer Europaschmiede“ ein motivierendes und überzeugendes Beispiel dafür, wie eine „europäische Identität“ initiiert und institutionalisiert werden kann. Es ist die Verantwortung jedes Europäers, sich diesen Herausforderungen zu stellen (vgl. z.B. dazu: Michael Gehler, u.a.,Hrsg., Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27335.php). Weitere zahlreiche Belege dafür werden im Internet-Rezensionsdienst vorgestellt und gewürdigt.
Entstehungshintergrund
Die Idee, dass der Kontinent Europa als vereinigtes, ethnisches, politisches und kulturelles Staatsgebilde verstanden und verwirklicht werden sollte, gehört zum Jahrhunderte alten Bewusstsein und Hoffen der Europäer. Gleichzeitig aber stellt sich Europa immer wieder janusköpfig dar, schwankend zwischen Paradies und Hölle (Fernand Braudel), zwischen Gut und Böse, zwischen Fort- und Rückschritt, zwischen Krieg und Frieden. Der vom Europäischen Rat 2001 einberufene „Europäische Konvent“ hat am 20. Juni 2003 den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa vorgelegt, in dem in der Präambel u.a. das Bewusstsein zum Ausdruck kommt, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhundert die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“ (Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 2003, S. 5). Zwar wurde die Verfassung, nicht zuletzt aus egoistischen Gründen und nationalen Vorbehalten einiger europäischer Staaten, bisher nicht verwirklicht; doch die Zielsetzung einer europäischen Integration besteht weiterhin und wird nicht zuletzt durch die vielfältigen, wissenschaftlichen Forschungs- und Innovationsarbeiten gefordert und gefördert.
Aufbau und Inhalt
Eine europäische Identität und der Aufbau einer europäischen Dimension im Bewusstsein und als politischer Wille der Europäer bilden und festigen sich nur, wenn es gelingt, individuell und institutionell Informationen und Wissen über die historischen und aktuellen, freiheitlichen, demokratischen europäischen Ideen zu verbreiten. Abgeleitet von der Begründung zur Verfassung der UNESCO (16. 11. 1945), weil Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden, lässt sich sagen: Weil die Widerstände gegen ein Vereintes Europa aus ideologischen, nationalistischen, rassistischen und populistischen Gründen entstehen, müssen auch Aufklärung und Bereitschaft für ein gemeinsames Europa im Geist der Europäer gebildet werden. Der historische Aufriss über die Entstehung und Entwicklung, den Aufbau und die Funktionen der (neuzeitlichen) europäischen Institutionen wird in drei Kapiteln dargestellt: Im ersten Teil geht es um „Europa-Mythos und Idee: Vom Karlskult bis Coudenhove-Kalergi“; im zweiten Kapitel wird der „Weg zum Europa der Institutionen“ nachgezeichnet (siehe auch: Michael Gehler, Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23710.php); im dritten Teil schließlich werden mit „Vertiefungen“ die Entwicklungen und Veränderungen beim europäischen Einigungsprozess verdeutlicht und aktualisiert.
Für Historiker, wie auch für die mit der europäischen Geschichte nicht so bewanderten Zeitgenossen ist es hilfreich, die wesentlichen, grundgelegten Stationen und Verläufe im europäischen Prozess noch einmal skizzenhaft vorbeiziehen zu lassen: Von der Karlsgeschichte und dem sich daraus entwickelten Karlskult (mit dem seit 1950 alljährlich an Personen vergeben wird, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben), dem monarchisch-europäischen Herrschaftsanspruch des Florentiners Dante Alighieri (1265 – 1321), den geographischen Eingrenzungen, wie sie Sebastian Münster (1489 – 1552) vornahm, den europäischen Friedens- und Machtvorstellungen des Briten William Penn (1644 – 1718), Immanuel Kants Idee vom (europäischen) Föderalismus freier Staaten, dem Modell eines „Bundes der Völker“, das der politische Schriftsteller Constantin Frantz (1817 – 1891) vorschlug, den national-liberalen Vorstellungen, wie sie Friedrich Naumann (1860 – 1919) einbrachte, bis hin zur 1922/23 in Wien gegründeten Paneuropa-Union durch den Grafen Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894 – 1972).
In der sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten europäischen und globalen Macht-, Hegemonie- und Dominanzpolitik entstanden der ideologische Ost-West-Konflikt, der sowohl mit dem Marshall-Plan Elemente von institutioneller Zusammenarbeit von westeuropäischen Ländern, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland bewirkte, und mit den Römischen Verträgen vom 1. Januar 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen wurde. Die Fusion der EGKS, der EWG und von EURATOM zur Europäischen Gemeinschaft (EG) 1967 schuf die Voraussetzungen dafür, dass am 19. Juni 1983 der Europäische Rat in Stuttgart die „Feierliche Deklaration zur Europäischen Union“ unterzeichnete, und mit dem Vertrag von Maastricht vom 3. Dezember 1993 die Einheitliche Europäische Akte als europäisches Gründungs- und Entwicklungskonzept in Gang setzte. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Auflösung der Deutsch-Deutschen Grenze. Mit dem Vertrag von Amsterdam, 1997, wurden die Ordnungs- und gesetzgeberischen Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt und Initiativen entwickelt, wie es gelingen könne, den Europagedanken stärker bei den Europäern zu etablieren. Weitere Beitritte und Beitrittsverhandlungen zur EU folgten, die Einführung des Euro, Maßnahmen zur Überwindung der zahlreichen Krisen, wie z.B.: „Finanz“-, „Migrations“- und „Flüchtlings“ – Krise, sind Herausforderungen, die weiterhin bestehen und von der neuen EU-Kommission gelöst werden müssen.
Die Integrationsaspekte im europäischen Einigungsprozess unterliegen weiterhin dem Spannungsfeld zwischen nationalstaatlichen Positionen und supranationalen Ansprüchen und Regelungen in der EU. Der Austritt Großbritanniens aus der EU, mit den sich bis heute nicht aufgelösten inländischen Konflikten und unterschiedlichen Auffassungen über den Regierungsbeschluss, hat einen langen Schatten auf die optimistischen Erwartungshaltungen für ein vereintes Europa geworfen; die europakritischen und -skeptischen, politischen Gegenpositionen, wie sie z.B. in Ungarn, Polen, Tschechien… ausgeübt werden, erschweren die Weiterentwicklung hin zu einem Vereinten Europa, die europa-und weltweit sich entwickelnden, antidemokratischen, nationalistischen und populistischen Strukturen dämmen die europäischen Integrationsperspektiven. Doch diesen Zuständen nachzugeben oder sie ohnmächtig hinzunehmen, das ist nicht Gehlers politische Einstellung; vielmehr thematisiert er Gründe, wie den Kakophonien zu begegnen ist: Da ist zum einen der „Faktor Deutschland als Integrations-Imperativ“, was bedeutet, dass „ein Deutschland außerhalb der EU oder gar gegen die EU stehend unvorstellbar“ ist. Da ist zum zweiten „die integrierte Rechtsgemeinschaft“, die sich gebildet hat, erhalten, verteidigt und weiterentwickelt werden muss. Da ist drittens „die Sachlogik des Binnenmarktes“ mit den vier Freiheiten – „Dienstleistungen, Güter, Kapital und Personal“ – die Vorteile für alle Beteiligten bringt. Viertens ist es „der Euro als Klammer und Medium des Binnenmarktes“, der ökonomischen Fortschritt bewirkt und Krisen bewältigen hilft. Fünftens ist es das europäische Gemeinschaftsrecht, das vor nationalem Recht steht. Sechstens sind es „die außervertraglichen und völkerrechtlichen Regelungen auf europäischer Ebene“, die die Universalität der EU betonen. Siebtens sind es „die äußeren Gegner sowie Krisen, (die) als Initiatoren und Motoren“ zur Verwirklichung eines geeinten Europas wirken. Achtens ist es „der Handlungsbedarf durch Zuwanderung“, der eine gemeinsame Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik erzwingt. Neuntens ist es „die soziale Not als Solidaritätserfordernis“, die Europa zu einer „Sozialunion“ machen muss. Und zehntens ist es „die Gültigkeit der Gründungsmotive“, die als stärkste Motive erinnert, bestätigt und erhalten werden müssen.
Neben dem Nachwort zur Neuauflage wird Anhang eine informative und hilfreiche, 19seitige Chronologie „Europa und seine Einigung nach 1945“ angefügt. Das 28seitige „Glossar zur Geschichte Europas und seiner Integration“ bietet denjenigen, die sich mit der historischen, kulturellen und politischen Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses auseinandersetzen – das gilt für die schulische und Erwachsenenbildung gleichermaßen – hilfreiche Zugangs- und Informationsmöglichkeiten an. Das Abkürzungsverzeichnis gehört in den Werkzeugkasten eines Europäers. Das 20-seitige Quellen- und Literaturverzeichnis, das der Autor differenziert in „Dokumentationen und Editionen“, „Enzyklopädien, Hand-, Lehrbücher und Nachschlagwerke“, in „Geschichte Europas im Überblick: Idee und Realität“ und „Europa nach 1945: Von der Idee zur Institution“. Die mehrseitigen Hinweise zu „Links zum Thema Europa und europäische Integration“ verweisen auf den virtuellen, europäischen und globalen Diskurs. Das Personenregister verweist darauf, dass das Buch „Europas Weg“ ein Handbuch ist. In der doppelseitigen SW-Landkarte wird die EU um 2020 dargestellt.
Fazit
Es ist keine neue Argumentationsstrategie, die Michael Gehler mit der erweiterten Neuauflage der 2002/2014 vorgelegten Analyse über Utopien und Wirklichkeiten zum europäischen Integrations- und Einigungsprozess vornimmt. Vielmehr zeichnet sich das Buch „Europas Weg – Von der Utopie zur Zukunft der EU“ durch zwei wesentliche, hilfreiche und motivierende Begründungen aus: Zum einen ist es der unbedingte Wille, der Mut und die Kraft der Überzeugung, dass ein Vereintes Europa nicht nur ökonomisch sinnvoll, nützlich und notwendig, sondern in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt auch lokal- und globalstrategisch unverzichtbar ist. Zum anderen sind es die humanen, menschenwürdigen und -rechtlichen Gründe, die ein „offenes“ Europa erfordern: „Abschottung und Festung Europa sollten auf Dauer nicht funktionieren, und der Rückzug ins nationale Schneckenhaus schon gar nicht“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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