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Ulrich Ruschig: Die Befreiung der Natur

Rezensiert von Dr. Burkhard Kastenbutt, 11.08.2020

Cover Ulrich Ruschig: Die Befreiung der Natur ISBN 978-3-89438-741-9

Ulrich Ruschig: Die Befreiung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse. PapyRossa Verlag (Köln) 2020. 115 Seiten. ISBN 978-3-89438-741-9. D: 11,90 EUR, A: 12,30 EUR.
Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 291.

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Der Autor

Ulrich Ruschig, Dr. rer. nat., Dr. phil. habil., ist pensionierter Professor für Philosophie und war lange Zeit Direktor des Instituts für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem zu Kant, Hegel, Marx und der kritischen Theorie.

Thema

Das Buch geht von Marcuses Schrift „Konterrevolution und Revolte“ und darin dem Kapitel „Natur und Revolution“ aus und verdankt ihm die Grundthese, dass ohne Befreiung der Natur „die Befreiung der Menschen von der kapitalistischen Herrschaft nicht gelingen“ könne. Wer von „‚Befreiung der Natur‘“ spreche, sei nach Marcuse verpflichtet, „das Verhältnis von Natur und Freiheit zu bestimmen“ (S. 8). Hier setzt Ruschig an oder hakt insoweit ein, als er philosophisch kritische Argumentationsfiguren Marcuses aufnimmt und für politische-praktische, basale Orientierung weiterentwickelt. Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, schon Referenz für Kritische Theorie, wird zur Substantiierung praktisch philosophischer Erkenntnis genutzt, womit Ruschig auch die Begrenztheit tradierter idealistischer Philosophie sowie der heutigen, darin befangenen philosophischen Schulen nachweist, insonderheit an den Begriffen Natur und Freiheit. Der Autor fragt nicht nur nach dem Verhältnis von Natur und Freiheit im Kapitalismus, sondern er gibt Antwort insoweit, als dieses Verhältnis umzuwälzen ist, wovon nicht weniger als das Überleben der Menschheit abhänge. Tacheles gesprochen: Natur, die menschliches Leben ermöglicht, wird „à la longue zugrunde gehen“, wenn sie länger dem „maßlosen Verwertungstrieb“ des Kapitals ausgesetzt bleibt. Sie selbst kann sich nicht wehren, weshalb „der Kampf der Arbeiter um ihre Befreiung von der Kapitalherrschaft auch den Kampf um die Befreiung der Natur von dieser Herrschaft einschließen“ muss, weil ansonsten „eine menschlichen Zwecken gemäße Arbeit und eine menschliches Leben befördernde Natur“ untergehen werden. Durch fortschreitende Ausbeutung der Natur und immer massivere Eingriffe, der Werteverwertung und der Gewinnmaximierung mit dem Diktat permanenten ökonomischen Wachstums dienend, „schränkt (der Kapitalismus; B.K.) menschliche Freiheit mehr und mehr ein“ (S. 111 f.). Die Lektüre des Buches macht plausibel und lässt einsehen, dass sich das Kapital „mit Notwendigkeit in das Verhältnis des Widerspruchs zu dieser Natur“ setzt, „und zwar mit fortschreitender Ausbeutung der Natur in das Verhältnis eines prozessierenden Widerspruchs“ (S. 101).

Philosophie, „wenn sie denn an der Liebe zur Weisheit festhält“, hat über die affirmativen bis legitimierenden Gehalte vergangener wie heutiger bürgerlicher philosophischer Denkrichtungen und ihren Begriffsbestimmungen aufzuklären, was heißt, nicht „‚Herrschaft über die Natur‘ einfach vom Begriff her wegzudebattieren und all diejenigen, die sagen, das Kapital vergewaltige die Natur, als Leute abzuqualifizieren, die nicht genau nachdenken und die philosophischen Begriffe falsch oder unklar verwenden“ (S. 25 f.). Insbesondere für politische Bewegungen sind diese philosophischen Reflexionen von eminenter Bedeutung, die Ruschig mit Marcuse zur Diskussion stellt.

Inhalt

Gleich in der Einleitung gibt Ruschig zu erkennen, was im Zuge seiner Argumentation thematisiert wird: „Beide Seiten – die heutige Wirklichkeit der kapitalistischen Naturzerstörung und die aus der philosophischen Tradition stammenden Begriffe von Natur, Subjekt, Freiheit und Herrschaft – zusammenzubringen“, sei „keine einfach zu lösende theoretisch-philosophische Aufgabe“, die aber Herbert Marcuse angepackt habe, um „apodiktisch“ die Befreiung der Natur zu fordern. Ohne „diese Befreiung“ könne die „Befreiung der Menschen von der kapitalistischen Herrschaft nicht gelingen“. Heutige Philosophie sei verpflichtet, „das Verhältnis von Natur und Freiheit zu bestimmen“ (S. 7 f.). Der inzwischen eklatante (und folgenreiche) Raubbau an natürlichen Ressourcen und die damit verbundenen Zerstörungen schlage „Schneisen in den Naturzusammenhang insgesamt“ und vernichte „einzelne Naturzusammenhänge. Ausbeutung der Natur ist also mit einer die Natur in Teilen zerstörenden gesellschaftlichen Gewalt verknüpft.“ Da allerdings stehen Fragen an, nämlich ob diese „Gewalt dem Begriffe nach Herrschaft“ ist, und da Herrschaft auf Knechtschaft verwiesen sei, müsse geklärt werden, „wer/was im Bereich der Natur ‚Knecht‘“ und somit Subjekt ist, weil nur unter der Prämisse von Herrschaft der „Terminus ‚Befreiung der Natur‘ Sinn“ mache (S. 11 f.).

Die nicht nummerierten Kapitelüberschriften fallen in der Folge länger aus und geben dadurch genauere Auskunft, worum es dem Autor im jeweiligen Kapitel geht. „Wogegen richtet sich Marcuses ‚Befreit die Natur!‘? – Der bürgerliche Zugriff auf die Natur und dessen philosophische Fundierung“ führt erst einmal zu dem Zwischenfazit: „Die bürgerliche Philosophie legt das geistige Fundament für den Kapitalismus und dessen Verhältnis zur Natur“ (S. 20), was Ruschig nicht nur mit Fakten, auch rechtlichen, untermauert. So stehen Tiere im Rang von „Mitgeschöpfen“, dürfen nur mit „vernünftige(m) Grund“ getötet werden, wobei die „Umsetzung der Moral ins Recht“ so aussieht, dass letztendlich „als ‚vernünftiger Grund‘ die Verwertung des Kapitals“ gilt (S. 18, Anm. 10). Bei Kant sind Tiere ‚Sachen‘ und laut Gesetzgeber ist das unberechtigte Töten von Tieren, die sich im Eigentum anderer befinden, ‚Sachbeschädigung‘. Da jedoch erst einmal „Mitgeschöpfe“ keine Sachen sein können, was auch der Gesetzgeber zunächst so sah, aber anders als Menschen Privateigentum sind oder werden können, musste der Gesetzgeber hinzufügen, dass auf sie „‚die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden‘“ sind, wodurch die „gefühlige Deklamation“ – als „Mitgeschöpfe“, eine „Gunst“, die Pflanzen nicht gewährt wird – „ohne wirklichen rechtlichen Inhalt“ verbleibt (S. 20 f., Anm. 12). Solche erhellenden Anmerkungen begleiten den gesamten Fließtext des Buches, hier eingespeist in eine kritisch würdigende Aufnahme von Kant, womit Ruschig zeigt, was dieser Philosoph der Aufklärung nicht wissen konnte, nämlich „(d)aß der ab Mitte des 20. Jahrhunderts in der Wissenschaft Biologie entwickelte biologische Artbegriff ein eidetisches Moment in den Einklang mit der Kausalität nach Gesetzen der Natur bringt, ja, dass zur Erklärung des Lebens der Arten in Populationen dieses eidetische Moment anzunehmen sich als notwendig erweist“ (S. 14, Anm. 6). Was der Autor anmerkt, hat zur Konsequenz, dass Würde, die des Menschen, die er qua einer in Vernunft gründenden Verpflichtung als solche der Menschheit in der Person eines jeden zu achten hat, keinen anderen Lebewesen zugesprochen werden kann, sie nicht im Kantischen Sinne zu achten sind: „Das Wort ‚Würde‘ für Sachen zu gebrauchen – und das Hausschwein, die Kleine Hufeisennase, das Wiesenschaumkraut, das sind, folgend der Kantschen Dichotomie, Sachen, für die eine Würde zu haben ausgeschlossen ist –, dies verbietet die Transzendentalpolizei“ (S. 16). „Würde“ ist als Begriff moralisch affiziert, und das „Kapital kennt (…) keine Moral“, „da die Verwertung des Werts sowohl von jeglichem besonderen Gebrauchswert als auch von den Ideen wie derjenigen der Menschheit abstrahiert“. Zum „Gebot der Vernunft“ sei nunmehr geworden, die kapitalistische „Be- und Vernutzung der Natur“ zu beschränken, mithin eine „(vernünftige) Selbstbeschränkung des Menschen“, dem die Expansion des Kapitals, „tertium non datur aufgrund der ökonomischen Gesetze“, diametral entgegenstehe, was das „Weiterleben der Menschheit in einem notwendigerweise endlichen Naturzusammenhang und in einem Ensemble von anderen Lebewesen und das Überleben der Menschheit massiv in Frage“ stelle (S. 17). Mit bürgerlicher Philosophie (womit der Autor in diesem Text „vorzugsweise Kant“ meint [S. 22, Anm. 13]) ist diese Argumentation nicht zu entwickeln, da Eidos sich für sie in „Aberglaube“ auflöse und im „bürgerlichen Zeitalter (…) die Natur selbst keinen moralischen Wert (hat) und (…) an sich keine ideellen Zwecke (enthält)“, sie „das bloße Material für den Zugriff des Subjekts oder der Vernunft“ sei (S. 22 f.), was den „Zugriff des Kapitals auf die Natur mit der philosophischen Rechtfertigung“ versehen habe, „die fortschreitende kapitalistische Entwicklung sei Fortschritt in weltbürgerlicher Absicht“ (S. 25).

Im nächsten Kapitel wird wieder von Marcuse ausgegangen mit „Die Befreiung der Natur – Worin gründet der Impuls, die Natur zu befreien?“ Somit steht zur Debatte, ob „vernünftigerweise“ von „‚Herrschaft über die Natur‘“ gesprochen werden könne (S. 27). Auf wenigen Seiten, dabei ohne inhaltlichen Substanzverlust, diskutiert der Autor Marcuse und Kant, um nicht nur diese Frage und dabei solche um ‚Freiheit‘ zu klären, sondern um zu zeigen, und zwar auch hier in einer Anmerkung sehr pointiert: „Die ‚Daseinsweise‘ der Lebewesen, ihr Um-ihrer-selbst-willen-Sein, ist eine Bestimmtheit für den Menschen (Marcuse), eine Bestimmtheit, die in ihrer Substanz durch das Kapital bedroht wird“ (S. 34, Anm. 20). Um so formulieren zu können, ist vorab zu erkennen und herauszustellen, dass in der „bürgerlichen Gesellschaft die Herrschaft über die Natur und die Herrschaft über Menschen inwendig miteinander verknüpft (sind) – das Kapital ist das beide ‚Herrschaften‘ Vermittelnde.“ Deswegen sei es verfehlt zu sagen, „‚der Mensch‘ sei der Umweltsünder (…). Was heutzutage als ‚Natur‘ sich präsentiert, ist eine mehr und mehr und in stets wachsendem Maße kapitalmäßig transformierte Natur“, weshalb Marcuse von einer „‚Vergewaltigung der Natur‘“ gesprochen hat: Der „Natur werde in einer in ihr Wesen eingreifenden Weise Gewalt angetan“ (S. 28). Befreiung von dieser Vergewaltigung und Gewalt verlangt „‚neue() Qualitäten der Freiheit‘“ (Marcuse), die „nicht ohne den Prozess ihrer Entdeckung durch die sich befreienden Subjekte“ zu erreichen sind, dann in einem „Reflexionsprozess“, der „lediglich notwendige Bedingung, nicht zureichender Grund für jene Qualitäten“ ist (S. 31). Nach den bisherigen Ausführungen fast schon rhetorisch muten die mit Marcuse aufgeworfenen Fragen an, ob es denn stimme, die Natur sei bloß dazu da, „um von der eminent von ihr unterschiedenen menschlichen Kausalität aus Freiheit benutzt zu werden oder besteht die Natur – und das wäre dann eine Wesensbestimmung -“, und hier zitiert der Autor Marcuse, „auch um ‚ihrer selbst willen‘ und – in dieser Daseinsweise – für den Menschen?“, was „nur durch die Reflexion des Menschen bestimmbar“ sei, ergänzt Ruschig (S. 33).

Das Folgekapitel schließt an: ‚Die Natur ist um ihrer selbst willen da‘ (Marcuse) versus ‚Die Zweckmäßigkeit der Natur fällt in die reflektierende Urteilskraft‘ (Kant). Ein „Exkurs“, wie Ruschig im anschließenden Kapitel erläutert, der nötig ist, „um zu ermessen, dass eine Revolution der Denkungsart hinter Marcuses ‚Befreiung der Natur‘ steckt, wie diese Revolution aussieht und worin sie liegt“ (S. 39). Marcuse gehe entscheidend über Kant hinaus und widerspreche ihm. Für Kant ist allein der Mensch „Zweck an sich selbst“, was seinen Grund darin habe, dass er „Subjekt des moralischen Gesetzes“ (Kant) sei. Das gelte nicht für andere Lebewesen, die „nicht als Zweck an sich“ existieren und auch nicht „eine ideelle Antizipation der Freiheit“ enthalten. Kant bestimme Lebewesen als „Naturzwecke“ und meine damit, „dass an ihnen objektive Zweckmäßigkeit beobachtet werden“ könne und er weise „explizit ab, dass ihnen ein Zweck-an-sich-Sein im Sinne eines realen Naturzwecks zukomme“ (S. 36 ff.).

Marcuse versus Kant wird fortgeführt im Kapitel Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Kant und im Kapitalismus – Marcuses Revolution der Denkungsart. Wie gesehen, sind „Naturwesen (…) von vernünftiger Freiheit und Vernunft-Moralität ausgeschlossen. Selbstzweck-Sein kann ihnen nicht zukommen, während auf der anderen Seite die Moralität objektiv in der Autonomie der Vernunft gründet und zur Verwirklichung aufgefordert ist.“ Dieses Selbstzweck-Sein sei aber in „zynischer und perfider Weise vollkommen verwirklicht mit dem Kapital“, dem die Mehrwertproduktion „Selbstzweck par excellence“ ist und wo mit der „Aussaugung fremder Mehrarbeit der so hochgehaltenen Moralität perfekt widersprochen wird“ (S. 39). Marcuse wendet dagegen ein, dass sich mit dieser Kantschen Argumentation alles vereinbaren lasse, was eine kapitalistisch-industrielle Landwirtschaft mit Tieren und Pflanzen anstelle und darüber hinaus „als ein Schritt hin auf dem Weg zur Verwirklichung der (moralischen) Freiheit ausgegeben werden“ kann. Die Funktionalisierung von Lebewesen „für den Kapitalzweck als Unterdrückung eines Moments von Freiheit in diesen Lebewesen, ohne welche Freiheit die Freiheit des Menschen keine ist“, sei demgegenüber zu entschlüsseln und der Marxsche kategorische Imperativ müsste demnach heute lauten: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen ein als Zweck an sich selbst zu achtendes Lebewesen (…) ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist oder dazu gemacht wurde. In der unterdrückten Kreatur (…) erkennen die Menschen auch ihre eigene Unterdrückung.“ Und Menschen, bemerkt der Autor vorher, „die sich von der Herrschaft des Kapitals befreien wollen, sehen in dem verstümmelten Tier durch dessen Verstümmelung hindurch einen Zweck an sich selbst, welches Zweck-an-sich-selbst-Sein letztlich im Zweck-an-sich-selbst-Sein des Menschen gründet“ (S. 41 f.). Weiter wird gezeigt, dass mit Kants Begriff der Herrenlosigkeit und zentral dem „‚Erlaubnißgesetz‘“ das Privateigentum philosophisch gerechtfertigt wird und auch, wie dadurch ebenso gerechtfertigt ist, dass der Eigentümer mit „Lebewesen, wenn sie sein Eigentum sind, alles machen (kann), was im Sinne der Kapitalrendite zweckmäßig ist.“ Dagegen sei mit Marcuse ein – revolutionäres – Erlaubnisgesetz zu setzen, nämlich: „Die Natur darf Natur sein!“, was heißt, dass Naturwesen gemäß ihrem Eidos Naturwesen sein dürfen oder „modern formuliert – sie dürfen artgemäß in ihren Populationen leben. Die Natur darf Zweck an sich sein!“, und nur wenn das „Privateigentum an der Natur und insbesondere an Naturwesen abgeschafft worden ist, wird es möglich sein, dem (neuen) Erlaubnisgesetz, dass die Natur Natur sein darf, Geltung zu verschaffen.“ Dabei betone Marcuse, „dass die Befreiung der Natur und die Befreiung des Menschen vom Kapitalismus zwei Seiten ein und desselben Kampfes um die Befreiung sind“ (S. 45 f.)

Bereits bis hierher lässt sich resümieren, was im Folgenden (noch) deutlicher ausgewiesen wird: Befreiung der Natur kann nur meinen, Natur von dem, was unter bestimmten historischen Bedingungen und hier unter dem Diktat kapitalistischer Verwertung aus ihr gemacht wurde, zu befreien und geht nur als gleichzeitige Befreiung der ausgebeuteten und dem Kapitalzweck unterworfenen Menschen und der Natur. Ruschig entwickelt ausgehend von Marcuse seine Beweisführung weiter zunächst mit „Die Befreiung der Natur – Anknüpfungspunkte bei Marx“. Für Marcuse, dabei nicht vom „Ziel des Kommunismus“ (S. 47) abstrahierend, ist die mit der Aufhebung des Privateigentums verknüpfte „vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften“ (Marx) Angelpunkt, nämlich den „Reichtum der menschlichen Sinnlichkeit gegen die Zurichtung durch die bürgerliche Gesellschaft zu entwickeln“ (S. 48), auch ästhetische Sensibilität, Grundlage dafür, ein anderes „Verhältnis zur Natur“ zu entwickeln, Voraussetzung für „eine menschliche Aneignung der Natur“, was eben „veränderte menschliche Sinne“ voraussetze (S. 49 f.).

Diese Form der Aneignung der Natur habe es laut Marx und im Anschluss Marcuse in der bisherigen menschlichen Geschichte nicht gegeben. Die Überschrift, „Die ‚menschliche Aneignung der Natur‘ setzt die Anerkennung der Natur als Träger ‚objektiver Werte‘ voraus“, nimmt als bündige Antwort vorweg, was Ruschig dann erklärt. Wofür Marcuse in die metaphysische Ecke gestellt wurde oder geziehen wurde, hinter die „Objektivität der modernen Naturwissenschaften“ (S. 52) zurückzufallen, die Natur sei „als Subjekt-Objekt“ zu begreifen, als „Kosmos mit eigenen Möglichkeiten“, Möglichkeiten, die auch als „Träger objektiver Werte“ zu betrachten sind, so Marcuse (S. 52 f.), exemplifiziert Ruschig (wie häufig in seinem Buch und immer erhellend) an der kapitalistisch organisierten Tierhaltung, hier Kälbern und Hühnern, die den „Zweck ihres Leben“ setzt, „der jenem vormaligen Zweck an sich eines Huhns, welcher mehr beinhaltet als bloße Selbst- und Arterhaltung, überlagert oder verdrängt.“ Nochmals wird hervorgekehrt, was das „eidetische Moment“ bedeutet, das anzuerkennen ist, „ihr Existieren“ – das von Lebewesen – „als ansichseiende Naturzwecke ist für die Existenz des Menschen wesentlich, i.e. für die menschliche Aneignung der Natur, in welcher Aneignungsweise die Daseinsweise des Menschen sich verwirklicht“ (S. 53 ff.).

Das eidetische Moment ist wichtiger Bezugspunkt für Ruschigs Argumentation und bleibt es für den Fortgang, insbesondere für die Frage nach oder um Moralität. Eine Antwort lautet: „Es ergibt sich der moralische Imperativ, das Zweck-an-sich-Sein der Lebewesen nicht bloß als Mittel zu benutzen, sondern zugleich auch als Zweck zu achten“ (S. 59). Der Autor titelt: Die ‚menschliche Aneignung der Natur‘ setzt die Anerkennung der Natur als Träger ‚objektiver Werte‘ voraus. In kritischer Aufnahme von Aristoteles und Kant zeigt er, wobei er (durchaus sinnvoll beispielhaft) die Begriffe „‚Hausschweinheit‘“ oder „‚Wiesenschaumkrautheit‘“ konstruiert, dass „deren Leben (deren Zweck-an-sich-Sein) nicht ohne moralische Bedeutung“ ist, da es zur „Daseinsweise der Menschen als vernünftige Naturwesen“ gehöre, dass sie „nicht für sich und vollkommen unabhängig von anderen Lebewesen und Arten leben können.“ Daraus folge: „Ist nun moralisch geboten, die vernünftige Natur des Menschen anzuerkennen, dann ist, zugleich auch moralisch geboten, das Zweck-an-sich-Sein dieser Populationen/​Arten gleichermaßen wie die Natur des Menschen anzuerkennen“, was als „erweiterte(r) moralischer(r) Imperativ“ gebiete, „die vorhandenen Populationen/​Arten aufgrund ihres eidetischen Moments zu achten“, worauf das Kapital keine Rücksicht nehme, mehr noch, „es geht zum Angriff auf das artspezifische Leben über“ (S. 58 f.).

Philosophisch (und belangvoll für emanzipatorische politische Praxis) wird von Ruschig der Begriff Eidos fruchtbar gemacht und in diesem Kapitel zudem das von Plato herkommende ‚Wiedererinnern‘ wie der auf Descartes zurückgehende Begriff der ‚eingeborenen Ideen‘, dessen ‚idealistischen‘ Gehalt Marcuse für seine auf Praxis zielende Theorie neu bestimmt.

Welchen Anteil hat das Subjekt an den ‚objektiven Werten‘ in der Natur? - Marcuses Aktualisierung der Lehre von der Wiedererinnerung – Wiedererinnerung an ‚eingeborene Ideen‘ – Der idealistische Kern des dialektischen Materialismus. Die Theorie, Erkenntnis sei Wiedererinnerung, die wahren Formen (Ideen) der empirischen seien nach Plato von den empirisch daseienden Dingen zu unterscheiden, habe, so Marcuse, Marx in der „Vision der Befreiung der Natur“ aufgenommen, und diese „idealistische Lehre“ habe „einen materialistischen Kern“; es komme auf das „(Wieder-)Entdecken der zuweilen äußerst verstellten wahren Formen“ an (S. 62 f.), was der Autor an Zucht und Haltung der „profitabelsten Legehennenrassen“ vor Augen führt, die unter „solchen Bedingungen (…) ihre Instinkte“ verlieren (S. 62, Anm. 44). Es geht nicht um eine „phantasierte ursprüngliche Natur“, sondern um die dem „Kapitalzweck ausgesetzt(e) und unterworfen(e)“, wie sie „verformt, demoliert, partiell zerstört“ ist, deren „Kräfte (…) verzerrt (werden), ihre Potenziale“ unterdrückt werden (S. 63 f.). Philosophisch werde das „wegzudebattieren“ versucht. Das Problem jedoch beginne, wenn an einem „An-sich-Bestimmtsein der Natur“ festgehalten werde (S. 65). Marcuse argumentiert und Ruschig erläutert weitergehend, durch Wiedererinnerung an die vormaligen Formen könnten wir „erfahren, was der Natur angetan wurde und immer noch weiter angetan wird“, und diese „Erfahrung“ ließe „uns erschrecken“ und mache uns, „wenn wir über die Gründe nachdenken, Courage. Und insofern ist diese Erfahrung ein mächtiger praktischer Impuls“ (S. 66). Und wir sind auch hier durch das Kapital „in unserer Existenzweise“ betroffen, ob Tier, ob Pflanze, sie können nicht „Bundesgenossen im Kampf gegen das Kapital“ werden, „Leidensgenossen sind sie allemal.“ Es geht um die „Erfahrung des Mitleidens“, die nur zu machen ist, „wenn wir uns der ‚eingeborenen Ideen‘ erinnern“, was Marcuse „im Grundsatz“ aufgreife (S. 68 f.). Ruschig erklärt und zitiert dabei Marcuse: „Die eingeborenen Ideen sind, da sie dem Menschen als geschichtlichem Wesen innewohnen, ‚selbst geschichtlich, weil die Möglichkeiten der Befreiung immer und überall geschichtliche Möglichkeiten sind‘“ (S. 70), womit Marcuse „in diesem entscheidenden Punkt (…) deutlich und unmißverständlich über Plato, Aristoteles, Descartes u.a.“ hinausgehe (ebd., Anm. 51). Es bleibe „bei dem prinzipiellen Chorismos zwischen den ‚eingeborenen Ideen‘ und der Empirie der natürlichen Lebewesen.“ Doch „Phantasie“ als „Erkenntnis“, so Marcuse, bewahre „das Bewußtsein der unauflöslichen Spannung zwischen Idee und Realität, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit“, eine Erfahrung, die das Erkennen der Gründe dieser Spannung möglich mache, wovon die Befreiung vom Kapitalismus als Möglichkeit abhänge. Der idealistische Kern eines richtig verstandenen dialektischen Materialismus bestehe aus einem „erheblich modifizierten, auf die historische Situation der Befreiung vom Kapitalismus bezogenen Begriff der Freiheit“ (S. 71). Ruschig im Anschluss an Marcuses Freiheits-Begriff: „Eine ausschließlich empirisch bestimmte Freiheit, ohne transzendentalen Gehalt, ohne Hinblick auf ‚eingeborene Ideen‘ und ohne Zielsetzung der Befreiung von kapitalistischer Herrschaft – eine solche Freiheit ist gar keine Freiheit“ (S. 74).

Natur als in einem „metaphysischen Sinne Zwecke enthaltend“, als „selbstständiges Subjekt“, diese Vorstellung sei „mit der Aufklärung unwiederbringlich dahin“ (S. 75). Dass und wie Marcuse über Kant hinausgeht (beim ‚Naturschönen‘), dass die „Anerkennung jenes Zweck-an-sich-Seins der Lebewesen – sie als Arten Arten sein zu lassen – moralisch geboten“ ist, dass es darüber hinaus eine „Herrschaft des Kapitals über die Natur und insbesondere über die in einem eidetischen Sinne eigenständigen Lebewesen“ gibt (S. 76 f.), wird im Kapitel „Über das Gemeinsame der revolutionären Befreiung der Natur von der Herrschaft des Kapitals und der ästhetischen Erfahrung mit der Natur“ thematisiert, was wesentlich auf letztgenannte „ästhetische Sphäre“ abhebt (S. 78). Beim „Naturschönen wird die Schönheit, indem sie gesehen wird, erst hergestellt – durch unsere reflektierende Tätigkeit“, was durch „Kultur geprägt“ sei, sie einen „Zeitindex ihrer Wahrheit“ habe, worin die Differenz zu Kant ersichtlich werde (S. 80 f.). Ein „‚Vermögen‘ (= eine Potenzialität der Natur)“, ein „intelligibles Freiheitspotenzial in der Natur“, dies liefere als „konkrete Erfahrung (…) die ästhetische Sphäre“ (S. 77 f.), wenn mittels ihrer das „Naturschöne“ ‚sinnfällig‘ wird und somit „auf ein ‚Vermögen der Natur‘ geschlossen werden kann“. Für die „revolutionäre Tätigkeit“ sollte dann gelten, „dass daraus, dass sie die Leiden der geschundenen Natur zur Sprache bringt, auf ein ‚Vermögen der Natur‘, eine wie immer auch sprachlose und blinde Freiheitsqualität der Natur geschlossen werden kann“ (S. 81). Insoweit sei dann eine (falls noch mögliche) „Rückgewinnung des Verlorenen (…) Motiv für die Befreiung der Natur“, was heiße, „sich dagegen zu wehren, dass mit der Zerstörung der Natur etwas dem Subjekt Wesentliches und ihm gerade nicht Äußerliches zerstört wurde.“ Ruschig kann auf seiner beweisführenden Argumentation aufsatteln, dass „zur Daseinsweise des Menschen die Anerkennung der Art-Formen (…) als Zwecke an sich gehört“. Der „menschlichen Arbeit“ und der „‚menschlichen Aneignung‘ der Natur“ ist aufgegeben, „die Natur auch auf deren Potenzial hin zur Schönheit zu bearbeiten oder die Deformation dieses Potenzials hin zur Entstellung (…) zu unterlassen. Deswegen hat die Befreiung der Natur auch eine ästhetische Seite; es gibt eine ‚Ästhetik der Befreiung‘. Schönheit ist eine ‚Form‘ der Freiheit“ (S. 83 f.).

Vom Gedicht „Wünschelrute“ des Romantikers von Eichendorff als Bezugspunkt ausgehend entwickelt der Autor seine Argumente im Kapitel „Was die Natur vergebens vermöchte, die Revolution kann ihr dazu verhelfen – Gibt es eine Pflicht, die Natur zu befreien?“, was manch eine/r nach der Lektüre des Buches bis zu dieser Stelle schon im Vorab wird bejahen wollen. Ruschig hebt das, was „ins Überschwengliche hinausschweift“ (Kant), in Eichendorffs Gedicht hervor und erklärt, „das Subjekt (erfährt) – und darin liegt die Wahrheit des überschwenglichen Ausdrückens, dass es durch seine Tätigkeit und mit diesen Gegenständen etwas hervorbringen kann, was nicht nichts ist“, was heiße, dass es „(a)llein die Kunst vermag (…), zum Ausdruck zu bringen, was die Natur nicht sagen kann. Wenn die Kunst dann sagt, was die Natur nicht sagen kann, dann findet sie einen Ausdruck, der seinen überschwenglichen Inhalt weder verleugnen noch entfernen kann“ (S. 86 ff.). Somit wird „die Natur zunächst einmal in dem Subjekt befreit, wenn dieses sich vornimmt, die Natur zu befreien.“ Bevor er den Kantschen kategorischen Imperativ wie vorher ausgewiesen moralisch erweitert, weist der Autor darauf hin, dass diese „Befreiung nicht ohne Natur stattfinden (kann; B.K.). Denn ansonsten verlöre die ‚Befreiung der Natur‘ ihren Inhalt“. „Allein die revolutionäre Tätigkeit der Menschen vermag es, ‚Befreiung der Natur‘ zum Ausdruck, also zum Sprechen zu bringen, etwas, was die Natur aus sich heraus nicht vermöchte.“ (S. 89 f.) Jener moralisch erweiterte Imperativ, die Arten nicht nur als Mittel, sondern als je besondere Zwecke zu achten, gebietet es dann, das kapitalistische Produktionsverhältnis zu beseitigen, da es in die „substantielle Bestimmtheit der Arten, nämlich in dessen eidetische Formen, eingreift und diese demoliert, wenn nicht gar zerstört“. Dem erweiterten moralischen Imperativ entspringt „ein Impuls, der ein vernunftgewirktes Gefühl ist, die Lebewesen von der sie beherrschenden kapitalistischen Nutzung zu befreien – dies um der Menschen willen, um deren ‚Daseinsweise‘ in der Natur willen und damit um der deformierten und gequälten Lebewesen willen“ (S. 91). Der Impuls, eine das „Überschwengliche (…) bewältigende, weil begreifende Vernunft“, und dies auf der Folie entwickelter und ganz anders zu nutzender Produktivkräfte, „der Natur nun endlich dazu zu verhelfen, ihre Augen aufzuschlagen, heißt: Revolution!“ (S. 92 f.)

Im Nachwort „Der Widerspruch zwischen dem Kapital und der Natur“ ist nicht nur auf die Geschichte der Thematik um Zerstörung von ‚Natur und Umwelt‘ seit den frühen siebziger Jahren, dem Bericht des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“ bis zu Greta Thunberg und der heutigen Fridays for Future-(Jugend-)Bewegung und die Behandlung der ökologischen Frage innerhalb der Linken verwiesen, sondern der Autor fokussiert auf die Fragen, ob „das Kapital im Verhältnis des Widerspruchs zur Natur“ steht oder „das, was an Naturzerstörung gegenwärtig geschieht, aus dem Gegensatz des Kapitals zur Natur“ resultiert (S. 100). An diese politischen Bewegungen (kritisch) anzuknüpfen, ist sinnvoll, weil für die damalige (Mainstream-)Linke zu der Zeit, als Marcuses „Konterrevolution und Revolte“ erschien und auch danach noch, die „ökologische Frage eine untergeordnete Rolle“ spielte, weil die „Vorstellung einer Rangordnung der Widersprüche im Kapitalismus“ dominierte. Marcuse brach mit diesem Dogma von den „hierarchisch angeordneten und dem Hauptwiderspruch untergeordneten Nebenwidersprüchen“ sowie mit einem weiteren, an Hegel anschließenden Dogma, es gebe innerhalb des Herrschaftsverhältnisses ein herrschendes und ein beherrschtes Subjekt und durch einen gewaltsamen Akt der Unterwerfung werde „das eine Freiheitssubjekt zum Herrn, das andere zum Knecht“ (S. 96 f.). Demnach, da nicht ‚Subjekt‘, könne es keine Herrschaft über die Natur geben. Marcuse widerspricht, allerdings mit einer Tatsachenbehauptung, für welche die „systematische Begründung“ fehlte: Ob der Herrschaft des Kapitals über die Natur „gibt es eine unterdrückte Natur“ (S. 98). Dass sie ‚geschädigt‘ ist, wird von Kapital und Politik nicht bestritten, zugleich aber darauf gesetzt, dass allein „die kapitalistische Wirtschaftsweise (…) in der Lage (sei), das zu beseitigen oder ins Gegenteil zu wenden, was sie selbst zuvor angerichtet habe“. Eine „grün angestrichene Zukunft“ wird als „neueste Ware“ feilgeboten. Damit wird unterstellt, nicht zu leugnende Zerstörungen der Natur seien als „nicht beabsichtigtes Unglück zu beurteilen“ oder Verkettung unglücklicher Umstände. Das ist nicht haltbar, „wenn diese Zerstörung durch Ursachen bewirkt wurde, welche im Strukturkern der kapitalistischen Produktionsweise gründen“ (S. 95) Die bloße Behauptung, „der Angriff des Kapitals auf die Natur sei unvermeidlich“, reicht nicht hin: „Eine Begründung dafür fehlte, fehlt auch bei Marcuse“ (S. 100).

Was auf Marcuses Grabstein steht, „Weitermachen!“, Ruschig folgt dem in seinem ‚Weiterdenken‘. Dazu schließt er an „Basis-Elemente der Marxschen Theorie“ an (S. 100), und zwar in seinem abschließenden Kapitel Systematische Skizze zur Notwendigkeit des Widerspruchs zwischen dem Kapital und der Natur und zu dessen Verlaufsform. Die vorangestellte These, die er in sechs Unterpunkten resp. Schritten ausbuchstabiert, lautet: „Das Kapital, das die Natur benutzt und sie, indem es diese sich aneignet, immer weiter fortschreitend umgestaltet, setzt sich eben dadurch mit Notwendigkeit in das Verhältnis des Widerspruchs zu dieser Natur, und zwar mit fortschreitender Ausbeutung der Natur in das Verhältnis eines prozessierenden Widerspruchs“ (S. 101). Auf den Gegenstand bezogen thematisiert Ruschig, und zwar unter folgenden Zwischenüberschriften, die Abstraktion vom Gebrauchswert, die kapitalistische Organisation der menschlichen Arbeit, den Widerspruch zwischen dem organisierenden Prinzip der Produktion und dem natürlichen Material der Produktion, dem Angriff des Kapitals auf die Natur, das kapitalistische Grundeigentum und die Natur, schließlich die Befreiung der Natur von der Herrschaft des Kapitals. Hervorgehoben sei, was der Autor im Anschluss an ein Marx-Zitat zum „processirende(n) Widerspruch“ ausführt, dass ein „Ausgang“ aus diesem Widerspruch nur möglich ist, „wenn diejenigen, die den Reichtum produzieren, sich ihres Verhältnisses zum Kapital bewußt werden, die riesigen Gesellschaftskräfte der Verfügungskraft des Kapitals entreißen, das Kapitalverhältnis insgesamt abschaffen und damit einhergehend die Natur von ihrer Beherrschung durch das Kapital befreien. Nur so, also nur durch die Befreiung der Natur von der Herrschaft des Kapitals, kann das Fortschreiten der Naturzerstörung aufgehalten werden“ (S. 107).

Diskussion

Nach Lektüre des Buches werden (umwelt-)politisch interessierte oder engagierte Leser*innen vermutlich weniger kontrovers, dafür aber über einzelne Argumente Ruschigs für den Zweck eigenen Verständnisses diskutieren wollen, ganz einfach darum, weil sie innerhalb der Debatten um Umweltzerstörung neu sind und auf den Punkt bringen, was schlussendliche Ursache ist. Die zahlreichen, immer sinnvoll und gut nachvollziehbaren, plausibilisierenden Beispiele des Autors, der offenkundig auch auf dem neusten Stand der biologischen Forschung ist, werden dabei hilfreiche Bezugspunkte sein. Es hilft, wenn man mit Marx nicht nur oberflächlich vertraut ist und auch mit der Kritischen Theorie. Es hilft, ist jedoch kein Muss. Man muss Marcuses „Konterrevolution und Revolte“ und darin das Kapitel „Natur und Revolution“ nicht gelesen haben, äußerst genau gibt der Autor die Argumente dieses für die damalige Studentenbewegung zusammen mit Adorno und Horkheimer wichtigen Theoretikers wieder und lässt sich auf sie ein. Worüber man sich (u.a.) für den Zweck des Verständnisses wird austauschen können, sind die „eidetischen Momente“, ist der Begriff der „Moralität“, sind die „Wiedererinnerungen an ‚eingeborene Ideen‘“ und der „idealistische Kern des dialektischen Materialismus“, nicht zuletzt die „ästhetischen Erfahrungen“. Dabei ist nicht davon abzusehen, wie feinnervig kritisch der Autor Kant aufnimmt, um zu zeigen, und zwar mit Marcuse, dass das Verhältnis von Natur und Freiheit entschieden anders als in der klassischen deutschen Philosophie zu fassen ist, dies insbesondere für eine Theorie, die erkennt, dass das Kapitalverhältnis (bei Strafe des Untergangs) zu überwinden ist. Die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Begriffe von Natur und Freiheit sind nicht nur obsolet, sondern müssen in einer historischen Situation der Befreiung von der kapitalistischen Produktionsweise anders gefasst werden (was auf jenen „idealistischen Kern“ abhebt). „In aller Munde ist die Sorge um die Natur“ (S. 7), lautet Ruschigs erster Satz, was sicher auch, aber nicht alleiniger Grund ist, dass er sich mit dem kurzen, in der Erstausgabe dreiundzwanzig Seiten umfassenden Kapitel von Marcuses „Konterrevolution und Revolte“ auseinandersetzt, sondern es geht ihm um „Begründung“, um die Punkte, die bei Marcuse nicht zu finden sind, was zwingend für emanzipatorische politische Praxis anleitend sein muss.

Was zu diskutieren vermutlich unfruchtbar bleibt, wie Neukantianer oder versprengte linkshegelianische Spätheimkehrer Ruschigs Text kritisieren werden, weil das der Autor kurz und bündig vorweggenommen hat. Was gerüstet mit den im Buch vorgetragenen Argumenten und der Analyse zugrundeliegender Ursache durchaus diskutiert werden kann, sind nicht nur Versprechungen seitens Staat und Politik oder anderer Mundwalte von Kapitalinteressen, sondern warnende Einlassungen oder gar Verbesserungsvorschläge, wie sie seitens einer sich kritisch verstehenden Soziologie und oftmals auch von Linken ein- und vorgebracht werden. Das falsche Hoffnung machende Gerede von einem auf Nachhaltigkeit getrimmten oder ökologisch domestizierten Kapitalismus ist dann schnell zerbröselt. Unter dem Strich wäre ein Kapitalismus, der keine Profite mehr macht, folglich auch einer, der nicht mehr nur sein Mäntelchen nach dem grünen Wind hängt, keiner mehr.

Fazit

Die Argumentationsstränge des Autors sind derart konzis und gleichzeitig in einer bestechenden Weise nachvollziehbar, dass es kaum möglich ist, den Inhalt des Buches ohne Substanzverlust wiederzugeben. So zu philosophieren zeigt, dass es im Sinne der 11. Feuerbachthese Marxens darum geht, die Welt zu verändern, was heißt, den Kapitalismus zu überwinden, der die „Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx). Daher ist das Buch nicht nur Philosophie- und Soziologiestudent*innen zu empfehlen, auch nicht nur Aktivist*innen im Kampf gegen Natur- und Umweltzerstörung, sondern allen, die aufgeklärt sein möchten, um, was zu hoffen bleibt, zielführend in den Prozess der Überwindung herrschender Verhältnisse einzugreifen.

Rezension von
Dr. Burkhard Kastenbutt
Erziehungs- und Sozialwissenschaftler, Leiter des Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung. Dozent am Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück. Zahlreiche Publikationen zum Thema „Sucht“ in Büchern und Fachzeitschriften.
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Zitiervorschlag
Burkhard Kastenbutt. Rezension vom 11.08.2020 zu: Ulrich Ruschig: Die Befreiung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse. PapyRossa Verlag (Köln) 2020. ISBN 978-3-89438-741-9. Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 291. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27344.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.


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