Sarah Spiekermann: Digitale Ethik
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 15.01.2021
Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert. Droemer Knaur (München) 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-426-27736-2. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Die Digitalisierung hält in alle Bereiche unseres Lebens Einzug. Diese technologischen Veränderungen sind tiefgreifend. Das Buch beschreibt individuelle, ökonomische und technische Bedingungen für einen menschgerechten Fortschritt im digitalen Zeitalter.
Autorin
Prof. Dr. Sarah Spiekermann ist deutsch-österreichische Wirtschaftsinformatikerin und leitet seit 2009 den Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihr beruflicher Werdegang begann in den 1990er-Jahren in Unternehmen des Silikon Valley. Sie hat viele Jahre in Gremien der EU-Kommission und der OECD mitgearbeitet und ist im Beirat der österreichischen Digitalisierungsagentur.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst acht Kapitel mit insgesamt rund 300 Seiten.
Kapitel 1 bietet einen Einstieg in die Thematik, indem die Autorin über ihre Berufserfahrungen im Silikon Valley berichtet. 1996, im Alter von 22 Jahren, hat sie das „digitale Fieber“ ergriffen, sie stieg beim Unternehmen 3Com ein. 3Com war seinerzeit Marktführer im Bereich der ersten Netzwerktechnologien. Es begannen New-Economy-Jahre in verschiedenen Unternehmen. Nach der Promotion in Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität Berlin war Sarah Spiekermann 2001 eigentlich auf dem Weg für ein Postdoc-Jahr nach Berkley zum Verhaltensökonomen Dan Ariely, der ebenso wie sie an der Frage interessiert war „Wie können wir Künstliche Intelligenz schaffen, die uns Menschen bei unseren täglichen Entscheidungen sinnvoll unterstützen?“ Doch dann ereigneten sich die Anschläge am 11. September 2001 und das „politisch visionäre Thema meines Forschungsantrags (…) war nicht mehr opportun: Ich hatte beantragt, mich mit dem Wert der digitalen Privatheit (…) zu beschäftigen. Wie können wir Künstliche Intelligenzen so gestalten, dass sie zwar unsere Freunde werden, aber unsere Privatheit dabei nicht verletzen?“ (S. 14). Nun ging es um die Identifizierung von Terroristen mittels Telekommunikations- und Internetdaten. „Und diese technische Fähigkeit, Verbraucherdaten für andere Zwecke als das Marketing zu nutzen, legte wahrscheinlich einen wichtigen Grundstein dafür, dass seitdem das damals noch unschuldige Internet in eine gigantische Überwachungsinfrastruktur verwandelt worden ist. Damit zerbrach die ungetrübte Vision von etwas Gutem und Schönem, die die New Economy und das aufstrebende Internet bis dahin geprägt hatte.“ (S. 14f).
In Kapitel 2 „Menschengerechter Fortschritt durch Wertethik“ stellt die Autorin die Frage „Wie könnte eine digital durchwobene Welt der Zukunft aussehen, in der wir wertvollen und menschengerechten Fortschritt erzielen?“ (S. 29). Sie stellt die These auf, dass „wir eine neue Technologie- und Unternehmenskultur brauchen, die beim verantwortlichen Handeln jedes Einzelnen ansetzt.“ (S. 29). Die Einführung in dieses Kapitel bildet eine Aufgabe, die die Studierenden von Spiekermann im Fach Innovationsmanagement erhalten. Eine Produkt-Roadmap (= Plan für die technische Weiterentwicklung einer Firma) für den fiktiven Essens-Lieferdienst FoodIS soll erstellt werden. Roadmaps folgen zumeist dem Gebot „neu = gut, digital = besser“. Aufgabe der Studierenden ist es, das IT-System vom Webauftritt bis zur Handy-App der Fahrradkuriere zu entwickeln. Resümee der Autorin: Die Studierenden überlegen weder, ob die App überhaupt nötig ist, noch, wie die Folgen für die Beteiligten sind (z.B. für den Kurier: „mein Chef ist eine App“). Sie stellt den Studierenden sodann drei Frage (vgl. S. 33):
- Wie wirkt sich die Technik, die erdacht wurde auf die Stakeholder – Kunden, Kuriere – aus? (Entwicklung von Tugend)
- Welche menschlichen, sozialen, ökonomischen Werte sind positiv wie negativ durch den neuen Dienst tangiert? (Utilitarismus)
- Welche persönlichen Maximen/Wertprioritäten sind durch den Service betroffen, die aus eurer Sicht so wichtig sind, dass ihr sie gerne in unserer Gesellschaft bewahren möchtet? (Kategorischer Imperativ)
Das Fallbeispiel und die abschließenden „philosophischen Fragen zu einer neuen Esskultur“ führen in die Debatte, um die es Sarah Spiekermann geht, die Philosophie vom guten Handeln. Nicht, wie sie schreibt, um „Unternehmen zu erklären, wie sie mit ein paar ethischen Feigenblättern noch mehr Geld mit der Digitalisierung machen können (…). [Sondern,] wie wir auf allen Ebenen der Gesellschaft besser und weiser mit dem Digitalen umgehen sollten, um für eine wertvollere Zukunft einzutreten“ (S. 9). Sie bezeichnet ihre Zielfunktion als „ein gutes Leben, die Eudaimonia, bei der das Geld nur eine Randbedingung ist“ (S. 9). Abschnitt 2.1 widmet sich dann dem Wertesystem. Die Autorin bezieht sich dabei die materiale Wertethik des deutschen Philosophen und Soziologen Max Scheler. Wertträger sind nach Spiekermann „Firmen mit Herz“. „Letztlich werden es bei den FoodIS-Managern die Tugenden des Vertrauens, des Mutes, des ökonomischen Verzichts und der Sorge sein, (…); ob sie ihren Kurieren also dazu verhelfen, Werte wie die Freiheit und Privatheit auszuleben (…) und ihre Gesundheit zu fördern, oder ob sie daran nicht interessiert sind; ob sie nur an ökonomischer Effizienz orientiert sind (…)“ (S. 55).
Kapitel 3 trägt die Überschrift „Zur Natur des Digitalen und zu den Werten“. Spiekermann konstatiert in diesem Kapitel, dass es nicht reicht, auf der Ebene der technischen Anforderungen zu bleiben, sondern dass es notwendig ist, sich mit dem „Digitalen an sich auseinanderzusetzen, mit den Eigenschaften des digitalen Stoffs und seinen fundamentalen Wechselwirkungen mit unseren Werten.“ (S. 79). Die Autorin spricht von der „Big-Data-Illusion“, da die reale Welt so komplex und vielschichtig ist, dass sie auch durch die beste Datenanalyse nicht abgebildet werden kann, d.h. sie bleibt stets unvollständig. Eine weitere Herausforderung ist die Fehleranfälligkeit von Softwaresystemen: einerseits sind sie präziser, sehen mehr Details, können fehlerfrei wiederholen und machen keine Müdigkeitsfehler. Andererseits aber machen sie „ihre eigenen Fehler“ (z.B. Code- sowie Daten-Fehler).
Um „Unser Fortschrittsdenken“ geht es in Kapitel 4. Neben vielen positiven Werten durch die Digitalisierung (z.B. neue Zeitfreiräume, erhöhte Flexibilität, Wissenszugang, soziale Netzwerk) gibt es auch Werteinbußen (z.B. Zeitverlust, Passivität, Respektlosigkeit, Präsenzverlust). Die Zukunftsvisionen der IT-Industrie fokussieren immer neue Technologien, alles Denkbare soll automatisiert werden – die Frage nach dem „Warum“ wird dabei vernachlässigt. Sarah Spiekermann geht dabei bis ins Hochmittelalter zurück, den Ursprüngen des heutigen Fortschrittdenkens, so die Autorin.
Die „Digitale Ethik in der Praxis“ ist Thema des Kapitels 5. Der größte – rund 420.000 Mitglieder – und älteste Ingenieursverband der Welt IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) hat die bislang umfassendste Initiative für „ethisch angepasstes Design“ begründet, an der 1000 Expert*innen beteiligt waren. Das Ergebnis ist eine Liste von Wertprinzipien. Dazu gehört u.a., dass „IT-Entwickler und deren Auftragsorganisationen die Menschenrechte berücksichtigen sollten, wie sie etwa in der UN-Menschenrechtskonvention festhalten sind. (…) Negative Werte wie Willkür und Diskriminierung oder Untergrabung von Privatheit sollten vermieden werden“ (S. 170). Im Zentrum des Verbands steht die Grundhaltung, dass Technik das Wohlbefinden der Menschen verbessern soll. Weiterhin entwirft Spiekermann in diesem Kapitel eine Bedürfnispyramide nach Maslow (US-amerikanischer Psychologe) für die digitale Welt (vgl. S. 173f).
Kapitel 6 widmet sich dem „Wissen im digitalen Zeitalter“. Die Autorin plädiert dafür, dass das Langzeitgedächtnis auch im digitalen Zeitalter relevant ist. „Wenn also jemand meint, er bräuchte sein Langzeitgedächtnis nicht mehr ausbilden, weil er ja alles Relevante im Internet findet, dann entsprich das in etwa der Argumentation, man müsse ja selbst nicht mehr Fußball spielen, wenn sich Fußball auch im Fernsehen ansehen kann.“ (S. 198). Die These von Spiekermann ist, dass sich die persönliche Identität schwächt, weil weniger Wissen vorhanden ist, auf dem aufgebaut werden kann.
Die „Freiheit im digitalen Zeitalter“ wird in Kapitel 7 aufgegriffen. Die Autorin stellt fest, dass wir aufgrund der Technologien des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt heute in einem der freiesten Zeitalter der Menschengeschichte leben (vgl. S. 232). Gleichzeitig konstatiert sie: „Wir fühlen uns frei von vielem, aber so mancher fragt sich nun: frei wofür? Zum Wert der Freiheit gehört auch, das Richtige wollen zu können; zu wissen, wozu man seine Freiheit sinnvoll einsetzt.“ (S. 224).
Das abschließende Kapitel 8 ist überschrieben mit „Ich und der Fortschritt im digitalen Zeitalter“. Es geht der Frage nach „Was kann ich als Einzelperson tun, um an einem menschgerechten und vertrauenswürdigen Fortschritt konkret mitwirken zu können?“ (S. 259). Drei Möglichkeiten respektive Schritte werden von Sarah Spiekermann formuliert:
Der erste Schritt ist die Reflexion über die eigenen Werteziele. Nach der Selbstreflexion ist es möglich, Werteprioritäten zu setzen. Dazu bedarf es jedoch zunächst, als zweiten Schritt, die gefundenen Werteprioritäten besser zu verstehen. Hat man die eigenen Wertprioritäten (oder jene des Unternehmens) erkannt und verstanden, wären diese in die Praxis umzusetzen. Daraus folgt der dritte Schritt, die Arbeit an den Voraussetzungen, damit sich die definierten Werte entfalten können. Bei der Umsetzung, so die Autorin, trifft man auf die Bedeutung des Maßhaltens (z.B. die Erreichbarkeit für Kolleg*innen und Vorgesetzte reduzieren, E-Mails nur noch dreimal am Tag abrufen) sowie auf die Bedeutung von Rhythmus und Ritualen (Strukturen sind in der vernetzten Welt schwer umzusetzen, weil vieles zeitgleich auf uns zugreifen will, dies aber gilt es zu abzustellen). Technische und politische Maßnahmen, so schließt Spiekermann sind notwendig, um unsere Werteprioritäten umsetzen zu können (beispielhaft E-Mail-Filter für Junkmails)
Diskussion
Sarah Spiekermann verbindet Geisteswissenschaften und IT und führt die Leserschaft in die Digitale Ethik ein. Sie schafft es, dieses durchaus sperrige Thema mit angenehm „bodenständigen“ Beispielen zu unterlegen. Gleichzeitig ist das Buch trotz aller Kritik am Status-Quo ein optimistisches, zukunftsgewandtes Plädoyer für eben diese Ethik, oder anders gesagt „Mehr Mensch“ in der Digitalisierungsdebatte. Das Buch lohnt das Lesen auch für „Nicht-Expert*innen“. Es ist verständlich geschrieben und regt das Denken über das eigene Handeln aber auch über das Handeln in Unternehmen respektive in Institution an. Gerade in Zeiten mit Online-Lehre, Online-Beratung, Online-Bestellungen und -Lieferungen sowie Apps für jede Lebenslage eine lohnenswerte Lektüre. Menschen, die im Gesundheits- und Sozialbereich agieren sind vermutlich nicht jener Personenkreis, der sich aufgrund einer beruflichen Notwendigkeit mit der Thematik beschäftigt. In einer Zeit jedoch, in der die Digitalisierung rapide voranschreitet, erscheint es sinnvoll, sich den von der Autorin formulierten Gedanken anzunehmen und in die Arbeit einfließen zu lassen.
Fazit
Die Digitalisierung verändert unser Leben tiefgreifend. Das Buch zeigt auf, wie auf allen Ebenen der Gesellschaft – sowohl im Privaten als auch im Beruflichen – besser mit digitalen Prozessen umgegangen werden kann. Die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann hält ein Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung im Zeitalter der Digitalisierung. Sie fordert eine Technik ein, die den Menschen unterstützt, statt ihn zu beherrschen.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Campus Bremen
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Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 15.01.2021 zu:
Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert. Droemer Knaur
(München) 2019.
ISBN 978-3-426-27736-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27367.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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