Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.08.2020
Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. Hanser Berlin (Berlin) 2019. 221 Seiten. ISBN 978-3-446-26206-5. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Innere und äußere Stechuhr
Schauen wir ins Synonymwörterbuch (Duden), so erkennen wir die vielfältigen Aspekte und Imponderabilien, die zum Begriff „Arbeit“ ausgewiesen werden: Beschäftigung, Betätigung, Hantierung, Tun, Verrichtung, Anstrengung, Beanspruchung, Belastung, Mühe, Plage, Qual, Strapaze, Mühsal, Plackerei, Schinderei, Anstellung, Beruf, Berufung, Broterwerb, Profession etc. In Artikel 23 der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wird Arbeit als ein Menschenrecht ausgewiesen:
- (1) Jedermann hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit.
- (2) Alle Menschen haben ohne jede Diskriminierung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
- (3) Jedermann, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und günstige Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.
- (4) Jedermann hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.
Damit wird das Recht auf Arbeit mit der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (gleichgesetzt, die) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.
Entstehungshintergrund und Autorin
Die Plädoyers und das Eintreten für eine menschenwürdige Arbeit gehören zu den lokalen und globalen, sozialen und anthropologischen Forderungen nach dem guten, gelingenden Leben (vgl. dazu auch: Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​17372.php). Nicht selten werden Fragen nach dem Wert der Arbeit in den Zeiten von Krisen, Umbrüchen und Paradigmenveränderungen gestellt. Es sind die PhilosophInnen, SoziologInnen, Politik- und GesellschaftswissenschaftlerInnen, die ein individuelles und kollektives Hab-Acht fordern (vgl. z.B. dazu auch: Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/…php).
Die an der Münchner Technischen Universität lehrende Politikwissenschaftlerin Lisa Herzog legt bereits in zweiter Auflage einen politischen Aufruf vor, mit dem sie auf die Innovations- und Veränderungsprozesse beim Arbeitsverständnis und -vollzug verweist. Sie zeigt auf, dass die öffentlichen, individuellen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen um Sinn, Gegenwart und Zukunft von Arbeit immer auch „mit Risiken der Vereinfachung, der Missverständnisse, des Aus-dem-Kontext-Reißens“ belastet und gefährdet sind. Es kommt also darauf an, dass das Verständnis von Arbeit nicht nur im Rahmen des professionellen, wissenschaftlichen Diskurses thematisiert und diskutiert wird, sondern als eine allgemeinbildende, gegenwarts- und alltagsrelevante Herausforderung für alle Menschen zu verstehen ist. Es sind nicht zuletzt die Schlagzeilen, die auf der einen Seite Hoffnungen, auf der anderen Befürchtungen erzeugen, wie z.B. Fragen, wie die Digitalisierung, die globale Ökonomisierung und Produktion, Robotik und künstliche Intelligenz die Tätigkeiten der Menschen verändern, sie erleichtern oder überflüssig machen. Es sind nicht zuletzt die Wertvorstellungen von Humanität, Solidarität, Partizipation und Mitbestimmung, die sich im Gegensatz zu den kapitalistischen, neoliberalen, ausbeuterischen Strukturen befinden und Arbeit ideologisieren.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert ihren populären Appell in sechs Kapitel.
- Im ersten geht es um allgemeine Fragen nach der „Zukunft der Arbeit: Dystopie oder Utopie?“;
- im zweiten wird nach den sozialen Motiven gefragt: „Einsame Helden oder gemeinsame Leistung?“;
- im dritten geht es um die Veränderungsprozesse: „Nicht Naturgewalt, sondern politische Aufgabe: Warum wir die digitale Arbeitswelt gestalten müssen“;
- im vierten werden „Risiko, Haftung, Verantwortung“ thematisiert und Fairness in der Arbeitswelt gefordert;
- im fünften wird „Hierarchie oder Demokratie? – Partizipation in der digitalen Arbeitswelt“ diskutiert;
- und im sechsten Kapitel geht es um die Alternative: „Homo oeconomicus oder Mensch? – Digitale Arbeit für soziale Wesen“.
Bereits die Überschriften der einzelnen Kapitel machen deutlich, dass Lisa Herzog nicht dafür plädiert, wieder zu den traditionellen Arbeitstechniken und Methoden zurückzukehren, sondern sich den Veränderungen und Entwicklungen zu stellen, sie anzunehmen und mit zu gestalten; und zwar im Sinne der politischen Philosophie: Humanes Zusammenleben so zu organisieren, dass eine gute, gelingende und gerechte lokale und globale menschliche Gesellschaft entsteht. Das ist Vision, Verlockung und Vorsatz zugleich. Ihre Argumentationen fokussieren sich also nicht an der Oblomerei und den Auffassungen, „Arbeit zu lassen und möglichst für sich zu verhindern“, sondern daran, Arbeit ihre soziale und solidarische Bedeutung für das menschliche Leben zu geben.
Das aber kann nur gelingen, wenn es gelingt, Arbeit nicht nur als ein notwendiges Übel und Last zu begreifen, sondern als soziale Grundlage einer Conditio humana zu verstehen und zu akzeptieren. Voraussetzung dafür ist das Bewusstsein, dass jede Form von gemeinschaftsstabilisierender und -fördernder Tätigkeit gleichen Wert hat. Die Rede von „hochwertiger“ und „primitiver“ Arbeit führt zu den Irrwegen, wie sie sich im kapitalistischen Wirtschaften entwickelt haben und dazu führen, dass die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden. Die Situation drückt sich aus in der von Bertolt Brecht geschilderten Begegnung von Herrn K. mit dem Kapitalisten: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah‘n sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich“. Humane, menschenwürdige, arbeitsteilige Tätigkeiten entwickeln und verändern sich entweder evolutionär oder revolutionär. In jedem Fall aber bedarf es des aktiven Tuns. Die Autorin setzt bei der Analyse der Arbeit eher auf evolutionäre Entwicklungen. Das zeigt sich auch bei der Nennung der Literatur- und Quellenhinweise, bei denen die revolutionären, kapitalismuskritischen Informations- und Forschungsmaterialien eher hintan stehen.
Doch ihr Versuch, die beiden unzulänglichen Bilder von Arbeit – einerseits die zweckbestimmte, ökonomische Tätigkeit zur Erwerbs- und Einkommensgenerierung, und anderseits die überzogene Vorstellung von Arbeit als Selbstverwirklichung – zusammenzubringen als soziales, kollektives, humanes Schaffen, ist es wert, näher bedacht und verwirklicht zu werden: „Menschliche Arbeit ist soziale Arbeit, und es ist diese Sozialität…, der wir ihre große Produktivität verdanken“. Weil sie bei ihrer Betrachtung den Schwerpunkt auf die „digitale Arbeitswelt“ legt, bedarf es auch des kritischen Rückblicks auf die traditionellen, ökonomischen Entwicklungen und die „unsichtbaren Hände“ des Marktes, die wirtschaftspolitisches Denken und Handeln bis heute bestimmen und notwendige, ordnungspolitische Wirtschafts- und Sozialpolitik so schwer durchsetzen lassen. Herzogs Plädoyer für die von der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom formulierten Postulate vom Gemeingut (vgl. dazu: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​11224.php ), wie auch die aktuell weiterentwickelten Perspektiven des „Commoning“ (Silke Helfrich/David Bollier, frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25797.php), weisen auf die richtigen Wege. Im Mittelpunkt des alternativen Nachdenkens und Suchens nach neuen Formen zur digitalen Transformation des Arbeitsbegriffs und der Arbeitswirklichkeit freilich muss stehen, was ein humanes, friedliches, gerechtes und gleichberechtigtes Zusammenleben aller Menschen auf der Erde grundlegt: Verantwortungsbewusstsein für das Ganze: „Wenn man Demokratie als die beste Organisationsform im politischen Bereich anerkennt, warum sollten ihre Prinzipien dann nicht auch für den wirtschaftlichen Bereich anwendbar sein?“. Es könnten neue Mitbestimmungsformen und genossenschaftlich organisierte Systeme sein, bei denen nicht Profit (Joseph Stiglitz, Der Preis des Profits. Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten! 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​26587.php), sondern das soziale Profil der arbeitenden Menschen im Mittelpunkt stehen!
Fazit
Die Politikwissenschaftlerin Lisa Herzog hat das Buch „Die Rettung der Arbeit“ für dich und mich, also für den alltäglichen, ökonomischen und konsumtiven Umgang geschrieben. Es ist ein Weckruf, bei dem nicht in erster Linie die wirtschaftspolitischen Theorien, sondern die eigentlich selbstverständlichen, humanen Grundsätze des Zusammenlebens der Menschheit im Vordergrund stehen. Weil aber immer wieder egoistische, fundamentalistische, populistische machtpolitische Störfeuer und Zumutungen das harmonische, menschenwürdige Bild konterkarieren, braucht es des intensiven Nachdenkens und Auseinandersetzens auch mit dem Arbeitsbegriff; denn: „Arbeit hält Gesellschaft zusammen, sie ist etwas fundamental Menschliches“.
Das Buch könnte in privaten und öffentlichen Diskussionsrunden, in Hochschul- und Volkshochschul-Seminaren und schulischen Oberstufenkursen Verwendung finden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 21.08.2020 zu:
Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. Hanser Berlin
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-446-26206-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27383.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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