Matthias Hammer, Irmgard Plößl: Irre Verständlich
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 26.02.2021

Matthias Hammer, Irmgard Plößl: Irre Verständlich. Methodenschätze : Wirksame Ansätze für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2020.
304 Seiten.
ISBN 978-3-88414-674-3.
D: 30,00 EUR,
A: 30,90 EUR.
Reihe: Fachwissen.
Thema
„Wie hängen Denken und Handeln zusammen? Wie gehe ich mit heftigen Emotionen um? Wie führe ich schwierige Gespräche? Wie kann ich meine Klientinnen und Klienten motivieren“ (Klappentext)? Das Buch bietet eine praxisnahe Vermittlung professioneller Ansätze und Methoden für die Arbeit mit psychisch kranken KlientInnen in den unterschiedlichen Praxisfeldern psychosozialer Praxis. Schwerpunkte liegen in den Bereichen Gesprächsführung/Kommunikation, Umgang mit Emotionen und Gedanken, sowie Motivationsentwicklung
Autorinnen
Dr. Matthias Hammer arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis, Dr. Irmgard Plößl, ebenfalls Psychologische Psychotherapeutin leitet die Abteilung für berufliche Teilhabe und Rehabilitation des Rudolf-Sophien-Stifts in Stuttgart.
Aufbau und Inhalt
Der Band bietet neben einer Einführung zu Regulationssystemen des Menschen (Alarm-, Antriebs- und Bindungssystem) Kapitel zu Kommunikation und Gesprächsführung, Umgang mit Emotionen, Umgang mit Gedanken, Motivation und ein zusammenfassendes Schlusskapitel. Im Anhang finden sich Informationen zu den Downloadmaterialien und die Literaturhinweise.
Einleitung
Klienten, die nur einsilbig antworten, stets dasselbe erzählen, deren Gefühlsausdruck verändert ist, die in Grübelspiralen gefangen sind oder scheinbar unmotiviert wirken: Das Buch bezieht sich auf die Kommunikation und Beziehungsgestaltung mit psychisch kranken Menschen und den besonderen Erfordernissen im Umgang mit Ihnen. Grundlage für einen verstehenden Zugang ist das Modell der Regulationssysteme nach Gilbert (2013), das sich auf den Umgang mit Bedrohung und Gefahr, den Antrieb und auf das Bindungssystem bezieht. Die Funktionen dieses Systems dienen zur Erfüllung von Kontroll- und Sicherheitsbedürfnissen (Alarmsystem) und aktivieren z.B. Kampf- oder Fluchtverhalten, bzw. Erstarrung, regulieren also die Aktivierung oder Hemmung bei Stress und Bedrohung. Bestimmte psychische Erkrankungen weisen eine deutliche Übersteigerung oder aber Hemmung des Alarmsystems auf und ziehen dauerhafte Veränderungen und Beeinträchtigungen (Vulnerabilität) nach sich. Das Antriebssystem wird in seiner Grundfunktion der Vermittlung positiver Gefühle beschrieben. „Wollen, Streben, Leisten, Konsum“ (10) sind hier als zentrale Funktionen verankert und Steuern die Aktivierung eines Menschen. Auch hier können sich im Rahmen einer psychischen Erkrankung Veränderungen ergeben, etwa i. S. einer Überreizung oder zu schwacher Aktvierung. Bindungsbedürfnisse werden in ihrer Ausrichtung auf soziale Verbindungen und in ihrer Funktion auf Sicherheit und Zugehörigkeit beschrieben und ihrer evolutionären und neurophysiologischen Struktur dargestellt. „Wir Menschen sind von der Evolution so geformt, dass wir am besten funktionieren, wenn wir uns sicher, unterstützt und mit anderen verbunden fühlen. Wir sind von Geburt an angelegt auf Beziehungen zu anderen Menschen…“ (12). Probleme in der Lebensführung können sich aus Störungen im Bindungssystem führen, etwa bei abhängigen oder missbräuchlichen Beziehungen oder umfangreichen Verlusterfahrungen, wodurch die anderen Regulationssysteme aktiviert und beansprucht, bei anhaltenden Zuständen überaktiviert werden.
Als Grundlage für diese Systemfunktionen werden neurophysiologische Systeme, die dem Überleben und der Weiterentwicklung der Menschheit im Laufe der Evolution gedient haben, genannt (8). Denken, Fühlen und Motivation (Handeln) werden in ihrer Abhängigkeit von diesen Regulationssystemen dargestellt, umfangreiche Belastungen können sich aus dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung ergeben, wodurch es zu einer Beeinträchtigung der Systeme kommen kann.
Kommunikation und Gesprächsführung
Das Kapitel führt einleitend in Grundlagen der Kommunikation ein die als „wichtigstes Medium unserer Arbeit“ (14) bewertet wird. Grundlegend gehen Hammer und Plößl auf die Aspekte KlientInnenperspektive, den Ertrag der Klientenzentrierten Gesprächsführung (Empathie, Kongruenz, validierende Gesprächsführung), Rollen- und Machtaspekte, aktives Zuhören und die Grundlagen lösungsorientierter Gesprächsführung und der Ressourcenorientierung ein. Die knappen theoretischen Ausführungen werden durch umfangreiche Fallbeispiele, meist in Dialogform expliziert und vertieft. Darauffolgend finden sich in diesem Kapitel unter der Zwischenüberschrift „Methodenschätze“ weitere methodische Ansätze, etwa zur nonverbalen Kommunikation, den Umgang mit Ambivalenzen, das Ansprechen von Gefühlen, das Gespräch über Wahnsymptome, den Umgang mit Pausen im Gespräch, Feedbacksituationen und Kritikgesprächen, sowie die Gestaltung von Gesprächsabschnitten (z.B. ein Gespräch beenden). Diese „Methodenschätze“ werden mit knapper theoretischer Fundierung i. W. anhand konkreter Falldialoge, z.T. auch mit zeichnerischen Abbildungen, Tabellen und Merkkästen präsentiert. Diese didaktische Form erlaubt, unterstützt durch die im gesamten Werk verwendeten Randbegriffe (Marginalien) die Aneignung der Inhalte im Selbststudium und in eigene Handlungsansätze umzusetzen.
Umgang mit Emotionen
„Bei den meisten psychischen Störungen spielen belastende Emotionen eine wichtige Rolle“ (94). Das dritte Kapitel geht einführend auf den Zusammenhang zwischen Emotionen und psychischer Erkrankung ein, v.a. auf die Auswirkungen von Erkrankungen auf die oben eingeführten Regulationssysteme. Benannt wird u.a. der Effekt der Überaktivierung des Alarmsystems, was eine Vielzahl negativer, belastender Effekte (Angst, Unsicherheit, Euphorie) nach sich ziehen kann. Das Kapitel beleuchtet die hinter Krankheitssymptomen stehenden Emotionen und bietet Ansatzpunkte, wie die Emotionsregulation gefördert werden kann. Die Hinführung an das Thema erfolgt, wie schon im Kapitel zuvor, mit einem allgemeinen Beispiel („Was wir alle kennen“), adressiert also die -gesunde- Person der Helfenden und erschließt damit allgemeine Phänomene im Kontext von Situation, Erleben und Emotion. Aus dieser Konstellation leiten die AutorInnen Grundlagen von Emotionen sowie Beeinträchtigungen und Belastungsmuster ab, die für psychische Erkrankungen typisch sind, z.B. Emotionsvermeidung. Das Kapitel bietet dann wiederum unter dem Begriff der „Methodenschätze“ verschiedene Strategien und Methoden zur Emotionsregulierung, z.B. stufenweise Konfrontation, Achtsamkeitsansätze den Gefühlsstern (nach Stavemann) zur Emotionsdifferenzierung und Beiträge akzeptanzorientierter Therapie (genannt werden u.a. Wengenroth, oder Linehan mit ihrem Ansatz der „Radikalen Akzeptanz“). Das Kapitel bietet wiederum eine Reihe von Praxisbeispielen, Themenkästen (z.B. einen Exkurs zu emotionalen Krisen und Dissoziation) und praktisches Arbeitsmaterial (z.B. einen Notfallplan für emotionale Krisen) der direkt in der Praxis angewandt werden kann. Als weitere Techniken zur Emotionsregulation finden sich zudem Hinweise zur Förderung positiver Gefühle und zur Stressbewältigung (Progressive Muskelentspannung, innerer Ort des Wohlbefindens etc.).
Umgang mit Gedanken
Im Kapitel zur Kognition stehen Ansätze zum Ausweg aus häufigen Gedankenfallen im Fokus. Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen gedanklicher Prozesse finden sich hier eine Vertiefung zum Zusammenhang psychische Erkrankungen und Kognitionsprobleme (z.B. Grübeln, Sorgen, Zwangsgedanken) und Ausführungen zum Zusammenhang von Denken, Fühlen und Handeln (u.a. das ABC-Modell von Ellis). Die theoretischen Ausführungen werden auch hier durch Fallbeispiele, Grafiken, Tabellen und Merkkästen illustriert. Als praktische Methoden (praktische Methodenschätze) werden im Folgenden Ansätze zur Förderung der Gedankenregulation vorgestellt, u.a. achtsamkeitsbasierte Techniken, Atemübungen und andere Distanzierungstechniken.
Motivation
Das Kapitel führt in die Grundlagen der Motivation ein, insbesondere die Motivationsförderung, wozu u.a. auf die Ansätze im Motivational Interviewing (Prochaska und DiClemente) Bezug genommen wird und auf den Umgang mit Widerstand eingegangen wird. Die „praktischen Methodenschätze“ erschließen verschiedene Techniken, u.a. die Entscheidungswaage, bzw. 4-Felder-Matrix zur Veränderungseinschätzung. Die Hinweise werden auch in diesem Kapitel neben kurzen theoriebezogenen Texten in Form von Fallbeispielen, Merkkästen, Schaubildern und Tabellen dargestellt.
Schluss
Das Abschlusskapitel bietet eine Zusammenfassung und Zusammenführung der einzelnen Kapitel, wobei nochmals der Zusammenhang zu den drei Regulationssystemen (Alarm-, Antriebs- und Bindungssystem) aufgegriffen wird, welcher in einem abschließenden Fallbeispiel dargestellt wird.
Diskussion
Hammer und Plößl wenden sich in einem interdisziplinären Verständnis psychosozialer Arbeit an breite Leserschaft, der sie theoretische Grundlagen, vor allem aber praktisches Handwerkszeug für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen vermitteln wollen. Dieser Anspruch wird hervorragend umgesetzt, was durch eine breite Palette an methodischen Ansätzen und Techniken und ein sehr überzeugendes didaktisches Konzept, das mit einem Wechsel an Texten, beispielhaften Dialogen und Fallbeispielen, Grafiken, Bildern, Tabellen und Merkkästen umgesetzt wird. Inhaltlich mag der Praxisband kaum neues bieten, die Grundlagen der Gesprächsführung beziehen sich auf Rogers, Achtsamkeitsbasierte Ansätze zur Emotionsregulation sind ebenfalls lange erprobt und in der Praxis verankert, das Motivational Interviewing ist Gegenstand vielfältiger Weiterbildungsveranstaltungen und ebenfalls breit in der Praxis etabliert. Die Stärke des Buches liegt denn auch weniger in der Innovation, sondern in der in jedem Abschnitt äußerst überzeugenden Darbietung der Inhalte, der konsequente Praxisbezug, die durchgängig leichte (und damit sehr verständliche) Sprache und die Fülle an Schaubildern, Abbildungen und Grafiken (die in der Summe genau richtig, nie zu viel oder aufdringlich sind). Was die Methoden betrifft ist das Buch eine Punktlandung in Sachen Methodik, Didaktik und Praxisbezug. Zu kurz gekommen ist der Aspekt einzelner Krankheitsbilder, die Besonderheiten einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, einer schweren Depression, einer akuten schizophrenen Episode und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für eine gelingende Kommunikation, Beziehungsgestaltung, Förderung der Emotionsregulation und Kognitionssteuerung oder Motivationsentwicklung. Die Hinweise zu einzelnen Störungsbildern finden sich stattdessen quer durch das Buch verteilt, in Fallvignetten und Praxisdialogen. Hier wäre die Bündelung psychopathologischer Aspekte in einem eigenen Kapitel hilfreich gewesen, oder zumindest ein Stichwortverzeichnis am Ende des Bandes. Ebenfalls verzichteten die AutorInnen auf einen Abschnitt zur Krisenintervention und psychiatrischen Notfallsituationen. Mit den im Band erschlossenen Methodenschätzen dürfte in solchen Ausnahmesituationen (die allerdings in der Praxis eher häufig sind) schnell die Grenze erreicht sein. Grundsätzlich fällt die deutliche biologisch-physiologische Bezugnahme im Verständnis psychiatrischer Störungen der beiden AutorInnen auf. Auf den ersten Blick mag das an den Mainstream der erneut stark naturwissenschaftlich geprägten Disziplin liegen, auf den zweiten Blick ist allerdings ein doch tiefes bio-psycho-soziales Paradigma zu erkennen, das sich durch alle Kapitel des methodischen Handwerksbuches zieht, vor allem dort, wo die Bedeutung von Beziehung, Kommunikation, sozialer Einbettung, psychischer Ausgangslage und Reaktion betont wird. Zusammen mit den auf der im Buch angegebenen Website hinterlegten und problemlos abrufbaren Downloadmaterialien ein insgesamt überzeugendes Methodenbuch für die psychosoziale Praxis.
Fazit
Das Praxisbuch bietet eine Fülle methodischer Ansätze für Kommunikation und Gesprächsführung mit psychisch erkrankten Menschen, den Umgang mit Emotionen und Gedanken und die Motivationsarbeit in der psychosozialen Praxis. Ein äußerst gelungenes Beispiel für Praxisbezug, Anwendungsorientierung und didaktische Gestaltung. Besonders geeignet für BerufseinsteigerInnen und PraktikerInnen, die auf der Suche nach wirksamen Methodenanregungen sind.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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