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Ursula Bertels, Claudia Bußmann: Handbuch interkulturelle Didaktik

Rezensiert von Dr. Franziska Baumbach, 27.05.2021

Cover Ursula Bertels, Claudia Bußmann: Handbuch interkulturelle Didaktik ISBN 978-3-8309-4212-2

Ursula Bertels, Claudia Bußmann: Handbuch interkulturelle Didaktik. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2020. 2. korrigierte Auflage. 235 Seiten. ISBN 978-3-8309-4212-2. 24,90 EUR.
Reihe: Gegenbilder - 10.

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Thema

Die Autorinnen gehen vom Leben in einer multikulturellen Gesellschaft als Tatsache aus und nennen interkulturelle Kompetenz folglich eine Schlüsselkompetenz. Das Buch soll die Frage beantworten: „Wie kann die Vermittlung von Interkultureller Kompetenz im interkulturellen und globalen Lernen didaktisch und methodisch umgesetzt werden – insbesondere in der Schule?“ (7)

Autorinnen

Die Autorinnen sind Ethnologinnen und Mitarbeiterinnen im Verein „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung e.V.“ (ESE e.V.).

Entstehungshintergrund

Das Buch ist die zweite, korrigierte Auflage der 2013 erschienen Erstauflage; es erscheint als Band 10 der Reihe Gegenbilder herausgegeben vom ESE. Der Verein macht es sich zur Aufgabe aus ethnologischer Perspektive über vielerei Projekte und Fortbildungen Wissen über andere Kulturen zu vermitteln. Der Verein wurde viel von Lehrer:innen nach Anregungen für ihren Unterricht gefragt; vor diesem Hintergrund ist das vorliegende Buch entstanden.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Teile. Zunächst wird der Kulturbegriff diskutiert, dann das Konzept der Interkulturellen Kompetenz erläutert, um sich dann dem Hauptthema der Interkulturellen Didaktik in der Schule zuzuwenden.

Inhalt

In der Einleitung wird das Ziel des Buches definiert als „die theoretischen Hintergründe des interkulturellen und globalen Lernens vorzustellen und die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten aufzuzeigen“ (9). Die Dritt-Kultur-Perspektive wird als Ansatz vorgestellt. Hierbei wird bewusst eine Kultur angeschaut, die relativ weit von den Lebensrealitäten der Schüler:innen entfernt ist, um danach den Umgang mit „fremden“ Kulturen im eigenen Umfeld zu erlernen, ohne dass sich Schüler:innen mit Migrationsgeschichte exponiert fühlen.

Das zweite Kapitel ist dem Kulturbegriff gewidmet. „Kultur ist die von Menschen geschaffene Welt“ (13): Die ESE entscheidet sich für eine offene und dynamische Definition von Kultur, die Kultur fasst als etwas, das sich stets verändert, von den Menschen geschaffen wird und geprägt ist, von denen, die in ihr leben und sie für sich interpretieren.

Im dritten Kapitel erklären die Autorinnen ihre Auffassung von Interkultureller Kompetenz, deren Ziel es ist „im Umgang mit Mitgliedern anderer Kulturen einen möglichst hohen Grad an Verständigung und Verstehen zu erzielen“ (33). Es werden Lernziele Interkulturellen Lernens (Interesse entwickeln, Perspektiven wechseln, Ethnozentrismus überwinden, Reflexion) und Lernziele Globalen Lernens aufgezählt: Es geht um Kompetenzerwerb für lebenslanges Lernen in einer globalisierten Welt. Unterschiede sollen nicht als problematisch, sondern als interessant und überwindbar wahrgenommen werden.

Dadurch soll erlernt werden, die Perspektive zu wechseln, den Horizont zu erweitern und sich klarzumachen, dass der eigene Hintergrund den Blick auf das Andere prägt. Die Autorinnen betonen die Wichtigkeit von Perspektivwechseln mit vielen praktischen Beispielen für die Umsetzung im Unterricht (tw. mit herunterzuladenen Materialien). Interkulturelle Kompetenz bedeutet auch die Erwartung unerwarteter Kommunikation oder Verhaltensweisen und die Fähigkeit, eine interkulturelle Situation zu erkennen.

Interkulturelle Kompetenz basiert auf sozialer Kompetenz. Missverständnisse sind – wie in allen zwischenmenschlichen Begegnungen – unvermeidlich: Es kommt auf den Umgang damit an. Die Autorinnen stellen Methoden zur Verfügung, die den Schüler:innen zeigen, dass nicht „jeder Konflikt, der zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen entsteht, ein interkultureller Konflikt sein muss“ (102). Dabei wird betont, dass der Verein ESE für einen kritischen Kulturrelativismus steht – es gibt Grenzen der interkulturellen Verständigungen und die Schüler:innen sollen dazu befähigt werden, zu entscheiden, wo diese Grenzen liegen. Es wird auch Wert darauf gelegt, dass es gar nicht nur um Informationen über andere Kulturen geht, sondern auch um die Haltung: Offenheit, Akzeptanz, Respekt und Toleranz sind die wichtigsten Grundlagen interkulturellen Kompetenz.

Der folgende Teil behandelt die praktische interkulturelle Didaktik in der Schule. Ausführlich werden Schulbücher auf stereotype und einseitige Darstellungen, Informationslücken und Ethnozentrismus hin untersucht. Die Autorinnen räumen dabei mit vielen verbreiteten Annahmen über die San, die Innuit oder die Yanomami auf, kritisieren die einseitige Darstellung in Schulbüchern und den Vergleich „unserer“ Gesellschaft (= modern) mit vermeintlichen „Naturvölkern“ ohne Entwicklung oder Geschichte. Auch die Darstellung von Afrika in Schulbüchern wird untersucht und kritisiert. Hier wird begründet, dass das Ausmaß der Zerstörung auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene durch den Sklavenhandel und die Kolonialisierung nicht in den Schulbüchern dargestellt wird.

Im Schlusskapitel wird die interkulturelle Didaktik zusammengefasst, wie sie vom Verein „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung“ vorgeschlagen wird. Materialien und Methoden, die Informationen über „fremde Kulturen“ enthalten, sollen den Schüler:innen ermöglichen „Fremdes nicht nur zu kennen, sondern im Sinne Interkultureller Kompetenz auch verstehen zu lernen“ (203). Hier werden acht Doppelstunden und vier Projektage der ESE übersichtlich dargestellt, deren Materialien man herunterladen kann.

Diskussion

Das Buch wirkt (trotz Erstauflage 2013) aus der Zeit gefallen; leider ist bei dieser korrigierten Neuauflage die Chance verpasst worden, aktuelle Diskurse einzubeziehen. Einige Beispiele: Der Döner wird gut vierzig Jahre zu spät als „neues Fast Food“ bezeichnet, „Eskimo“ wird als Rohfleischfresser übersetzt, obwohl diese Auffassung längst überholt ist. Völlig unverständlich bleibt das Kapitel „Das Bild vom faulen N[-Wort]“. Hier wird auf viereinhalb Seiten völlig grundlos elf Mal das N-Wort ausgeschrieben. Die Autorinnen erklären in diesem Abschnitt die historische Entstehung des Bildes durch kolonialistische Gewalt. Hauptsächlich stützen sie sich auf einen zwanzig Jahre alten Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, der schon damals „sensibel“ genug war, von „Afrikanern“ zu schreiben. Es bleibt unerklärt, warum die Autorinnen meinen, es sei analytisch wichtig, genau diesen Begriff zu benutzen. Die Anführungszeichen, die sie benutzen, zeugen davon, dass sie sich der Problematik bewusst sind, aber sich von ihr nicht abhalten lassen wollen, das Wort auszuschreiben.

Im folgenden Teil-Abschnitt werden dann auf vier Seiten allgemein „afrikanische Frauen“ beschrieben – hier verbleiben die Autorinnen genauso auf einer oberflächlich-euro-zentristischen Ebene wie die von ihnen kritisierten Schulbücher.

Ebenso erstaundlich, wie die Autorinnen dem Ankommen Kolumbus in der Karibik ein ganzes Kapitel und eine eigene Unterrichtseinheit widmen: Zwar wird anfangs eingeräumt, dass die Folgen für die Bevölkerung „katasthrophal“ waren; dennoch nennen die Autorinnen die Anlandung einen „Klassiker einer interkulturellen Begegnungssituation“ (188). In den herunterzuladenen Unterrichtsmaterialien wird der der Eroberung durch die Europäer folgende Völkermord in den Amerikas gar nicht erwähnt, nur das massenhafte Sterben an eingeschleppten Krankheiten. Dabei ließ Kolumbus Taino nicht nur massenhaft hinrichten, er verschleppte auch Hunderte als Sklav:innen nach Europa; unter seiner Regentschaft wurde die Taino-Bevökerung in 17 Jahren um neunzig Prozent reduziert. Was Schüler:innen durch diese Unterrichtseinheit über interkulturelle Begegnungen lernen sollen, bleibt rätselhaft.

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der Ausgangspunkt der Autorinnen eine politisch unreflektierte Faszination für „das Fremde“ ist. Rassismus als weltweit zu findende Struktur, welche viele interkulturelle Begegnungen prägt, spielt im Buch keine Rolle (der Begriff Rassismus taucht im ganzen Buch ein einziges Mal auf (75)). Entgegen ihrem eigenen Anspruch – dass es bei Interkulturalität vielmehr um die Haltung als um das Wissen geht – liefern die Autorinnen viele Informationen über „andere Kulturen“, ohne das Othering selbst kritisch zu betrachten.

Fazit

Das Buch ist kein Handbuch, sondern eine Handreichung für Interkulturelle Didaktik, das Denkanstöße, Vorschläge und Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte bieten will und dabei stellenweise sprachlich unsensibel und politsch bzw. historisch unkritisch agiert. Die Kritik vorhandener Schulbücher nimmt viel Raum ein, ist teilweise wenig aktuell und fällt machnmal hinter die Ansprüche der Autorinnen zurück. Dennoch kann sie Lehrkräfte anregen, die verwendeten Schulbücher kritisch zu lesen. Insgesamt geht es darum, Lehrkräften theorie-basiert praktische Methoden für die Vermittlung von Interkultureller Kompetenz zur Verfügung zu stellen. Dies gelingt teilweise durch die Aufforderung zum Perspektivwechsel, eine offene und dynamische Kulturdefinition und die Anleitung zum ressourcenorientierten und wohlwollenden Blick auf Unterschiede.

The book is not – as suggested by the title – a compendium, but a guide for intercultural didactics that aims to provide thought-provoking suggestions and materials for teachers. The book sometimes uses problematic language and seems politically and historically uncritical. The extensive critical reading of school books is in parts out of date and sometimes fails to live up to the authors’ claims. Nevertheless, it can encourage teachers to read their textbooks critically. Overall, the aim is to provide teachers with theory-based practical methods for teaching intercultural competence. This partially succeeds through the invitation to change perspectives; an open and dynamic definition of culture; and the instruction for a resource-oriented and positive view of differences.

Rezension von
Dr. Franziska Baumbach
Lehrbeauftragte an der KHSB Berlin und Sozialarbeiterin in der Jugendhilfe in Berlin
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Es gibt 10 Rezensionen von Franziska Baumbach.

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Zitiervorschlag
Franziska Baumbach. Rezension vom 27.05.2021 zu: Ursula Bertels, Claudia Bußmann: Handbuch interkulturelle Didaktik. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2020. 2. korrigierte Auflage. ISBN 978-3-8309-4212-2. Reihe: Gegenbilder - 10. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27413.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.


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