Alois Moosmüller (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.02.2021

Alois Moosmüller (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz. Kritische Perspektiven.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2020.
386 Seiten.
ISBN 978-3-8309-4245-0.
36,90 EUR.
Reihe: Münchener Beiträge zur interkulturellen Kommunikation - Band 30.
Thema
Kultur ist alles! Diese lapidare Aussage ist obsolet und gleichzeitig valid; denn wenn Kultur die Gesamtheit von typischen Lebensformen, Denkweisen und Wertvorstellungen einer Bevölkerungsgruppe bezeichnet, wie dies die „Weltkonferenz über Kulturpolitik“ der UNESCO 1982 definierte, ist kulturelles Denken und Handeln gleichwertig – wenn es auf der Basis der „globalen Ethik“ beruht, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) die „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (als) Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Im Theorie- und Praxis-(Denk-)Streit über die Universalismus-Relativismus-Debatte wird „kulturelle Identität“ entweder als ethnisch festgelegter Standard, oder als global offene, interkulturelle Einstellung verstanden. Die kreative Vielfalt der Menschheit erfordert ein universales Denken und Tun – und damit eine interkulturelle Kompetenz!
Entstehungshintergrund und Herausgeber
In der sich immer internationaler und globaler entwickelnden (Einen?) Welt kommt es darauf an, kulturell über den Gartenzaun zu schauen. Diese Fähigkeiten werden als globale, interkulturelle Bildung verstanden. Sie umfassen das individuelle und kollektive Bewusstsein, das alltägliche und gesellschaftliche Dasein aller Menschen. Mit dem Begriff „interkulturelle Kompetenz“ wird die Fähigkeit verstanden, „erfolgreich und angemessen mit Interkulturalität umzugehen“. Diese überbegriffliche Deutung freilich lässt viel Raum für Zuordnungen und Zuweisungen, etwa wenn es um Fragen geht, wie interkulturelle Kompetenz in persönlichen Zusammenhängen, in beruflichen Bezügen, im philosophischen, psychologischen und pädagogischen Situationen wirksam wird. Der Münchner Kommunikationswissenschaftler Alois Moosmüller legt den Sammelband mit der Zielsetzung vor, die vielfältigen fachspezifischen und interdisziplinären Zugänge im Zusammenhang mit interkultureller Kommunikation aufzuzeigen, zu thematisieren und kritisch zu beleuchten. Dabei wird besonders betont, „dass Interkulturalität … eine Ressource darstellt für subjektive und gesellschaftliche Verbesserung, für die Ermöglichung und Förderung einer ‚humanistischen Globalisierung‘ und die Entwicklung eines kosmopolitischen Bewusstseins“.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband wird gegliedert in drei Themenbereiche. Neben der Einführung geht es im ersten Teil um „Diskurse und Kontexte“, im zweiten um „Kritik und kritische Einwände“, und im dritten um „Forschung und Anwendung“. Dazu versammelt er 18 ExpertInnen aus den Fachbereichen Linguistik, Ethnologie, Kultur-, Sozial- und Kommunikations-, Wirtschaftswissenschaften und Pädagogik: „Wo steht die Debatte heute, welche gravierenden konzeptionellen Unklarheiten bestehen und was wird vor welchem Hintergrund kritisiert?“. Ein Schwerpunkt fokussiert sich dabei daran, dass „mit dem Bedarf an interkultureller Kompetenz ( ) auch eine neue Profession der interkulturellen Trainer und Berater (entstand)“. Ihre Arbeitsweisen, Bildungs- und Weiterbildungsangebote benötigen theoretisches Rüstzeug und praktische Anregungen.
Der Anthropologe von der Jenenser Friedrich-Schiller-Universität, Stefan Strohschneider, setzt sich im ersten Teil in seinem Beitrag „Interkulturelle Kompetenz aus Sicht der psychologischen Handlungstheorie“ mit Fragen auseinander, wie interkulturelles Handeln motiviert wird und entsteht – als „hierarchisch-sequentieller Prozess“, als „Automatismus“ oder „Routine“, als „Bedürfnis“, oder als „Problemlösung“. Klar ist dabei, dass Handlungen sich sowohl bewusst, als auch unbewusst vollziehen ( siehe dazu auch: Timo Storck, Das dynamisch Unbewusste, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25677.php ).
Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Henze reüssiert mit dem Beitrag „Horizonte der interkulturellen Kompetenzdiskussion“ aus seinem langjährigen, interkulturellen, professionellen Erfahrungen. Er betrachtet die unterschiedlichen, disziplinären und interdisziplinären Diskurse unter den vier wesentlichen, theoretischen und praktischen Kompetenzkonzepten: Machtasymmetrien, Linguistik, Intellekt und Interaktion. Und er entwickelt daraus (pädagogische und trainee-) Kompetenz- und Routinemodelle, mit denen ein flexibler, differenzierter Umgang mit kultureller Vielfalt möglich wird.
Der an der Kölner Technischen Hochschule lehrende Sozialwissenschaftler Andreas Groß betont mit dem Beitrag „Interkulturalität als ‚Vermittlungsproblem‘“ die Notwendigkeit, bei Bildungs- und Weiterbildungsprozessen einen Perspektivenwechsel hin zur didaktischen und methodischen, fächerübergreifenden Kooperation zu vollziehen: anwendungsorientiert, materiale und formale Perspektiven miteinander verbindend, damit „das darin liegende kritische Potenzial entfaltet werden kann“.
Ivett Rita Guntersdorfer von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität diskutiert mit dem Beitrag „Der Referenzrahmen ‚Competences for Democratic Cultures‘ – eine Interpretation der interkulturellen Kompetenz in der europäischen Bildungspolitik“. Mit der Habermas’schen Frage: „Sind wir noch gute Europäer?“ (2018) thematisiert die Autorin den historischen und aktuellen Diskurs im institutionalisierten (verfassten?) europäischen Verständnis von Interkulturalität. Sie verweist auf Konzepte, Modelle und Forschungsprojekte, wie sie z.B. vom Europarat initiiert und als „Referenzrahmen CDC“ vorgestellt wurden. Im europäischen Einigungsprozess hakt und kneift es an vielen Stellen, um interkulturelle Kompetenz als ethische, lokale und globale Selbstverständlichkeit zu realisieren. Der wissenschaftliche, interkulturelle Diskurs ist dazu gefordert und unerlässlich!
Den zweiten Teil – „Kritik und kritische Einwände“ – beginnt die Chemnitzer Kultur- und Sozialanthropologin Heidrun Friese mit ihrem Einspruch: „Leerstellen der Interkulturellen Kommunikation“. Es sind die vielfach scheinbar selbstverständlich geäußerten, wenig reflektierten und kritisch hinterfragten Annahmen, dass interkulturelle Kommunikation zu den unverzichtbaren Anforderungen in der sich immer interdependenter, entgrenzter, globaler entwickelnden (Einen?) Welt gehörten, die Nachfragen bedürfen; und zwar im Zusammenhang mit dem kulturellen Bewusstsein und den notwendigen Herausforderungen zum ethnischen, ethischen, politischen und anthropologischen Perspektivenwechsel. „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ – diese Gedichtstrophe kann als Schlüssel gelten, wie „intercultural education“ wirksam wird.
Der Ethnologe von der Universität Trier, Michael Schönhuth, fragt mit seinem ethnologisch inspirierten Beitrag: „Kompetenzlosigkeitskompetenz statt interkultureller Kompetenz?“. Im ethnologischen Fachverständnis bezieht sich Interkulturalität „auf das, was entsteht, wenn Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wissenskorpora, Routinen und Rahmungen, in wechselseitiger Unsicherheit über die jeweiligen Ansichten und gerade herangezogenen Referenzsystemen aus unterschiedlichen Machtpositionen und auf unterschiedlichen Ebenen einander begegnen und miteinander umgehen“. In der interkulturellen Kommunikation wird immer wieder „Augenhöhe“ gefordert – ohne meist nachzuschauen, wie dieses „Gleich“ zustande kommt, und ob es sich tatsächlich um Gleichberechtigung handelt: „Ethnographisches Vorgehen und abduktives Schließen können neue Erkenntnisse über bisher übersehene Zusammenhänge generieren“.
Jasmin Mahadevan von der Hochschule in Pforzheim plädiert für „Interkulturelle Kompetenz: Genealogie statt native categories und naiver Realismus“. Wissensgeschichte, so die Autorin, neige dazu, alternative Entwicklungen und Ereignisse zu Gunsten einer Suche nach vereinheitlichenden und universellen Mustern und Trends zu vernachlässigen“. Die Forderungen und Notwendigkeiten für ein genealogisches Bewusstsein und zur Kompetenz zum Perspektivenwechsel sind verbunden mit der anthropologischen, ethischen Suche nach „Wahrheit“. Interkulturelle Kompetenz ist „keine objektive und allgemeingültige ‚Wahrheit‘, sondern (besteht) aus Machtbeziehungen zwischen Kontexten, Akteuren und Ereignisketten“. Die vorgestellte „Genealogie der IKK“ stellt einen interessanten, ergänzenden Baustein zur interkulturellen Kommunikation dar.
Der Regensburger Rechtswissenschaftler Jan-Christoph Marschelke plädiert: “Wider die Schizophrenie“, indem er „neue“ Perspektiven zum „alten“ Problem des Nationalen aufzeigt. Seine Analyse bezieht sich darauf, dass Interkulturalität Bestandteile des Nationalen und des Internationalen umfasst. Er bezieht sich auf den “praxeologischen“ Kulturbegriff, mit dem beobachtbare körperliche Verhaltensmuster, subjektive Sinnzuschreibungen und kulturelle Dimensionen ausgedrückt werden ( siehe dazu auch: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23620.php ). Kollektive haben „niemals eine homogene Kultur, sondern stets nur ein mehr oder weniger heterogenes Kulturprofil…, das den Kollektiven eine relative kulturelle Spezifität verleiht“.
Der Münchner Kulturwissenschaftler Dominic Busch fragt: „Die verleugnete Verwandtschaft traditioneller und kritischer Forschung um Interkulturalität – aufgedeckt durch den ‚moral turn‘?“. Es sind die (unversöhnlichen?) Kontroversen zwischen den „Kulturalist_innen“ und “Machtkritiker_innen“, die den Kulturbegriff in neue, interkulturelle Zusammenhänge bringen ( siehe auch: Martha Nussbaum, Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26694.php ). Busch informiert über eine Forschungsstudie, in der er die unterschiedlichen Theoriebildungen und praxeologischen Umsetzungen beim interkulturellen Diskurs verdeutlicht und Wege aufzeigt, die durchaus gemeinsamen Zielsetzungen zusammen zu bringen: „Beide Ansätze zielen primär auf eine langfristig angelegte gesellschaftliche Transformation ab“.
Die Erziehungswissenschaftlerin Irina Mchitarjan von der Münchner Universität der Bundeswehr erstellt „Eine Analyse der neueren Kritik am Kulturbegriff in der Erziehungswissenschaft“. Dazu thematisiert sie die traditionellen Auffassungen von Kultur und setzt sich mit den kritischen Positionen auseinander: „Kultur ist eine Konstruktion“ – „Kulturen sind intern heterogen und nach außen hin nicht scharf abgrenzbar“ – „Kulturen sind keine Konstanten, unveränderbaren Entitäten“ – „Kultur als Verhaltenserklärung ist meistens falsch und wird oft missbraucht“ – „Die Thematisierung von Kultur verfestigt Stereotype und begünstigt den kulturellen Rassismus“.
Im dritten Teil „Forschung und Anwendung“ verbindet Volker Hinnenkamp „Interkulturelle Kompetenz und soziolinguistisches Wissen“ miteinander. Es ist das „doing culture“, das interaktionales Denken und Handeln bestimmt und interkulturelle Kommunikation wirksam werden lässt. Katharina von Helmholt verweist mit dem Beitrag „Interkulturelle Kompetenz aus Sicht der Gesprächsforschung auf die Bedeutung und Möglichkeiten des Interkulturalitätswissens. Deutlich wird, dass in der Interkulturalitätsforschung soziale Wirklichkeiten nur konzeptspezifisch und deskriptiv zu erschließen sind. Kirsten Nazarkiewicz zeigt mit dem Beitrag „Zwischen Problemanzeige und Lösung“ das Dilemma der interkulturellen Kompetenz auf. Es sind Gesprächsanalysen, in denen kulturreflexives Sprechen „keine Vorgabe in politischer Korrektheit (ist, vgl. dazu auch: Nina Degele, Political Correctness – Warum nicht alle alles sagen dürfen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26965.php), sondern ein bewusstes Umgehen mit Kategorien und ihren Implikationen, Perspektiven und Rahmen eingedenk bereits empirisch rekonstruierter und damit bekannter sozialer Verlaufsformen im kommunikativen Austausch“. Jutta Berninghausen fragt mit dem Beitrag „Grenzen der Toleranz“ nach der Bedeutung von interkultureller Kompetenz in einer Einwanderungsgesellschaft. Die immer wieder hervorgeholten Argumentationen und Bewusstheiten nach „Leitkultur“ und scheinbaren Selbstverständlichkeiten benötigen eine gesicherte, interkulturelle Denk- und Dialogfähigkeit. Miriam Morgan macht darauf aufmerksam, dass interkulturelle Kompetenz bereits in der frühen Kindheit eingeübt werden muss. Sie zeigt dies auf in Konzepten und Modellen der „kultursensitiven Frühpädagogik“. Gundula Gwenn Hiller verweist auf „Kultursensible Beratungskompetenz im Hochschulkontext“. Sie stellt ein Rahmenkonzept vor, das zentrale Anforderungen aufgreift, die in Beratungssituationen bedeutsam sind. Christoph Vatter reflektiert „Interkulturelle Kompetenz und Fremdsprachenunterricht“, als Spannungsfeld von der Konstruktion kultureller Differenz zur Verantwortung in der Migrationsgesellschaft. Er wendet sich dabei gegen eine „Aquarium-Perspektive und plädiert für ein „Mehrsprachigkeitsbewusstsein“ auch in der schulischen Bildung.
Diskussion
Es sind die intellektuellen Anforderungen an den anthrôpos, den mit Vernunft ausgestatteten, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigten, zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähigen, vergangenheitsbewusst, gegenwarts-, erdbezogenen und zukunftsreflektierenden Menschen, der für sich und die Menschheit nach einem guten, gelingenden Leben strebt. Das ist nur möglich, wenn der Mensch sich die Frage zu stellen vemag: „Wer bin ich?“ (und wenn ja, wie viele?, Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/9462.php). Und wenn das Bewusstsein vorhanden ist, dass die Menschheit in EINER WELT lebt. Dass diese Einsicht nicht selbstverständlich ist, sondern immer wieder neu vermittelt werden muss, verdeutlichen nicht nur die immer wieder auftretenden, ego-, ethno-, nationalistischen, rassistischen und populistischen Entwicklungen, sondern im konkreten Zusammenhang auch die zähen, bisher nicht verwirklichten Bemühungen, ein Vereintes Europa zu schaffen. Der vom Europäischen Konvent vorgelegte Entwurf einer „Verfassung für Europa“, in dem es u.a. heißt, „dass die Völker Europas, wiewohl stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten“, ist bis heute nicht verwirklicht (Europäischer Konvent, Luxemburg 2003, 171 S.). Das ist nur ein Beispiel dafür, dass interkulturelle Kompetenz zum allgemeinbildenden, individuellen, lokalen und globalen Erfordernis für ein humanes Leben werden muss.
Fazit
Interkulturelle Kompetenz als lokal und global gewordene kommunikative Fähigkeit beinhaltet individuelles und kollektives, alltags- und gesellschaftstaugliches Bewusstsein und Können. Es sind professionelle Anforderungen, die weder vom Himmel fallen, noch in den Genen liegen, und schon gar nicht per Ordre du Mufti vorgegeben werden dürfen. Sie müssen in Bildungs-, Erziehungs- und Aufklärungsprozessen vermittelt werden. Der Sammelband „Interkulturelle Kompetenz“ bietet hierfür vielfältige Anregungen, Denk- und Handlungsanstöße an.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.02.2021 zu:
Alois Moosmüller (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz. Kritische Perspektiven. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2020.
ISBN 978-3-8309-4245-0.
Reihe: Münchener Beiträge zur interkulturellen Kommunikation - Band 30.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27414.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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