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Stephan Moebius: Kultursoziologie

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 17.12.2020

Cover Stephan Moebius: Kultursoziologie ISBN 978-3-8252-5454-4

Stephan Moebius: Kultursoziologie. UTB (Stuttgart) 2020. 3. aktual. u. ergänzte Auflage. 280 Seiten. ISBN 978-3-8252-5454-4. 23,00 EUR. CH: 29,90 sFr.
Reihe: Einsichten. Themen der Soziologie - 1.

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Hinführung

Der religiöser Gewissheit verlustige und der der verdinglichten Rationalität der Moderne ausgelieferte Mensch der Neuzeit benötigt in der Kultur einen sinnstiftenden Horizont. Die Soziologie kann, seit sie ihre anfängliche, geschichts-deterministische Perspektive aufgegeben hat, mit ihren kulturwissenschaftlichen Konzepten hier Orientierung geben. Dem geht Stephan Moebius in seiner Kultursoziologie, die nun in dritter Auflage vorliegt, nach.

Autor

Universitätsprofessor Dr. Stephan Moebius M.A. bekleidet den Lehrstuhl für Soziolgie an der Karl-Franzens-Universität Graz und vertritt dabei die Gebiete Soziologische Theorie und Ideengeschichte sowie Kultursoziologie, Religionssoziologie und Intellektuellensoziologie. Er habilitierte 2005 in Bremen über das französische „Collège de Sociologie“ und ist Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Grundlegende Inhalte

Ohne kulturelle Wegweisung läuft der moderne Mensch durch seine zunehmende Freisetzung von Werten und Leitbildern sowie durch seine soziale Vereinzelung Gefahr, in Depression und Rückzug zu verfallen oder aber sich in Fundamentalismus, Intoleranz und Xenophobie zu verrennen. Moebius schreitet in seiner Entfaltung der Kulturtheorien weit aus von Kultur als Religionsersatz, als aliud zum Materiellen bis zu Kultur als Vehikel zu nationalen Überlegenheitsgefühlen. Nach der nationalstaatlichen Epoche wird Kultur zur Quelle von sozialer Stratifizierung und bis heute als Mittel der De- und Neu-Konstruktion des Gesellschaftlichen.

Inhalte im einzelnen

Im Aufbau folgen in den sechs Teilen des Kultursoziologie-Bandes nach Einführung (1) und Betrachtung des Kulturbegriffs (2) die Behandlung der Klassiker der Kultursoziologie (3), die Vermessung des modernen kultur-theoretischen Feldes (4) und die Diskussion aktueller Kulturtheorien (5) sowe ein kurzer Ausblick (6).

Einleitend umreißt Teil eins die Gefahren, die die Befreiung von sozialen Bindungen für den modernen Menschen mit sich bringt. Rückzug und/oder Radikalisierung drohen. Hiergegen wird (spätestens seit Pierre Bourdieu) eine Re-Kulturalisierung der soziologischen Betrachtung – sonderbarerweise sogar gerade über die Ökonomie – festgestellt. Gleichwohl war Soziologie als Lehre von der Gesellschaft von Individuen mit gemeinsamer Kultur immer eine sich um das Kulturelle mühende Disziplin. Kulturgetränkte Herleitungen gewinnen in vielen Wissensbereichen zunehmend an Erklärungswert, wie die vielen Nominationen von Ess- über Medien-, Sexual-, Unternehmens- bis zu Freizeit-„Kultur“ besagen. So avanciert Kulturwissenschaft zu einem Paradigma des Verstehens des Sozialen auch außerhalb der Soziologie.

Die in Teil zwei untersuchte Typologie des Kulturbegriffs schwankt relational in Zeit und Zusammenhang. Sie rührt her aus der Dualität zwischen dem Instrumental-Technischen und dem Bildend-Deutenden. Die Pflege des Organischen und des Seelischen war immer zugleich im Blick. Immer war im deutschen Sprachraum dieser Wert inhärent: Über der Zivilisation des Alltäglichen stehend normativ zu leiten. So artete der hoch gehängte Kulturbegriff in Deutschland in ein totalitäres Überlegenheitsgefühl aus (Erster Weltkrieg). Danach wurde auch hier Kultur als ein das Gesellschaftliche verbindendes und es stabilisierendes Subsystem, ausgestattet mit wertbesetzten Normen, betrachtet (Talcott Parsons).

Teil drei betrachtet die Klassiker der Kultursoziologie. Durch den Siegeszug des Kapitalismus, die materialistische Bedrohung und die Vermassung wurde die Werte tragende Kulur zu einem Zufluchtsmoment der Intellektuellen (Émile Durkheim, Ernst Troeltsch, Marcel Mauss, Georg Simmel). Dabei wird in Deutschland für die Weimarer Zeit eine gefährliche, der Weltflucht dienende Überhöhung des Kulturellen über das Gesellschaftliche beschrieben (Alfred Weber, Karl Mannheim, Ferdinand Tönnies). Kultur vermag nach der Kritischen Theorie Herrschaft zu festigen, sollte aber das Individuum eher zu seiner eigentlichen Bestimmung emanzipieren. Eigenwerte enthält aber auch die Massenkultur. Die Dialektik kultureller Emanzipation führt aber dazu, dass auch sinnentleerte Artefakte die Gesellschaft zu verändern vermögen (siehe Dadaismus). Soziales entsteht so über verfestigte Rituale. Hier bekommt Kultursoziologie einen umfassenden Stellenwert. Das führt bis zu Pierre Bourdieu.

Teil vier zum modernen kultursoziologischen Feld verfolgt zunächst das Wieder-Einsetzen einer umfassenden Kultursoziologie in Deutschland um das Jahr 1980 mit seinen über einen reinen Überbau über das Soziale hinaus gehenden Ansätzen. Das soziale Handeln als solches wird jenseis plumper Utilitaristik als kulturgetränkt begriffen. Dazu beigetragen haben Einflüsse angloamerikanischer und französischer Soziologie mit ihrem weiter gefaßten Kulturbegriff und mit ihren ethnografischen Herleitungen. Kultur schafft mit ihren symbolischen Ordnungen einen gesellschaftlichen (Zusammen-)Halt. Das Kulturelle interessiert gerade auch im gefühlten Übergang zur postindustriellen Gesellschaft. Die neue Sicht auf das sich spezifisch orientierende und verstehende Subjekt resultiert empirisch-methodologisch aus qualitativen Studien dank geschlechtsspezifischer, raumorientierter, erfahrungsgeleiteter und ethnografischer Deutungen. Symbolische Ordnungen werden als Orientierung gebende Muster gesehen.

Hierbei generieren kognitive Strukturen des Geistes im Strukturalismus über die Sprache die symbolischen Ordnungen. Durch Diskursivität wandelt sich dieser zum Poststrukturalismus, nach dem die Regulierungen zu persönlicher Macht gerinnen können (Governmentality-Schulen).

Die interpretativ-phänomenologische Spielart des Erkennens sozialer Wirklichkeit setzt an der Alltags-Lebenswelt an, die von den Akteuren sinnhaft untereinander gedeutet wird.

Aus ethnologischen Studien gewinnen Vertreter der Kulturanthropologie dem Drama entlehnte Prozesse einer symbolisch unterstützten, transzendierenden Problemlösung.

Die Beschreibung des aktuellen kultursoziologischen Selbstverständnissen in Teil fünf setzt an den vorfindlichen sozialen Praktiken an.

Bei der Betrachtung von Pierre Bourdieus symbolischer Praxis mit ihren Habitus-Prägungen, die zwischen Individuum und Gesellschaft vermitteln, ist feststellbar, dass auch das Feld kultureller Produktionen status-prägend ist, weil es distinktives kulturelles Kapital generiert.

Weiter wendet sich der Autor der neuen Kapitalismuskritik zu, die den Selbsterhalt des Kapitalismus durch eine Massenloyalität bewirkende Medienindustrie inzwischen zwar leugnet; aber die Vereinnahmung der ungebundenen Individuen über private Emotionsregime (intime romantische Liebe, Familienglück, Therapieerfolg, Urlaubsfreuden), über private Handlungsautonomie und ehrenamtliche Projekt-Initiativen betreibt.

Schließlich behandelt der Verfasser den subjektbezogenen Poststrukturalismus, nach dem die Akteure vorgeformte Bedeutungen durch ihre aktuellen Äußerungen rezitierend aufgreifen und damit performieren. Durch Modifizierung von Wiederholung in der zitierenden Wiedergabe (Variation, Transformation, Paraphrase) sind Wandlungen oder Re-Signifizierungen denkbar.

Die spätmoderne Kultursoziologie von Andreas Reckwitz setzt an am Zwang zur Kreativität. Kontemplation wird unerheblich. Erstrebt wird das kreativ-ökonomische Subjekt, dem durchaus auch Widerständiges erlaubt ist. Ästhetisierung ist ein Muss. Die Mittelklasse folgt dieser Forderung mit ihrem Streben nach Autonomie, Kreativität und Authentizität.

In den neuen Forschungsfeldern entwickeln sich je eigene Methodologien des Erkenntnisgewinns. Der Gegenstand strahlt auf den Forschungsweg aus. Es entstehen die sogenannten Studies. Solche „Erforschungen“ werden abschließend auf sieben Feldern vorgestellt: Gouvernementalität (1), Sexualität/Queer (2), Postkolonialismus (3), Wissenschaft (4), Raum (5), Bild/Reproduktion (6) und Kultur/Gesellschaft (7).

Im kurzen Ausblick von Teil sieben werden nochmals die Folgen der dem Einzelnen überlassenen Befreiung von sozialer Einbindung reflektiert. Kulturellle Modelle des Zusammenlebens und von alternativen Lebensvollzügen mögen hier Erleichterung schaffen und Lösungen erbringen.

Diskussion

Spätestens seit sich die deutsche Sozialstrukturanalyse in den 1980er Jahren von den rein quantitativ abgefragten Sozialdaten auch qualitativ deutbaren Momenten wie Lebensstil, Mentalität und Kulturkapital zuwandte, zeigte sich die Bedeutsamkeit der Kultur-Affinität in der Gesellschaftsanalyse. Dabei war der Blick auf den „Überbau“ auch in der deutschen Gesellschaftstheorie nie ganz unter gegangen, wie man von den von Max Weber beschriebenen Einflüssen der protestantischen Ethik auf den Geist des Kapitalismus weiss. Aber dieser Überbau war im plumpen Neomarxismus oft genug etwas Lästiges, das es los zu werden galt. Dem Rezensenten war solche Verkürzung schon verdächtig, als er als sozialwissenschaftliches Erstsemester 1961 in Friedrich Tenbrucks soziologischem Proseminar mit dessen Sicht von Soziologie als Lehre von der Gesellschaft von „Menschen mit gemeinsamer Kultur“ konfrontiert wurde.

Stephan Moebius zeichnet nun die Einflüsse einer umfassenden Kultur auf das Soziale sehr detailliert und Schulen-bezogen nach. Er besitzt die Gabe, weit ausholende Theoreme auf ihre Essenz zu reduzieren und verständlich nahe zu bringen. Vorteilhaft sind seine komprimierten Zusammenfassungen von historisch oder gedanklich einander nahe stehenden Schulen der Kulturwissenschaften. Typografisch wird der Fortgang der Gedankenführung auf den Buchseiten mit optisch erhellenden Randmarkern versehen. Allein das 40seitige Literaturverzeichnis zeugt von der Belesenheit und intensiven Materialdurchdringung des Autors gerade auch fanzösischer und angloamerikanischer Quellen. Begrifflich changiert Moebius von Kultursoziologie für die soziologische Frühzeit der Klassiker zur Kulturtheorie in der Gegenwart nach dem „Cultural Turn“ in der Postmoderne. Nicht immer werden Kultursoziologie, Kulturtheorie, Kulturwissenschaften und Kultur an sich klar voneinander abgegrenzt.

Der Autor entgeht in seiner kenntnisreichen Übersicht nicht ganz der Gefahr, dass ihm die vielen von ihm referierten Studien (zu Geschlechter-, Raumordnungs-, Bilder-, Medien- und Regierungs-Problemen) ins Inter- bzw. Trans-Disziplinäre zerfliessen. Die zahlreichen, hierbei zu berücksichtigenden Einzelaspekte lassen zuweilen die Frage aufkommen, ob noch auf eigentlich soziologischem Gebiet argumentiert wird, oder ob nicht die Soziologie hier doch dem bösartigen On-Dit zufolge „über alles und jedes redet“. Vor allem die in Teil fünf behandelten aktuellen Kulturtheorien sind stark von (vom Autor auf Seite 139 zugegebener) soziologischer Hybridisierung gekennzeichnet. In seinem kurzen, als Ausblick apostropierten Nachwort von Teil sechs greift Moebius diese Frage nochmals als „Verkulturwissenschaftlichung“ der Soziologie auf. 

Jenseits von zehn Anmerkungs- und vierzig Literaturverzeichnis-Seiten vermisst man eine Stichwort-Legende, sind doch Begriffe wie Cultural Turn, Efferveszenz, Episteme, Holismus, Liminalität, Potlatch oder Simulakrentheorie nicht jedermann geläufig.

Fazit

Stephan Moebius hat mit seiner nun in dritter Auflage vorliegenden Kultursoziologie ein großartig gerafftes, kenntnisreiches, das gesellschaftliche Denken in Frankreich, England und den USA berücksichtigendes, inspirierendes Werk über die Möglichkeiten kultureller Artefakte zur Beeinflussung und Gestaltung des Sozialen vorgelegt. Man wird behutsam zum Durchstreifen unterschiedlicher soziologischer Terrains an die Hand genommen und vermisst allenfalls eine lexikalische Nachschlage-Übersicht zu einigen unalltäglichen „soziologo-chinesichen“ Wortschöpfungen.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 105 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

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ISSN 2190-9245