Christian Fuchs: Die Gestalt des Traumatischen
Rezensiert von Dr. Jürgen Beushausen, 08.03.2021

Christian Fuchs: Die Gestalt des Traumatischen. Phänomenologisches Handeln bei seelischer Verletzung.
EHP – Verlag Andreas Kohlhage
(Gevelsberg) 2019.
258 Seiten.
ISBN 978-3-89797-116-5.
D: 26,99 EUR,
A: 27,80 EUR.
Reihe: EHP - Edition Humanistische Psychologie.
Thema
Ziel des Buches sei „ein Traumaverständnis zu entwickeln, welches über die Grenzen des aktuellen Traumadiskurses hinausgeht“ (S. 10). Dabei gründet der Autor sein Verständnis von Trauma in weiten Teilen auf die Arbeit des Neurologen und Psychiaters Kurt Goldstein (1878-1965). Ein Trauma ist für Kurt Goldstein ein existentielles Ereignis, das den Menschen in seinem Sein erschüttert. Christian Fuchs will das organismisch-philosophische Verständnis von Goldstein als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines disziplinübergreifenden Traumaverständnisses nutzen. Dabei will der Autor versuchen „den herrschenden Diskurs aufzubrechen“ (S. 10). und die Erkenntnisse unterschiedlicher Schulen und Theorien vor dem Hintergrund individueller Biografien zu einer sinnhaften Gestalt werden zu lassen. Neben der theoretischen Grundlegung werden Handlungsdimensionen und Handlungsebenen für die praktische Umsetzung mit kommentierten Fallvignetten vorgestellt.
Das Buch richtet sich an PsychotherapeutInnen, Coaches, SupervisorInnen, TrainerInnen und BeraterInnen.
Der Autor
Christian Fuchs ist Gestalt- und Traumatherapeut (HPG) in eigener Praxis, Mitbegründer des Lore Perls Instituts und Leiter des Kurt Goldstein Instituts. Als Dipl.-Ing (FH) und Dipl.-Wirtsch.-Ing. (FH) war er langjähriger geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmens mit Schwerpunkt Beratung und Training. Auf der Homepage nennt der Autor neben der Gestalttherapie und der Traumatherapie zudem die Gestaltmediation und die Gestaltberatung als weitere Schwerpunkte seiner Tätigkeit. Um diesen anspruchsvollen Aufgaben gerecht zu werden, habe er sich in Gestalttherapie, Traumatherapie und Mediation ausgebildet.
Nicht deutlich wird, welche beruflichen Erfahrungen der Autor im Kontakt mit KlientInnen hat.
Aufbau
Nach einem ersten Überblick und einer Einführung umfasst das umfangreiche Kapitel „Hintergründe“ eine Kritik am herrschenden Diskurs und die Begründung für die Notwendigkeit eines erweiterten Traumaverständnisses. Im Kapitel „Handeln“ soll eine Umsetzung und Integration in den therapeutischen Alltag vorgestellt werden. Beschrieben werden sollen unterschiedliche Dimensionen des Handelns, verschiedene Ebenen thematisiert und mit Fallvignetten illustriert werden. Im Kapitel Ausblick erfolgt eine Zusammenfassung. Mit einem abschließenden Epilog einer Betroffenen schließt das Buch.
Inhalt
Im Kapitel Überblick stellt Christian Fuchs sein Anliegen und den Aufbau des Buches vor.
In der Einleitung definiert der Autor Trauma sehr allgemein als eine Erschütterung die die Existenz bedrohen und bei der der menschliche Organismus in Ohnmacht und Hilflosigkeit erstarrt, wobei ein Trauma die Beziehung zu sich selbst und zu anderen zerstört. Hier grenzt sich der Autor von einem klinischen Traumabegriff ab und kritisiert, dass die Arbeit am Trauma heute fast ausschließlich von Psychotherapeutinnen und Psychiatern übernommen werden würde und sich die Definition von Trauma hauptsächlich auf medizinisch- naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützen würde. Der Autor plädiert hingegen für ein existenz-philosophisches Denken, dass die Freiheit ins Zentrum stellt und bestehende Selbst-, Welt- und Gesellschaftsverhältnisse immer wieder neu auf den Prüfstand stellt (S. 15). Traumatisches Leid entspringe oftmals dem Erleben von Angst und Kontrollverlust und damit dem Verlust von Freiheit, wohingegen Naturwissenschaft mit ihrem Ursache-Wirkungsparadigma zu keinem anderen Ergebnis gelangen könne, als die Freiheit des Menschen zu verneinen. Zudem soll der Zusammenhang zwischen der Verdrängung von Leid und ökonomischen Interessen zulasten der Betroffenen herausgearbeitet werden.
Fuchs hat somit das Ziel den aktuellen, unter Fachleuten akzeptierten und verbreiteten psychiatrisch- psychotherapeutischen Diskurs auf seine Grenzen hin zu untersuchen und Fragen zu stellen, die vom herrschenden Diskurs strukturell ausgeblendet werden würden. Ausgehend vom Leid des Traumas stehen Fragen und Antworten zu menschlicher Existenz und Begegnung insbesondere in Bezug auf den Gestalttherapeuten Goldstein (1940) im Mittelpunkt der Analyse.
Im umfangreichen Kapitel mit dem Titel „Hintergründe“ stellt Christian Fuchs eine umfassende Kritik am herrschenden Diskurs und die Begründung für die Notwendigkeit seines erweiterten Traumaverständnisses vor. Im Unterkapitel „Gesellschaft und Trauma“ beschreibt Fuchs einführend seine These, dass Leid immer mehr als individuelles Problem angesehen und aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt wird. Dies stehe im Zusammenhang der gesellschaftlichen Umsetzung neoliberaler Wirtschaftstheorien und ihrer weitreichenden Folgen. Medizin und Naturwissenschaft würden ungewollt die Grundlagen für diese Entwicklung schaffen, indem sie die Menschenals „neuronale Maschine “beschreiben und existenzielle Dimensionen ausblenden würden (S. 30).
Im zweiten Unterkapitel „Gestalt und Trauma – Lore Perls und Paul Goodman“ wird ein alternatives Verständnis von Psychotherapie von Traumata vorgestellt, wobei er insbesondere die Haltungen der Gestalttherapie in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. In diesem Kontext stelle die Gestalttherapie kritisch bestehende Verhältnisse infrage, Traumata seien als sozial verursacht zu verstehen und somit die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung zwingend erforderlich, um Traumen zu verarbeiten.
Im Weiteren stellt er das Konzept der Selbstaktualisierung von Kurt Goldstein vor, der 1934 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA emigrierte und maßgeblich die französische Phänomenologie, die amerikanische Gestalttherapie und die humanistische Psychologie beeinflusste. Grundlage bei Kurt Goldstein ist ein holistisches Verständnis vom Menschen, in der die Natur des Menschen nicht aus dem Blickwinkel einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin heraus erfasst werden kann. In diesem therapeutischen Verständnis wird jedes Verhalten, ob normal oder pathologisch, als Versuch des Organismus betrachtet, seine individuelle Natur in Harmonie mit seiner Umwelt zu verwirklichen (S. 75). Die Arbeit am Trauma bestehe dann darin, so Fuchs, sich den zugrunde liegenden Ängsten und Konflikten freiwillig zu nähern. Ein Aushalten der Ängste gäbe dem Organismus die Gelegenheit, sich zu regulieren.
Anschließend setzt sich der Autor mit der Theorie von Paul Tillich auseinander, Fuchs sieht hier Trauma und Angst untrennbar miteinander verknüpft. In der Auseinandersetzung der Erkenntnisse von Martin Buber nimmt Christian Fuchs insbesondere das dialogische Prinzip in seinen Ansatz auf.
Im vierten Kapitel „Handeln“ leitet Fuchs seine Handlung praktischen und methodischen Folgerungen aus einem „organismisch-existenziellen Anklang“ (S. 109) ab, da sich jede Arbeit mit Betroffenen auf einer Ebene abspiele, die ihr eine spezifische existenzielle Formung gibt. Fuchs betont die Begegnung und erörtert aus einer gestalttherapeutischen Perspektive das „Traumasensibel sprechen“. Hierzu gehören auch das Arbeiten mit Körperempfindungen und die Suche nach Ressourcen. Verschiedene Ebenen der gestalttherapeutischen Arbeit mit traumatischen Menschen, u.a. mit dem Vorstellen von Fallvignetten, betonen die Erörterung des Traumas als ein existentielles Widerfahrnis.
Im abschließenden Kapitel „Ausblick“ bietet der Autor eine kurze Zusammenfassung, das Schlusswort erhält eine Betroffene mit einem Epilog. Das Buch schließt im Anhang mit einem Dankeswort, dem Literaturverzeichnis, einem Abbildungsverzeichnis und einem Stichwortverzeichnis.
Diskussion
Bereits in der Einleitung grenzt sich Christian Fuchs von einem medizinisch- naturwissenschaftlichen Verständnis von Trauma ab. Er baut hier teilweise m.E. eine nicht existierende Mainstreamposition vor. Psychische Traumatisierungen sind nicht, so wie der Autor darlegt (S. 14) beinahe zwangsläufig eine rein medizinisch-biologische Themenstellung, mit deren Definitionen die Grenze beschrieben würden, an der die Funktionstüchtigkeit des einzelnen als störungswertig angesehen wird („An dieser Grenze werden Betroffene zum Problem für die Gesellschaft und damit für sich selbst, weil sie deren Vorgaben nicht mehr erfüllen können.“ S. 14). Ein zu erfüllender Symptomenkatalog und unerfüllte gesellschaftliche Verhaltensvorschriften, so der Autor, würden kaum das Phänomen des Traumas erfassen. Es gäbe keine Normierung traumatischen Erlebens im Sinne von kategorisch realen Diagnosen, ohne den Blick auf das Wesen des Traumas zu verstellen (S. 14).
Mit diesen und weiteren Anmerkungen nimmt der Autor meines Erachtens die Forschungslage und die vielfältige umfangreiche Literatur nicht zur Kenntnis, da diese vielfach ebenfalls eher von einem biopsychosozialen Modell ausgeht und zudem mit der Neurobiologie wichtige zusätzliche Perspektiven aufnimmt. Vielleicht lässt sich dies dadurch erklären, dass sich im durchaus umfangreichen Literaturverzeichnis nur wenige Bücher aus dem Kontext der Traumaliteratur finden.
Sicherlich ist auch das Anliegen der überwiegenden Mehrzahl der TherapeutInnen nicht die Systemkonformität im Rahmen eines Ökonomisierungsgesundheitssystems sicherzustellen (S. 15). Auch wird, anders als der Autor ausführt, Leid und alles seelische Vermögen nicht zu einem Resultat elektrochemischer Vorgänge und Leid nicht zur rein individuellen Angelegenheit erklärt. Nicht zuletzt sollte auch der Satz, dass die Betroffenen in der klassischen Traumatherapie therapeutisch wieder an gesellschaftliche Strukturen angepasst werden, differenzierter betrachtet werden.
Im konkreten Handeln stehen die Positionen von Christian Fuchs oftmals nicht gegen den von ihm benannten Mainstream, wenn er zum Beispiel Trauma als eine normale Reaktion auf nicht normale Ereignisse bezeichnet und benennt, dass diese Aussage die Betroffenen von der Last befreit, nicht normal oder gar verrückt zu sein (S. 49). Diese Haltung ist „Standard“ in der Traumaberatung und in der Traumatherapie
Es wird mehrfach eine Position aufgebaut, die dem allgemeinen Verständnis des Menschen und dem traumatischen Erleben in der Fachliteratur nicht entspricht, um hieran anschließend eine existenzielle Gegenposition darzustellen, mit der der Autor sicherlich auch fehlende und problematische Aspekte benennt. (Beispielhaft sei hier seine Kritik an den im Hirnscanner erzeugten Bilder des Gehirns genannt.)
Fazit
Christian Fuchs hat sich mit historischen gestalttheoretischen Modellen intensiv auseinandergesetzt und diese auf die Arbeit mit traumatisierten Menschen bezogen. Klassische traumatherapeutische Methoden werden kritisiert, der Autor versucht einen gestalttherapeutischen Zugang zu eröffnen.
Rezension von
Dr. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
Website
Mailformular
Es gibt 60 Rezensionen von Jürgen Beushausen.
Zitiervorschlag
Jürgen Beushausen. Rezension vom 08.03.2021 zu:
Christian Fuchs: Die Gestalt des Traumatischen. Phänomenologisches Handeln bei seelischer Verletzung. EHP – Verlag Andreas Kohlhage
(Gevelsberg) 2019.
ISBN 978-3-89797-116-5.
Reihe: EHP - Edition Humanistische Psychologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27440.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.