Traugott Jähnichen, Joachim Wiemeyer: Wirtschaftsethik 4.0
Rezensiert von Dr. Christian Geyer, 19.11.2020

Traugott Jähnichen, Joachim Wiemeyer: Wirtschaftsethik 4.0. Der digitale Wandel als wirtschaftsethische Herausforderung.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2020.
266 Seiten.
ISBN 978-3-17-037476-8.
29,00 EUR.
Reihe: Ethik - Band 15.
Thema
Die digitale Transformation erfasst alle Lebensbereiche und gesellschaftlichen Funktionssysteme und ist selbstredend auch im Wirtschaftssystem wirksam. Digitale Referentialität, Sozialität, Algorithmizität und Disruptivität verändern das Wirtschaften so grundlegend, wie zuvor nur die Industrialisierung. Es entsteht eine Digitalökonomie, die die ökonomischen Funktionsmechanismen anders definiert. Von daher ist die Wirtschaftsethik u.a. zur Reflexion über Märkte und Marktwirtschaft, Wettbewerb und Wertschöpfung, Preise, Arbeit, Konsum, Selbstregulierung und ordnungspolitische Normierungsaufgaben herausgefordert.
Traugott Jähnichen und Joachim Wiemeyer reflektieren die wirtschaftsethischen Herausforderungen der digitalen Transformation aus der Perspektive christlicher Sozialethik.
Autoren
Traugott Jähnichen hat Evangelische Theologie und Ökonomie studiert und lehrt seit 1998 als Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Der Sozial- und Wirtschaftsethiker ist darüber hinaus Mitglied der Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Joachim Wiemeyer hat Katholische Theologie und Volkswirtschaftslehre studiert und lehrt seit 1998 als Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum. Zudem ist der Sozialethiker Berater der Kommission für caritative Fragen der Deutschen Bischofskonferenz.
Entstehungshintergrund
Im Vorwort schildern die Autoren, dass die Publikation auf ein gemeinsames Seminar zum Thema Digitalisierung im Sommersemester 2018 zurückgeht. Der Diskurs mit den Studierenden habe die beiden Sozial- und Wirtschaftsethiker ermutigt, eine Ethik der Digitalökonomie zu versuchen.
Aufbau und Inhalt
Die Autoren strukturieren das weite Feld einer Ethik der Digitalökonomie durch die Unterscheidung von vier Analyseebenen. Die Systematik folgt dabei der sozialwissenschaftlichen Unterscheidung von Mikro-, Meso- und Makroebene. Darüber hinaus wird die globale Dimension gesondert verhandelt und ist nicht Bestandteil der Makroebene. Das durchgängige Fokusthema ist die ethische Perspektivierung von Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Arbeitsgesellschaft im digitalen Wandel.
Das erste Kapitel ist ein Grundlagenkapitel (S. 21 – 80), das den vier Analyseebenen vorangestellt ist und sowohl die christliche Sozialethik und ihre Kriterien (S. 21 – 56) als auch die „Grundlagen der Datenökonomie und Herausforderungen des Datenschutzes“ (S. 57 – 80) skizziert. Im Zentrum der sozialethischen Grundlegung steht die Personenwürde, die sich im „Gebot der Nächstenliebe“ konkretisiere. Aus diesem Gebot folgen für die Verfasser fünf ethische Kriterien: „Freiheit und der Schutz der Eigentumsrechte“, „Solidarität“, „Gerechtigkeit“, „Subsidiarität“ und „Nachhaltigkeit“. Die theologische Grundlegung erfährt im Folgenden eine Fokussierung auf das Feld der Arbeits- (S. 45 – 51) und Konsumethik (S. 52 -56).
In einem zweiten Teil des Grundlagenkapitels wenden sich Jähnichen und Wiemeyer der „Datenökonomie“ und den „Herausforderungen des Datenschutzes“ (S. 57 – 80) zu. Die Verfasser gehen dabei das Risiko ein, die Grundlagen der Datenökonomie über eine Klärung der Grundbegriffe zu explizieren (2.2). Die Info-Boxen zu zentralen Begriffen wie z.B. Big Data und Künstliche Intelligenz unterscheiden sich nicht von den Begriffserklärungen im Haupttext, wodurch dieser Abschnitt eher einem Glossar mit kurzem Kommentar gleicht, statt einer systematischen Darstellung der Funktionsmechanismen der Digitalwirtschaft.
Das zweite Kapitel (S. 81 – 134) vertieft auf der Mikro-Ebene die Themen Arbeit und Konsum. Auch hier arbeiten die Verfasser explorativ. Dadurch wird eine Fülle von Fragestellungen thematisiert, die nicht immer der Analyseebene zuzuordnen sind. Unter dem Stichwort Arbeit werden Crowd-Working (und einige dahinterliegende Funktionsmechanismen der Digitalwirtschaft), die Digitalisierung der Sozialwirtschaft, „Bildung als Schlüsselqualifikation der Zukunft“ und abschließend „Sinndeutungen der Arbeit im Horizont pluraler Arbeitswelten“ verhandelt. Ebenso breit reflektieren die Verfasser das Thema Konsum(-verhalten) und Digitalisierung und thematisieren Verbraucherschutz, Crowdfinance und Sharing Economy.
Das kollektive Arbeitsrecht und die gewerkschaftliche Interessenvertretung stehen im Mittelpunkt der Reflexionen des dritten Kapitels (S. 135 – 163), um die Meso-Ebene der Wirtschaftsethik 4.0 zu entfalten. Der Abschnitt zur Unternehmensethik (S. 164 – 177) ergänzt diese Betrachtung und deutet zentrale Themenfelder (Stakeholder, Coopetition, Plattformstrategie/​Geschäftsmodelle) an. Die Verfasser explizieren die unternehmerischen Herausforderungen allerdings in Gestalt von praktischen Empfehlungen für die Unternehmens- und Personalführung.
Das vierte Kapitel reflektiert die „[o]rdnungspolitische[n] Herausforderungen des digitalen Wandels“ (S. 180 – 226): Monopolisierung, Wettbewerb, Besteuerung und die Frage nach einer Erneuerung der sozialen Sicherung. Auch hier ist der Dreh- und Angelpunkt die Arbeit bzw. „der Trend zur Prekarisierung der Arbeit“ (S. 204). Die Autoren diskutieren und verwerfen das bedingungslose Grundeinkommen als ein Instrument der sozialen Sicherung im digitalen Zeitalter (S. 210 – 216). Eine kursorische Reflexion über die ökologischen Chancen und Risiken des digitalen Wandels rundet das Kapitel ab (S. 2018 – 226).
Die weltwirtschaftliche Perspektive des digitalen Wandels ist Gegenstand eines kurzen fünften Kapitels (S. 227 – 237). Jähnichen und Wiemeyer reflektieren das Thema Beschäftigung im Hinblick auf die Schwellen- und Entwicklungsländer sowie deren Chancen in einer globalen Digitalwirtschaft.
Diskussion
Dieser Band entfaltet das weite Feld des digitalen Wandels der Wirtschaft aus theologisch-kirchlicher Perspektive und trägt damit eine wichtige Sichtweise in den wirtschaftsethischen Diskurs ein. Jähnichen und Wiemeyer haben mit der doppelten Fokussierung der Wirtschaftsethik auf (a) Arbeit als „Gemeinschaftsleistung“ (45) und (b) Soziale Marktwirtschaft als Ordnungssystem der Digitalwirtschaft eine Weichenstellung vorgenommen, die die Diskussion der Phänomene prägt. Es schwingt die Hoffnung mit, dass sich die erodierende Sozialpartnerschaft des deutschen Wirtschaftssystems 3.0 (Soziale Marktwirtschaft) in das Wirtschaftssystem 4.0 transformieren lässt, ohne die Systemlogik radikal verändern zu müssen.
Obwohl Jähnichen und Wiemeyer mehrfach betonen, dass es angesichts des digitalen Wandels um die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft gehen soll, findet sich keine systematische Erörterung von Sinn- und Legitimation der Digitalwirtschaft als Sozialer Marktwirtschaft. Der digitale Wandel verschärft das Risiko des Ökonomismus und fordert wirtschaftsethisch zur Kritik heraus. Aus Sicht des Rezensenten ist eine Auseinandersetzung mit Alternativkonzepten wie z.B. der „Gemeinwohlökonomie“ (Felber 2012), der Kooperationsökonomie (Wieland 2000), und Commons (Ostrom 1990) wünschenswert, um eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft im digitalen Zeitalter zu orientieren.
Eine kontroverse These dieser Wirtschaftsethik lautet: das bedingungslose Grundeinkommen muss aus „normativer Sicht“ abgelehnt werden, weil die „Erwerbsarbeit auch in Zukunft grundlegender Bestandteil der Gesellschaft bleiben wird“ (S. 215). Die Argumentation dieser These beruht im Kern auf der Logik des bisherigen Systems der sozialen Sicherung. Demnach dient Arbeit einerseits der Einkommenserzielung, andererseits habe sie eine wichtige soziale Bedeutung (S. 215). Darüber hinaus sei eine Umverteilung gesellschaftlich nicht konsensfähig (S. 216). Dabei bleibt unberücksichtigt, dass die sozialen Sicherungssysteme anders konzipiert und finanziert werden könnten. Im Hinblick auf eine alternative Finanzierung hat das in Abschnitt 9 verhandelte Thema der Unternehmensbesteuerung eine große Bedeutung. Infolgedessen ist es nicht ausgemacht, dass die Einkommenssteuer weiterhin die Hauptquelle der Finanzierung darstellen muss. Ein alternatives soziales Sicherungssystem ist fundamental darauf angewiesen, dass (Erwerbs-)Arbeit, z.B. im Geist christlicher Freiheit und Gerechtigkeit, anders, etwa als vita activa 4.0, konzeptualisiert wird. Eine solche Perspektivierung würde zumindest den Blick dafür öffnen, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen keine bloße Alimentation bedeutet und eine gesellschaftliche Exklusion (S. 215 f.) zur Folge haben muss.
Jähnichen und Wiemeyer machen zurecht die arbeitsethischen Fragestellungen im Rahmen der digitalen Transformation stark und reflektieren die Herausforderungen auf der kollektivrechtlichen und betrieblichen Ebene. Auffällig ist, dass das kirchliche Arbeitsrecht in dieser dezidiert kirchlich orientierten Ethik der Digitalökonomie keine eigene Reflexion erfährt, obwohl rund 1,3 Millionen Beschäftigte in der Sozial-, Gesundheits- und Bildungswirtschaft betroffen sind. Die Kirchen nutzen die korporative Religionsfreiheit, um maßgebliche Freiheitsrechte der Beschäftigten und auch der diakonisch-caritativen Unternehmen einzuschränken. Zugleich plädieren die Autoren für die soziale Marktwirtschaft mit ihren intermediären Akteuren (z.B. Betriebsräte, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände), ohne dass diese sozialethische Orientierung auf das kirchliche System Anwendung findet.
Fazit
Das vorliegende Buch erkundet den digitalen Wandel und beschreibt die wirtschaftsethischen Herausforderungen in einer theologisch-kirchlichen Perspektive. Es fokussiert die Frage nach einem Verständnis von Arbeit und Arbeitsbeziehungen 4.0 und verdeutlicht so, vor dem Hintergrund einer Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft, dass hier ethischer und ordnungspolitischer Klärungsbedarf besteht.
Rezension von
Dr. Christian Geyer
Fachlicher Vorstand Bathildisheim e.V., Bad Arolsen und Lehrbeauftragter der Hochschule Fulda
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