Ulrich Binder, Wolfgang Meseth: Strukturwandel in der Erziehungswissenschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Ulrich Papenkort, 18.02.2021
Ulrich Binder, Wolfgang Meseth: Strukturwandel in der Erziehungswissenschaft. Theoretische Perspektiven und Befunde.
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2020.
224 Seiten.
ISBN 978-3-7815-2394-4.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Reihe: klinkhardt forschung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft - 47.
Thema
„Dass alles sich wandelt, immer und unaufhaltsam, ist zeittheoretisch ebenso trivial wie unstrittig“ (S. 7). Das gilt auch für die Wissenschaft, in diesem Fall die Erziehungswissenschaft. Nicht trivial und strittig ist die wissenschaftstheoretische Frage, „ob und in welcher Weise die Wissenschaft einem tiefgreifenden methodischen und institutionellen Wandel unterliegt“ (S. 3) oder zu bestimmten Zeiten untergelegen hat. Was sich dabei ändert, sind Strukturen, da sie den dialektischen Gegenpart des Wandels darstellen: die Dauer. Der kurzfristige Wandel geschieht durch Ereignisse, der mittel- und langfristige in Prozessen.
Herausgeber
Ulrich Binder ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Wolfgang Meseth Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt „Bildung und Heterogenität“ an der Phillipps-Universität Marburg. Letzterer ist Vorsitzender der Kommission Wissenschaftsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Sammelband geht auf zwei Tagungen der genannten Kommission im Jahre 2018 zurück: auf das Symposion „Bewegungen erziehungswissenschaftlicher Wissensproduktion zwischen Wahrheit und Nützlichkeit“ auf dem 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im März und auf die Jahrestagung der Kommission unter dem Titel „Strukturwandel der Erziehungswissenschaft und der erziehungswissenschaftlichen Wissensproduktion“ im September. Der Band vereint Vorträge aus beiden Tagungen mit neu geschriebenen Beiträgen.
Aufbau
Die insgesamt zwölf Beiträge werden den fünf Teilen zugeordnet, in die das Buch gegliedert ist. In Teil I (Wandel – Struktur – Erziehungswissenschaft. Wissenschaftstheoretische und erziehungssoziologische Zugänge) wird der Strukturwandel allgemein thematisiert, in den anderen drei Teilen der Strukturwandel im „erziehungswissenschaftlichen Wissen“ (Teil II), im „erziehungswissenschaftlichen Studium“ (Teil III) und in der „erziehungswissenschaftlichen Forschung und Disziplinentwicklung“ (Teil IV).
Inhalt
Im Rahmen der Rezension werden nicht alle zwölf Beiträge besprochen. Ich werde fünf aufgreifen, je einen aus den ersten drei Teilen, zwei aus dem letzten und längsten. Das geschieht mehr aus eigenem Interesse als aus systematischen Gesichtspunkten. Nicht besprechen werde ich die Beiträge von:
- Ulrich Binder: Abwärts, aufwärts, geradeaus. Drei Deutungsrahmen für ‚Wandel‘ (Teil I),
- Elmar Anhalt: Strukturwandel als Thema und Problem der Erziehungswissenschaft (Teil I),
- Peter Kauder: Strukturwandel der Erziehungswissenschaft im Spiegel erziehungswissenschaftlicher Dissertationen und Habilitationen, Teil II: 1945–2016 (Teil II),
- Katja Ludwig und Cathleen Grunert: Studiengangsentwicklung als Ausdruck disziplinärer Wandlungsprozesse? Erziehungswissenschaft zwischen fachgesellschaftlichen Empfehlungen und ausdifferenzierter Studiengangslandschaft (Teil III),
- Peter Vogel: Strukturwandel als Identitätsbalance der Disziplin? Ein Gedankenexperiment
- Susann Hofbauer: Von Action Research zu Policy Experimentation in Education. Die Verschränkung von Bildungsforschung und Bildungspolitik in Dokumenten der OECD/CERI seit den 1990er Jahren (Teil IV),
- Steffen Großkopf: Strukturwandel und erziehungswissenschaftliche Wissensproduktion. Skizze einer politischen Ökonomie der Erziehungswissenschaft und ihrer Pädagogik (Teil IV),
- Patrick Bettinger: Digitalisierung als Triebfeder für Strukturwandel in der Erziehungswissenschaft? Eine Perspektive aus der Diskursforschung (Teil IV).
Edwin Keiner: Strukturwandel der Erziehungswissenschaft? Sach-, Zeit-, Raum- und Sozialdimension
Keiner versteht Strukturen als „sedimentierte und oft in eine organisatorische Form gegossene Ordnungssysteme“ (S. 37) und deren Wandel sowohl räumlich-synchron als als auch zeitlich-diachron, letzteren „linear“, „zyklisch“ oder „nicht-linear-ungerichtet“. Er verfolgt den Strukturwandel angelehnt an Niklas Luhmann in der sachlichen und sozialen, räumlichen und zeitlichen Dimension. Der sachlichen Dimension der Erziehungswissenschaft ordnet er die Gegenstände und Methoden dieser Wissenschaft zu, der sozialen Dimension die Erziehungswissenschaft als Institution, der räumlichen die synchronen Differenzen und der zeitlichen die diachronen Transformationen. Man könnte auch von den vier Perspektiven der Wissenschaftstheorie und -soziologie, der vergleichenden und historischen Wissenschaftsforschung sprechen.
Katharina Vogel und Daniel Erdmann: Wissen – Erziehungswissen – Erziehungswissenschaft. Strukturen und Strukturwandel wissenschaftlich-pädagogischen ‚Grundwissens‘ zwischen 1750 und 1850
Vogel und Erdmann untersuchen 34 deutschsprachige „Entwürfe wissenschaftlicher Pädagogik“ im ersten Jahrhundert dieser Theorie im Hinblick auf Referenzen auf andere Autoren. Diese Verweise sind so heterogen, dass kaum irgendeine Struktur erkennbar wird. Interessant ist aber, dass es die „Importreferenzen“ vor allem aus der Philosophie sind (Sokrates, Platon, Locke, Rousseau, Pestalozzi, Kant, Hegel), die vor 1800 und nach 1850 wirkungsgeschichtlich relevant geworden sind, weniger die eigentlich pädagogischen Autoren.
Nicole Balzer und Johannes Bellmann: Zwischen Disziplin und Profession. Zur Hervorbringung differenter Wissensformen in erziehungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen
Balzer und Bellmann zeigen, wie erziehungswissenschaftliches Wissen in entsprechenden Lehrveranstaltungen auf andere Wissensformen bezogen und von ihnen abgegrenzt wird. Dabei wird das wissenschaftliche Wissen als systematisch statt arbiträr, analytisch statt emotional, theoretisch statt praktisch und normativ-kritisch statt normativ-affirmativ konstruiert.
Janusz Wilden: Zu Gast bei Freunden? Wandlungen im Verhältnis von Bildungsphilosophie und empirischer Bildungsforschung
Wilden widmet sich dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Bildungsphilosophie und -forschung und unterscheidet drei „Formen der diskursiven Versöhnung“ (S. 194) zwischen diesen beiden Zugängen zur Bildung. In der ersten Form werden Differenzen eingeebnet und Gemeinsamkeiten identifiziert, in der zweiten umgekehrt die Differenzen betont, aber ebenso die gegenseitige Abhängigkeit und in der dritten die Differenzen radikalisiert, die bei grundsätzlicher wechselseitiger nur noch gewechselt oder in weitere Perspektiven transformiert werden können.
Diskussion
Diskutabel wären nur die einzelnen Beiträge des Bandes, was aber Einzelbesprechungen gleichkäme. Auf der Ebene des Sammelbandes spiegelt sich, was für die meisten Tagungsbände gilt: Es bleibt bei einer lose sortierten Addition von sehr verschiedenen einzelnen Beiträgen. Den Herausgebern ist es hoch anzurechnen, dass Sie zumindest den Versuch unternommen haben, Teil I mit seinen „wissenschaftstheoretischen und erziehungssoziologischen Zugängen“ und den ersten drei Texte des Bandes als Referenzen herzunehmen, auf die sich die anderen Autoren beziehen sollten. Das ist mit Abstrichen durchaus gelungen.
Fazit
Der Tagungsband bietet für wissenschaftstheoretisch interessierte Leser*innen eine Fundgrube an Kenntnissen und Einsichten. Ohne ein solches grundsätzliches Interesse wird die Lektüre nicht nachhaltig sein.
Rezension von
Prof. Dr. Ulrich Papenkort
Professur für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Mainz
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Es gibt 51 Rezensionen von Ulrich Papenkort.
Zitiervorschlag
Ulrich Papenkort. Rezension vom 18.02.2021 zu:
Ulrich Binder, Wolfgang Meseth: Strukturwandel in der Erziehungswissenschaft. Theoretische Perspektiven und Befunde. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2020.
ISBN 978-3-7815-2394-4.
Reihe: klinkhardt forschung. Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft - 47.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27460.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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