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Annelie Ramsbrock: Geschlossene Gesellschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 17.09.2020

Cover Annelie Ramsbrock: Geschlossene Gesellschaft ISBN 978-3-10-002517-3

Annelie Ramsbrock: Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch: eine bundesdeutsche Geschichte. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2020. 415 Seiten. ISBN 978-3-10-002517-3. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thematische Einführung

Die Freiheitsstrafe ist in Deutschland, nachdem die Todesstrafe nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 abgeschafft wurde, die härteste Kriminalsanktion. Hierbei soll diese Strafe, wie in § 2 des Strafvollzugsgesetzes festgelegt, vorrangig die Aufgabe haben, den Gefangenen zu resozialisieren, ihn in die Gesellschaft wieder einzugliedern. Die Verwirklichung des Resozialisierungszieles des Strafvollzuges stieß im Laufe der Jahre immer wieder auf Widerstände in der breiten Bevölkerung und damit der Politik, insbesondere in Zusammenhang mit der Forderung nach möglichst viel Sicherheit vor weiteren Straftaten. Hierbei spielte auch eine sich ändernde punitive Einstellung eine wesentliche Rolle, die auch von politischer Seite, insbesondere um Zustimmung zu erhalten und Wählerstimmen zu gewinnen, genutzt wurde. Die Öffentlichkeit ist in aller Regel wenig über Kriminalität, deren Hintergründe, über Kriminalstrafen und deren Wirkung informiert. Als probates Mittel zur Reduzierung von straffälligem Verhalten wird vor diesem Hintergrund von politischer Seite weitgehend eine Verschärfung der Sanktionen empfohlen.

Ramsbrock diskutiert in ihrem Band die Geschichte der Gefängnisreform im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie stellt die kritische Frage, wieweit es gelungen ist, die gesetzlich formulierten Ideale in der Wirklichkeit des Gefängnisalltages wirklich umzusetzen. Wieweit konnte etwa der Alltag in Vollzugsanstalten, wie theoretisch gefordert, dem Leben in Freiheit tatsächlich angeglichen werden, welche Widerstände blockierten eine Resozialisierung der Inhaftierten – teilweise bis heute?

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält neben einer in die Thematik einführenden Einleitung (S. 7–22) insgesamt drei Teile und ein „Fazit“. Resozialisierung der Gefangenen sei bereits 1954 von der Großen Strafrechtskommission einstimmig als wesentliches Ziel des Strafvollzugs eingeführt worden. „Was Resozialisierung allerdings sein sollte, wusste zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand zu sagen“ (S. 9). Vor allem an Außenstehenden könne die Situation in einer Gesellschaft beurteilt werden, wobei Gefangene mit Ausnahme der RAF-Gefangenen kaum eine Rolle in der Untersuchung bundesdeutscher gesellschaftlicher Bedingungen gespielt hätten. Die Autorin betrachtet die „Gefängnisreform als Brennglas gesellschaftspolitischer Entwicklungen“ (S. 12). Es ginge um den „paradoxen Fall, dass ein Mensch aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, um ihm beizubringen, wie er sich innerhalb der Gesellschaft zu verhalten hat“ (S. 12). Das Gefängnis „ist ein Lebensraum, in dem sich eine nach eigenen Logiken waltende Gesellschaft formiert…“ (S. 18).

Im ersten Teil (S. 23–86) geht die Autorin unter dem Titel: „Strafvollzug und Menschenformung: Die Resozialisierungsidee im 20. Jahrhundert“ zunächst auf die Praxis der Freiheitsstrafe bis 1945 ein, vor allem auch auf die Frage, wieweit straffälliges Verhalten angeboren ist. Weiterhin werden die Entwicklung der Kriminologie in der Nachkriegszeit diskutiert und „Internationale Richtlinien und bundesdeutsches Verfassungsrecht“ dargestellt.

Die Alliierten hätten nach dem Zweiten Weltkrieg mit den „Grundsätzen für die Verwaltung der deutschen Gefängnisse und Zuchthäuser“ dem deutschen Strafvollzug „ein neues Gesicht“ geben wollen (S. 25). Hier sei neben einer genauen Umsetzung der Gerichtsurteile vor allem „die Rehabilitierung und Umerziehung der Verurteilten“ unter Anwendung psychologischen Wissens gefordert worden. In nationalsozialistischen Zeiten seien Vollzugsanstalten vielfach Häuser des „Schreckens“ gewesen, sollten die Insassen „unschädlich“ machen. Gewalt durch das Aufsichtspersonal sei allgemein üblich gewesen, eine öffentliche Kontrolle über den Strafvollzug habe gefehlt, es sei vor allem um Vergeltung gegangen (S. 30). Vielfach wurde noch von einer erbbiologischen Grundlage straffälligen Verhaltens, dem „geborenen Verbrecher“, ausgegangen (S. 32). Vor allem einschlägige psychiatrische Zwillingsforschungen zu Erbanlagen hätten den „Umgang des NS-Regimes mit Kriminellen epistemisch“ vorbereitet (S. 32). Die Vorstellung der „Unverbesserlichkeit“ der Täter „überschattete den Erziehungsgedanken Ende der 1920er Jahre zunehmend“ (S. 35).

Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten Vertreter der Kriminalbiologie, die während der Nazi-Zeit eine wesentliche Rolle spielten, ihre Karriere oft in der BRD fortsetzen können. Bis in die 1950er Jahre habe ein kriminalbiologischer Ansatz fortbestehen können, was allerdings auch für die USA gelte. Erst allmählich habe der Gedanke der Beeinflussung von Verhalten durch die frühe Sozialisation an Bedeutung gewonnen. In den 1960er Jahren sei die Sozialisationstheorie zum wesentlichen Erklärungshintergrund von (abweichendem) Verhalten geworden, es habe eine zunehmende „Soziologisierung“ der Kriminologie stattgefunden (S. 41).

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Resozialisierung des Täters als Ziel der Freiheitsstrafe erhoben worden, der Begriff sei allerdings schon vorher aufgetaucht (S. 44). Bereits Karl Liebknecht [1] habe auf die Entfremdung der Inhaftierten von der Gesellschaft statt einer Integration hingewiesen. In den Nachkriegsjahren hätten vor allem auch Einflüsse aus den USA bei der Umgestaltung des deutschen Strafvollzugs eine Rolle gespielt. Dort seien Gefangene nicht nur als Täter, sondern auch als „Opfer der Gesellschaft“ angesehen worden, denen soziale Hilfe angeboten werden müsse (S. 46). Kriminologisch bedeute der Verweis auf den ungünstigen Lebenslauf des Täters, „dass ein als Opfer der sozialen Umstände gedachtes Täter-Subjekt nur bedingt für seine Taten verantwortlich gemacht werden konnte, während die Gesellschaft, die diese Lebensumstände zugelassen hatte, ihm oder ihr gegenüber als in der Verantwortung stehend wahrgenommen wurde“ (S. 54). Die Resozialisierung sei zum „Allheilmittel gegen Kriminalität“ erhoben worden (S. 55).

Erst Mitte der 1960er Jahre habe der Resozialisierungsgedanke dann auch in Deutschland die Freiheitsstrafe bestimmt, habe Verfassungsrang erhalten (S. 57). Die Entwicklung der Sichtweise von Resozialisierung der Gefangenen als Menschenrecht wird auch vor dem Hintergrund des Einflusses etwa von Seite der US-amerikanischen Militärregierung dargestellt. Schon damals sei gefordert worden, für jeden Inhaftierten einen individuellen Behandlungsplan zu entwickeln. Insbesondere von US-amerikanischer Seite seien konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der Situation von Inhaftierten gemacht worden. Der Einfluss der Besatzungsmächte nach dem Krieg hinsichtlich einer Umgestaltung des Strafvollzugs sei in den einzelnen Zonen unterschiedlich gewesen. In der französischen Besatzungszone habe etwa der Erziehungsgedanke eine untergeordnete Rolle gespielt, der Strafvollzug sei nach französischem Vorbild deutlich restriktiver gewesen. In den Vollzugsanstalten der Sowjetzone sei es vor dem Hintergrund von Hunger, Kälte und Krankheit anfangs vor allem um das reine Überleben gegangen.

Da der Strafvollzug Ländersache geworden sei, habe es einheitliche Strafvollzugsrichtlinien nicht gegeben. Die Entwicklung hin zu einer einheitlichen Regelung, die Widerstände von verschiedenen Seiten, werden detailliert dargestellt und diskutiert. Die Entwicklung hin zu vermehrten Forderungen nach einer Verbesserung der Strafvollzugsbedingungen sei stark vom Lebensstandard in der Bevölkerung in der Nachkriegszeit abhängig gewesen, der Strafvollzug sollte kein „Hotelvollzug“ sein (S. 69). Kritische Medienberichte hätten Anfang der 1960er Jahre auf die vielfach wenig resozialisierungsfreundliche Situation in Vollzugsanstalten, etwa eine vielfach vorhandene Überbelegung, hingewiesen (S. 70). Wenige Jahre später hätten bekannt gewordene Misshandlungen und vertuschte Todesfälle in der Kölner Anstalt „Klingelpütz“ neben Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Vollzugsbedienstete zu heftiger Kritik und Forderungen nach Reformen beigetragen. Der Rechtsstaat dürfe nicht am „Gefängnistor“ enden, eine „Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit“ [2] müsse beendet werden (S. 72). Bald seien weitere Misshandlungsfälle in deutschen Gefängnissen, so etwa in Hamburg, aufgedeckt worden.

Die Klärung der Rechtsverhältnisse von Gefangenen in Zusammenhang mit dem „besonderen Gewaltverhältnis“ sei immer dringender geworden (S. 76). „Im Verlaufe eines Jahrzehnts … hatte sich das Strafverständnis in der Bundesrepublik gewandelt, jedenfalls auf dem politischen Parkett“ (S. 77). Ramsbrock deutet die Entwicklung „als Ausdruck der allgemeinen ‚Therapeutisierung der Gesellschaft‘ seit den späten 1960er Jahren“ (S. 77). Der Straftäter sei in der Diskussion zunehmend „nicht mehr nur als Täter einer Straftat begriffen (worden), sondern zudem als Produkt sozialer oder persönlicher Umstände“ (S. 81). Der Staat sei nach dem „Lebach-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, die „geeigneten und erforderlichen Mittel zur Sozialisation“ für benachteiligte Gruppen der Gesellschaft bereitzustellen, dazu gehörten auch Gefangene und Entlassene [3]. Unklarheit habe teilweise darüber bestanden, was der Begriff der Menschenwürde überhaupt meine (S. 82). Mit dem Erlass des Strafvollzugsgesetzes 1973 sei das Vollzugsziel der Resozialisierung „aus der Achtung der Menschenwürde hergeleitet und zugleich auf sie ausgerichtet worden“ (S. 85). In der Öffentlichkeit habe es durchaus Widerstände gegen die Entwicklung gegeben (S. 86). Der Rechtsbrecher sei in größeren sozialen Zusammenhängen gesehen worden.

Im zweiten Teil (S. 87 ff.) diskutiert die Autorin das „Gefängnis als Ort der Resozialisierung“. Besondere Bedeutung habe hier auch der Aufsichtsdienst erhalten, dem ab Mitte der 1960er Jahre eine wesentliche Rolle bei der Resozialisierung zugesprochen worden sei, da dieser die intensivsten Kontakte zu den Inhaftierten habe (S. 91). Früh sei eine gute Ausbildung und eine angemessene Bezahlung gefordert worden. Die Geschichte des Strafvollzugs sei vor allem auch eine Geschichte seines Personals. Aufsichtsbedienstete sollten sich in Deutschland durch „warme menschliche Regungen“ auszeichnen. [4] Die Militarisierung des Strafvollzugs in nationalsozialistischer Zeit habe allerdings ihre Spuren hinterlassen (S. 99). Strafzwecke von Schuld und Sühne seien in den 1950er Jahren noch aktuell gewesen, „unangebrachte Milde“ sei zu vermeiden gewesen (S. 100). Aufsichtsbeamte hätten „oftmals mit dem auf liberalen Grundsätzen basierenden Resozialisierungsgedanken bis in die 1960er Jahre hinein wenig anfangen“ können (S. 101). Ende der 1960er Jahre sei der „reformerische Anspruch auf ein ‚pädagogisches Klima‘ noch eine Illusion“ gewesen (S. 108). Anfang der 1970er Jahre habe unter Vollzugsexperten Einigkeit darüber geherrscht, dass im Sinne eines Resozialisierungsvollzuges die Rolle der Aufsichtsbediensteten und deren Ausbildung verändert werden müsse (S. 109). Entsprechende Trainingsprogramme für Vollzugsbedienstete seien mehr und mehr entwickelt worden.

In einem weiteren Kapitel wendet sich die Autorin der Bedeutung der Gefangenenarbeit zu (S. 126 ff.). Der Arbeit sei zunehmend eine therapeutische Bedeutung zugesprochen worden, in den Anstalten habe Arbeitspflicht bestanden. Auch die Freizeit habe mehr und mehr eine wichtige Rolle im Gefängnisalltag gespielt, habe der „Selbstbildung“ dienen sollen (S. 128). Unterschiedliche Arbeitssysteme werden vorgestellt. Gefängnisarbeit habe vor allem niedrig qualifizierte Tätigkeiten in Betrieben der Anstalt bedeutet. Die Gefangenen seien selbst arbeitsmotiviert gewesen, da Arbeitslosigkeit, wie die Autorin am Beispiel der JVA Berlin-Tegel deutlich macht, in der Regel ein vermehrtes Eingeschlossensein auf der Zelle bei eingeschränktem Rundfunkprogramm und Lesemöglichkeit bedeutete. Andere europäische Länder hätten in den 1960er Jahren ein Recht auf Arbeit eingeführt. Gefangenenarbeit zu reformieren habe in Deutschland in Zusammenhang mit dem Strafvollzugsgesetz vor allem bedeutet, „sie mit dem Faktor Therapie zu verknüpfen, wobei der Bildung eine Brückenfunktion zukam“ (S. 145).

Arbeit im Gefängnis habe vor allem auch der Schuldentilgung und der wirtschaftlichen Absicherung nach Haftentlassung zu dienen. Damit habe auch die Aus- und Fortbildung eine besondere Bedeutung erhalten, das vor allem auch, weil viele Gefangene weder eine Ausbildung noch besondere Fachkenntnisse hatten. Die Ausbildungsmöglichkeiten hätten sich in den 1960er Jahren erheblich ausgeweitet, damit „entwickelte sich nun auch die Resozialisierung von Strafgefangenen als ein neuartiger bildungspolitischer Auftrag“ (S. 149). Von kriminologischer Seite sei früh auf eine gerechte und angemessene Entlohnung hingewiesen worden, um den Wert der Arbeit zu vermitteln. Eine gerechte Entlohnung diene vor allem auch einer Schadensbegleichung bei den Opfern von Straftaten und der Unterstützung der Familien der Inhaftierten. Neben einer Arbeitserziehung müsse auch eine solche zu einem angemessenen Freizeitverhalten erfolgen, „das für eine erfolgreiche Resozialisierung ebenso wichtig sei wie die Arbeit“ (S. 156). Erst allmählich sei die Bedeutung der Freizeitgestaltung für eine Resozialisierung erkannt und betont worden. Die Vorstellung eines lebenslangen Lernens, einer Erwachsenenbildung, habe sich auch auf die Freizeitvorstellungen in Haft ausgewirkt. In der Freizeit sollten vor allem auch Kontakte zur Außenwelt hergestellt und gepflegt werden können. Die Autorin erläutert die Entwicklung von Freizeit, Anstaltssport, künstlerischen Aktivitäten und Ausbildung detailliert an zahlreichen Beispielen. Bereits Mitte der 1970er Jahre habe man empirisch belegen können, „dass Insassen, die regelmäßig an Sportveranstaltungen teilnahmen, weniger aggressiv waren und sich auch ansonsten als sozial kompetenter erwiesen als andere, die entsprechende Angebote nicht wahrnahmen“ (S. 177). Das Sportangebot habe auch einer intensiveren Pflege von Außenkontakten gedient, etwa durch Organisation von Spielen mit Mannschaften der freien Gesellschaft.

In einem eigenen Kapitel geht die Autorin auf „Besondere Maßnahmen: Sozialtherapie und Kastration“ ein (S. 195 ff.). Sozialtherapie sollte in besonderen Anstalten für ausgewählte Täter stattfinden. Die Diskussion um Sinn und Zweck der Sozialtherapie und die Zielsetzung der Anstalten wird dargestellt. Die Initiative zur Einführung psychotherapeutischer Behandlung im Strafvollzug sei 1966 im „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches“ ergriffen worden, wo Sozialtherapeutische Anstalten als Neuerung vorgeschlagen worden seien (S. 198). Anregungen seien hierbei etwa von Vorbildern aus Dänemark ausgegangen. In Deutschland sei eine psychotherapeutische Behandlung Straffälliger im Strafvollzug von Vollzugspraktikern weitgehend noch eher ablehnend gesehen worden. 1969 sei dann im Zweiten Strafrechtsreformgesetz die Möglichkeit der „Unterbringung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt“ beschlossen worden (S. 200). Die Autorin geht kurz auf die Einrichtungen entsprechender Anstalten und die Behandlungsmodelle ein. Die Reformdiskussion und der vielfach fehlende Reformwille werden kritisch dargestellt. Sei in den 68er Jahren noch eine Reformbereitschaft zu erkennen gewesen, sei diese in den folgenden Jahren, auch in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Veränderungen, zunehmend zurückgegangen.

Insbesondere in Teilen der Öffentlichkeit sei die Freiheitsstrafe nach wie vor als Vergeltungsmaßnahme, weniger als Mittel zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft gesehen worden, trotz einer erreichten Senkung der Rückfallquoten. Dem Außenkontakt sei im Wiedereingliederungsprozess ein hoher Stellenwert eingeräumt worden. Deutlich wird an der Beschreibung von Einzelfällen, wie das „Wohl und Wehe einzelner Strafgefangener immer auch von dem persönlichen Engagement des leitenden Anstaltspersonals“ abhing (S. 217). Dass die Sozialtherapie auch von Inhaftierten akzeptiert und weitgehend unterstützt wurde, zeige sich bei der Auswertung von Berichten im „Lichtblick“ bereits 1971. Eine Berechnung der Rückfallquote habe ergeben, dass diese nach einer Behandlung in der Sozialtherapie Tegel deutlich reduziert werden konnte (S. 227). Hinzugekommen sei eine deutliche Reduzierung von Auffälligkeiten im sozialtherapeutischen Vollzug. In den 1970er Jahren sei hinsichtlich Sexualstraftätern die Diskussion um eine Hormonbehandlung, eine „hormonale Kastration“ vermehrt aufgekommen. Anfang der 1970er Jahre sei die chirurgische Kastration im Gefängniskontext gegenüber der Hormonbehandlung bevorzugt worden. Bei Sexualstraftätern sei die Ursache für ihr abweichendes Verhalten „nicht in der Sozialisation gesucht“ worden, „sondern vielmehr in biologischen Determinanten“ (S. 231).

Gesetze, die eine freiwillige Kastration zuließen seien nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen europäischen Ländern erlassen worden. „Obwohl die chirurgische Kastration dem Resozialisierungsparadigma fundamental widersprach, wurde sie auf die gleiche Weise wie die Sozialtherapie legitimiert“ (S. 235). Erst 2010 sei aufgrund eines kritischen Berichts des „Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ (CTP) die Bundesregierung aufgefordert worden Schritte zu unternehmen, „um die Anwendung der chirurgischen Kastration im Rahmen der Behandlung von Sexualstraftätern in allen Bundesländern einzustellen“ [5] (S. 246). Bis heute sei die Bundesregierung dieser Aufforderung allerdings nicht nachgekommen, auch eine erneute Intervention des CPT von 2015 sei von der Bundesregierung ebenfalls im Wesentlichen mit dem Argument der Kriminalprävention zurückgewiesen worden.

Im dritten Teil (S. 249–293) geht die Autorin auf „Eigenlogiken der Gefängnisgesellschaft – Grenzen der Resozialisierung (1970er/​1980er) Jahre“ ein. Kritisch wird die Frage diskutiert, wieweit eine Resozialisierung in einer Welt, in welcher alles reglementiert ist, „schon für die Auslieferung einer zusätzlichen Briefmarke oder für eine geringe Verlängerung der Besuchszeit zunächst einmal einen schriftlichen Antrag“ erfordert habe, überhaupt möglich sei (S. 252). Im Rahmen der Reformdebatten um den Strafvollzug habe der „Zielkonflikt zwischen In-Gewahrsam-Nehmen und Resozialisierung“ sich noch zugespitzt (S. 252). Die negativen Folgen der Inhaftierung seien zunehmend diskutiert worden. Prisonisierung beschreibe einerseits die Gewöhnung des Inhaftierten an den Anstaltsbetrieb und das Erlernen der Techniken, andererseits die Übernahme einer Häftlingskultur [6] (S. 252 f.). Ein „Entpersönlichungsprozess“ würde bereits mit der Aufnahmeuntersuchung in eine Haftanstalt beginnen, einem Vorgang, der auch die Machtverhältnisse deutlich machen solle (S. 253). Körperstrafen, wie „verschärfter Arrest“, „Kostschmälerung“ oder „hartes Lager“ seien bis zur Schaffung des Strafvollzugsgesetzes an der Tagesordnung gewesen. Empirische Studien hätten bereits damals belegen können, wie sehr Außenkontakte der Inhaftierten diese vor einer Anpassung an die Subkultur im Vollzug schützen konnten. Das Aufbegehren der Inhaftierten richte sich vielfach gegen den eigenen Körper in Form von Selbstbeschädigung oder Suizid (S. 261).

Auch kritische Strafvollzugsreformer hätten auf die besondere psychische Belastung bei Gefangenen hingewiesen. Fasse man Feststellungen von verschiedener Seite zusammen, „so waren sich Gefangene und Verantwortliche durchaus einig, dass die Haft den Insassen beschädigen kann und daran auch die Reformversuche nichts geändert hatten“ (S. 266). Autonomie und Individualität der Gefangenen seien vom Strafvollzug als Behinderung einer Resozialisierung gesehen worden. An dem Thema Sexualität diskutiert die Autorin die Bildung von Subkulturen in Haft. Erst in den 1970er Jahren sei es zu einer Lockerung der Sexualmoral gekommen. Teilweise sei gefordert worden, die Außenkontakte zu intensivieren.

Was die Gefängnisreform betrifft sei gerade von Insassen auf die Problematik hingewiesen worden, wie man einen Täter in die Gesellschaft integrieren wolle, indem man ihn aus dieser herausreiße (S. 278). Auch von kriminologischer Seite sei das Resozialisierungskonzept immer wieder kritisch betrachtet worden, es sei auf die „strukturelle Gewalt“ des Systems hingewiesen worden, die „als soziale Hilfe getarnt worden“ sei (S. 279). Die gleichbleibend hohen Rückfallraten seien vor allem darin gesehen worden, dass die „Institution Gefängnis … sich trotz aller Reformversuche über mehr als ein Jahrzehnt hinweg nicht wesentlich verändert“ habe (S. 282). In diesem Kontext sei bereits 1980 von Gefangenen in der JVA Tegel im „Lichtblick“ eine „Behandlung in Freiheit“ gefordert worden (S. 282). „Soziologen und Kriminologen hatten den Resozialisierungsvollzug seit den 1960er Jahren gefordert und waren doch seit den 1980er Jahren seine größten Kritiker“ (S. 283), was die Autorin mit dem Generationen- und Paradigmenwechsel erklärt, vor allem aber auch damit, dass sich der Strafvollzug nicht in dem Maße verändert habe, wie man hätte erwarten können.

Große Hoffnungen seien in das Strafvollzugsgesetz gesetzt worden, das dann 1977 in Kraft getreten sei und in dem das Resozialisierungsziel an erster Stelle genannt wurde. „Ändern sollte dieser Umstand allerdings nichts daran, dass der Glaube an die Möglichkeit der Transformation von Gefängnissen in Sozialisationsinstanzen bei den meisten Beobachtern bereits verloren gegangen war und stattdessen die Rede von der ‚Krise der Resozialisierung‘ zu einem viel bemühten Topos wurde“ (S. 285). Von Seite der Gefangenen seien am Strafvollzugsgesetz vor allem auch die nach wie vor begrenzten Möglichkeiten einer Kommunikation mit der Außenwelt kritisiert worden. Der Resozialisierung käme in Wirklichkeit nur eine Alibifunktion zu. Verwaltungsvorschriften würden im Gesetz genannte Regelungen vielfach einschränken. „Im Ergebnis gestand das neue Gesetz den Strafgefangenen nur wenige persönliche Rechte zu, während die Anstaltsleitungen sich weiterhin auf ihre Handlungshoheit berufen konnten“. Mit „Generalklauseln“ habe sich ergänzend „nahezu jede zusätzliche Freiheitsbegrenzung des Insassen begründen“ lassen (S. 288).

Ein kurzes „Fazit“ (S. 295–308) schließt den Band ab. „Ausgerechnet diejenigen Maßregeln des deutschen Strafrechts, die kriminelles Verhalten am sichersten verhindern, entsprechen internationalen Rechtsnormen nicht oder nicht in der Art und Weise, wie die Bundesrepublik sie umsetzt oder umgesetzt hat“ (S. 295). So habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa die Sicherungsverwahrung für unangemessen erklärt. Das deutsche Strafsystem könne „internationalen Rechtsnormen kaum standhalten“ (S. 295). Resozialisierung habe dem Wunsch nach Vergeltung weichen müssen. In der Geschichte der Resozialisierung spiegele sich „ein Stück weit die politische Geschichte der Bundesrepublik“ wider (S. 297). Traditionelle Orientierungen würden nach wie vor die Einstellungen zu einem angemessenen Strafvollzug bestimmen.

Die Praxis des Strafvollzuges sei von Reformvorstellungen deutlich abgewichen. „Resozialisierung, so legt zumindest die historische Sicht es nahe, wurde nie ernsthaft versucht und möglicherweise auch nie ernsthaft gewollt“ (S. 301). So habe sich etwa die Einstellung des Aufsichtsdienstes gegenüber den Inhaftierten kaum verändert. Auch in der Regelung der Gefangenenarbeit, etwa der Entlohnung, habe sich wenig verändert. Es spreche „nicht vieles dafür, dass das pädagogische Klima, das den Strafvollzug der Idee nach prägen sollte, ihn tatsächlich prägte“, mit Ausnahme der Sozialtherapeutischen Anstalten (S. 303). In diesen sei „eine Lockerung der Lebenswelt Gefängnis überhaupt nur ansatzweise“ umgesetzt worden (S. 304). Prisonisierung habe die Gefangenen weit mehr geprägt, als Resozialisierungsbemühungen, die „Sozialisation“ habe sich vorrangig auf das Erlernen der „Subkultur des Gefängnisses“ beschränkt. „Dies lief dem Resozialisierungsziel zuwider, doch für das Leben und auch Überleben hinter Gittern war es offenbar von großer Wichtigkeit“ (S. 305).

Das „Vollzugsziel der Resozialisierung“ würde „bis heute den Zweck der Freiheitsstrafe“ bestimmen (S. 307). „Bemerkenswert ist es dennoch, dass es bis heute keine nennenswerten Alternativen zur Freiheitsstrafe gibt, zumindest nicht in der Bundesrepublik Deutschland“. Abschließend betont Ramsbrock, „dass das Resozialisierungsparadigma gleichermaßen Teil der deutschen Vergangenheitsbewältigung und der Neuerfindung des bundesdeutschen Rechtsstaates war“. Dieses Resozialisierungsparadigma sei hinter den Gefängnismauern allerdings deutlich verblasst. Es folgt ein umfangreicher Anhang mit Anmerkungen, Literaturangaben und einem Register.

Zielgruppen

Der Band gibt einen detaillierten Überblick über die Entwicklung des Strafvollzugs in Deutschland vor dem Hintergrund der internationalen Diskussion um Strafe und Resozialisierung. Die Autorin geht differenziert auf Strafvollzugskonzepte wie Vergeltung, Erziehung bzw. Resozialisierung ein, vergleicht etwa die Situation im 19. Jahrhundert bzw. zur Zeit des Nationalsozialismus mit der neueren Entwicklung. Herausgearbeitet wird, wie sich etwa erbbiologische Ansätze allmählich zu sozialisationstheoretischen Denkweisen weiter entwickelten, auf theoretischer Ebene, in der Sichtweise der Inhaftierten und gegenüber der Vollzugspraxis. Besondere Aufmerksamkeit kommt der Rolle des Aufsichtsdienstes, den Arbeitsmöglichkeiten in Haft sowie Kontakten nach außen, etwa zu Familienangehörigen, hinsichtlich einer Wiedereingliederung der Gefangenen zu. Deutlich wird herausgearbeitet, welche Widerstände sich einem Resozialisierungskonzept von Seite der Anstalt aber auch der Inhaftierten in Zusammenhang mit einer Gefängnissubkultur und Männlichkeitsnormen der Gefangenen entgegenstellen. Die getroffenen Befunde sind ausführlich belegt, vor allem auch durch Stellungnahmen der Inhaftierten selbst, etwa in der Gefangenzeitschrift „Lichtblick“ aus der Vollzugsanstalt Berlin-Tegel.

Diskussion

Beeindruckend ist die Differenziertheit der Darstellung, vor allem auch was die Sichtweise der Inhaftierten selbst betrifft, ein Aspekt, der in der wissenschaftlichen Diskussion vielfach wenig beachtet wird. In zahlreichen dokumentierten Zitaten Gefangener, wie sie in Gefangenenzeitschriften geäußert wurden, wird deren Einstellung dargestellt. Deutlich werden in diesem Kontext die Unterschiede zwischen einer auf politischer Seite geführten Diskussion und den tatsächlich umgesetzten Verbesserungen in der Vollzugspraxis, auch die Rolle der Kriminologie. Beeindruckend ist vor allem auch die breite Literaturanalyse.

Fazit

Wer an dem Thema Gefängnis, Inhaftierung, Entwicklung des Strafvollzugs in historischer Sicht, vor allem auch in den letzten Jahrzehnten, interessiert ist, wird in dem Band von Ramsbrock zahlreiche differenzierte Informationen finden, vor allem auch hinsichtlich der Sichtweise der Inhaftierten selbst. Ausführlich und kritisch setzt sich die Autorin etwa auch mit dem Konzept der Resozialisierung auseinander, das ja in der öffentlichen als auch wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahrzehnte eine zentrale Rolle spielte. Wieweit wurden die politisch und wissenschaftlich diskutierten Ansätze in der Praxis wirklich umgesetzt, wieweit bestand und besteht auf kriminalpolitischer Seite ein überzeugender Wille für die Gestaltung eines Resozialisierungsvollzuges? Resozialisierung bedeutet, sich auf den Gefangenen einzulassen, das benötigt Zeit und gut ausgebildetes Vollzugspersonal. Formale Entscheidungen, ein „stures Beamtentum“ (S. 260) stehen Änderungen oft entgegen, wie an zahlreichen Beispielen gezeigt wird. Wenn sich der Strafvollzug, wie von der Autorin dargestellt, bis heute in zentralen Punkten kaum verändert hat, es immer wieder zu Rückschlägen gekommen ist, liegt das auch daran, dass sich Politiker, die verständlicherweise (wieder-)gewählt werden wollen, nach den Einstellungen der Öffentlichkeit richten. Hier kommen punitive Sichtweisen der in der Regel wenig informierten Bürger ins Spiel, die sich vor allem in Krisenzeiten verstärken, in denen der Ruf nach Recht und Ordnung meist zunimmt. Wer an einer Weiterentwicklung der Diskussion um Kriminalstrafen, einem konstruktiven Umgang mit Kriminalität und sozialer Abweichung, einer kritischen Auseinandersetzung zu Reaktionsformen hierauf und deren Hintergründe, interessiert ist, enthält durch die Lektüre des Bandes eine Fülle von Anregungen.

Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Sehr empfehlenswert.


[1] Karl Liebknecht (1918). Gegen die Freiheitsstrafe. In: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. IX, Berlin 1968, 391–396.

[2] Vgl. Ralf Dahrendorf (1965). Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München, S. 394.

[3] Vgl. Heinz Müller-Dietz (1970). Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform. Köln, S. 94.

[4] A. Friedrichs (1954). Zum Geleit. Der Vollzugsdienst 1, S. 1.

[5] Vgl. Report to the German Government on the visit to Germany carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 25 November to 7 December 2010, CPT/Inf (2011), 6, S. 59.

[6] Vgl. Kury, H., Obergfell-Fuchs, J. (2012). Rechtspsychologie. Forensische Grundlagen und Begutachtung. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 62.

Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (pens.)
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Es gibt 17 Rezensionen von Helmut Kury.

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Zitiervorschlag
Helmut Kury. Rezension vom 17.09.2020 zu: Annelie Ramsbrock: Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch: eine bundesdeutsche Geschichte. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2020. ISBN 978-3-10-002517-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27476.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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