Florian Blank, Markus Hofmann et al. (Hrsg.): Neustart in der Rentenpolitik
Rezensiert von Mag. theol. Lars Schäfers, 13.10.2020
Florian Blank, Markus Hofmann, Annelie Buntbach (Hrsg.): Neustart in der Rentenpolitik: Analysen und Perspektiven. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2020. 262 Seiten. ISBN 978-3-8487-6572-0.
Thema
Rente und Alterssicherung sind Dauerthemen in politischen und medialen Debatten und werden es auch in den nächsten Jahren bleiben. Nach den Leistungsverbesserungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung (im Folgenden: GRV) durch die Große Koalition der letzten Jahre steht die Weiterentwicklung des deutschen Alterssicherungssystems nämlich aktuell an einem Scheideweg: Soll der Reformprozess der Teilprivatisierung und der gleichzeitigen Schwächung der gesetzlichen Rente seit 2001 weiterverfolgt werden oder ist vielmehr eine Kehrtwende durch eine erneute Stärkung der gesetzlichen Rente vonnöten, um deren Akzeptanz und Legitimität nicht zu gefährden? Der Sammelband thematisiert Ansätze und Perspektiven für einen solchermaßen verstandenen Neuanfang in der Rentenpolitik.
HerausgeberInnen
Florian Blank ist Politikwissenschaftler und Leiter des Referats Sozialpolitik des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Markus Hofmann ist Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim DGB Bundesvorstand. Zuvor war er Beamter bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) und bekleidet seit 2001 mehrere ehrenamtliche Funktionen in der Gewerkschaft ver.di.
Annelie Buntenbach war bis Mai 2020 Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Entstehungshintergrund
Im Vorwort äußern die HerausgeberInnen, die allesamt einen gewerkschaftlichen Hintergrund haben, ihre deutliche Präferenz für die umlagefinanzierte Rente im Sozialversicherungsformat sowie ihren Reformoptimismus im Hinblick auf die GRV. Im Hintergrund stehen dabei nicht zuletzt die leistungsverbessernden Rentenreformpakete sowie die Grundrentendebatte der letzten Zeit. Vor dem Problemhorizont weiterhin zunehmender Altersarmut sowie abnehmender Lebensstandard- und Risikoabsicherung aufgrund der Leistungsminderungen in der GRV möchten die HerausgeberInnen mit diesem Band wissenschaftlich fundiert gute Gründe für eine beherztere Stärkung der Rentenversicherung vermitteln und zur Diskussion stellen.
Inhalt
Eine erste Sichtung des Status Quo der Rentenpolitik bietet der einführende Beitrag von Florian Blank. Nach der Phase des Rückbaus der Leistungen der GRV von 2001 bis 2012 befinden wir uns Blank zufolge nun in einer Zwischenphase: Mit dem Wegfall der Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger endete die Phase der Leistungsminderung. Mit den Leistungsverbesserungen der jüngsten Rentenpakete begann sodann eine Phase der Stabilisierung der GRV. Massive Kritik am teilprivatisierten Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung sowie die Sorge vor wachsender Altersarmut kennzeichneten die derzeitigen Debatten. Blank zeigt zum Schluss die beiden Wege auf, die nach der Zwischenphase beschritten werden können: Weiter so mit der Reformpolitik der Nullerjahre oder erneute Stärkung der gesetzlichen Rente.
Gerhard Bäcker fokussiert das Ziel der Lebensstandardsicherung durch die GRV. Wird dieses Ziel durch den Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik seit 2001 für immer weniger Menschen auch in der Mittelschicht gewährleistet, verliere die GRV weiter an Akzeptanz. Einen ersatzweisen weiteren Ausbau der privaten und betrieblichen Altersvorsorgesäule sieht Bäcker kritisch, auch in Form der Einführung einer allgemeinen Absicherungspflicht und eines Riester-Standardprodukts. Daher argumentiert Bäcker für eine Stärkung der GRV und hinterfragt dabei insbesondere die Tabuisierung höherer Rentenbeitragssätze. Diese könnten durch eine gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung ohne Realeinkommensverluste zu stemmen sein.
Ute Klammers Ausgangspunkt ist der Befund, dass immer weniger selbst derjenigen Menschen, die die gesellschaftliche Normalbiographie leben, im Alter vor Armut und Grundsicherungsbezug geschützt seien. Klammer macht darum konkrete politische Vorschläge, wie die Lebensleistung in der GRV gerade bei jahrzehntelanger Einzahlung im Sinne eines Risikoausgleichs etwa im Fall langjährigen Niedriglohnbezugs besser gewürdigt werden könnte. Sie setzt sich dabei nicht zuletzt kritisch mit dem aktuellen Konzept der Grundrente auseinander.
Tim Köhler-Rama argumentiert in seinem Beitrag, dass beide Kernziele, Armutsvermeidung und Lebensstandardsicherung, historisch schon immer zur GRV gehörten. Von hier aus geht er den unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in der Rente nach und prononciert den sozialen Ausgleich als Charakteristikum der GRV im Kontrast zur Privatversicherung. Armutspolitik auf Basis des Versicherungsprinzips sei Leitmotiv der Rentenreform von 1957 gewesen und solle es auch heute wieder sein.
Judith Anna Czepek kontrastiert in ihrem Beitrag die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit der Entflexibilisierung der GRV seit den Nullerjahren. Wegen der dadurch größeren Abhängigkeit der Renteneinkommen vom individuellen Erwerbsverlauf und -erfolg seien Reformen der GRV und der Arbeitsmarktpolitik nicht zu trennen, gerade in Zeiten der Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Unter anderem müsse daher der Niedriglohnsektor genauso angegangen werden wie etwa der Gender Pay Gap. Entsprechende Arbeitsmarktreformen seien mit mehr sozialem Ausgleich in der GRV zu verbinden.
Arthur Kaboth, Susanne Drescher und Martin Brussig bieten in ihrem Beitrag einen Überblick über die empirischen Befunde zu den Entwicklungen in der Erwerbstätigkeit Älterer. Die AutorInnen resümieren, dass angesichts der Zunahme älterer Erwerbstätiger insbesondere der Arbeits- und Gesundheitsschutz zu stärken sei.
Die Thematisierung der Probleme bei der Alterssicherung speziell von Frauen durchzieht nahezu alle Beiträge. Von Jutta Schmitz-Kießler werden sie aber noch einmal besonders fokussiert. Zur Minderung des Gender Pension Gaps seien Reformen sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Steuer-, Sozial- und Rentenrecht, und in letzterem insbesondere in Form einer Aufwertung von Niedriglöhnen und besseren Anerkennung der Zeiten von Care-Tätigkeiten, angezeigt.
Besagte Care- bzw. familiale Sorgearbeit nimmt sodann Patricia Frericks in ihrem Beitrag in den Blick. Sie kritisiert insbesondere deren Einstufung als „versicherungsfremde Leistungen“ und vergleicht ihre Absicherung anhand der bekannten Wohlfahrtsstaatstypologie von Gøsta Esping-Andersen in verschiedenen Ländern. Deutschland liege hierbei im Mittelfeld.
Ist Altersarmut (k)ein Problem? Dieser Frage geht Anita Tiefensee in ihrem Aufsatz nach. Steigende Zahlen von GrundsicherungsbezieherInnen und relativ Armen unter den RenterInnen seien von einer zu geringen Reichweite des Drei-Säulen-Systems sowie von den Leistungsminderungen in der GRV mitverursacht. Auch Tiefensee plädiert daher insbesondere für mehr sozialen Ausgleich im Rentensystem.
Camille Logeay et al. starten ihren Beitrag mit Kritik an Annahmen und Berechnungen zum demographischen Wandel. Neben dem dominanten Faktor des Altersquotienten werde insbesondere die Arbeitsmarktentwicklung zu wenig berücksichtigt; entsprechende Vereinfachungen verzerrten die Rentenreformdiskussionen, die hingegen stärker von den Potenzialen der Arbeitsmarktintegration bestimmt werden sollen.
Johannes Geyer nimmt das Drei-Säulen-Modell der Alterssicherung kritisch ins Visier. Verkannt werde zu oft, dass zum einen die GRV im Gegensatz zu Privat- und Betriebsrente eine umfassende Risikoabsicherung anbiete, zum anderen ein höherer gesetzlicher Rentenbeitrag zu der dann arbeitnehmerseitig geringer ausfallenden finanziellen Zusatzbelastung durch private und betriebliche Vorsorge in Relation gesetzt werden müsse. Dies dürfe in den Debatten um Rentenreformen nicht länger unberücksichtigt bleiben.
Die betriebliche Säule der Alterssicherung (bAV) ist Thema des Beitrags von Tobias Wiß. Während diese im Öffentlichen Dienst als Zusatzversorgung fast flächendeckend verpflichtend ist, beruhe sie trotz ihrer Bedeutung für die Lebensstandardsicherung im Alter in der Privatwirtschaft auf Freiwilligkeit und sei dementsprechend geringer verbreitet. Ein Blick auf die erfolgreichere Gestaltung der bAV in den Nachbarländern sei daher nötig.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Josef Wöss zum österreichischen Pensionssystem mit dessen starker gesetzlicher Rente, welches Wöss als Referenzmodell für eine Stärkung der GRV in Deutschland ansieht.
Diskussion
Dieser Sammelband ist in wünschenswert transparenter Weise tendenziös, laufen doch alle Beiträge auf einen, wie der Titel schon verrät, „Neustart in der Rentenpolitik“ im Sinne einer erneuten Stärkung der gesetzlichen Rente hinaus. Und diese Festlegung geschieht nicht zu Unrecht, nimmt man konsequent die Perspektive der im derzeitigen Zustand des Rentensystems am meisten Benachteiligten und Altersarmutsgefährdeten, insbesondere der Geringverdienenden oder familienorientierten Frauen, ein. Genau das geschieht nämlich in diesem Band weitestgehend. Dies bringt es mit sich, dass der Band von Wiederholungen der zentralen Grundprobleme, Charakteristika und Eckdaten des Rentensystems durchzogen ist. Die in vielen der Beiträge herangezogenen empirischen Befunde dazu, dass die gesetzliche Rente derzeit weder lebensstandardsichernd noch armutspräventiv ausgestaltet ist, sind von dieser normativen Perspektive aus betrachtet eindeutig. Die wesentliche These, auf die man in dem Band immer wieder stößt, ist kaum zu entkräften: Wenn die GRV selbst langjährigen BeitragszahlerInnen kein angemessenes Sicherungsniveau mehr bietet, verliert sie ihre Akzeptanz und Legitimität. Ob es möglich, sinnvoll und finanzierbar wäre, die Rentenpolitik neu zu starten und damit die Reformen seit 2001 in wesentlichen Teilen rückabzuwickeln, erscheint nach der Lektüre vordergründig naheliegend und nicht völlig undurchführbar. Doch auch von dem politisch realistischeren Szenario ausgehend, dass es grundsätzlich bei dem Mischsystem aus Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren von gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge bleibt, liefert der Band eine Fülle an Argumenten für die Möglichkeit und Notwendigkeit von Reformen am deutschen Drei-Säulen-Modell. Denn auch, wenn die GRV hier klar im Fokus steht, bleiben auch die anderen beiden Rentensäulen und ebenso ausgewählte internationale Vergleiche insgesamt nicht unberücksichtigt. Zu einseitig GRV-orientierte Betrachtungen der möglichen Reformoptionen konnten so insgesamt vermieden werden.
Fazit
Dieser Sammelband plädiert für einen „Neustart in der Rentenpolitik“. Er macht diese klare, gewerkschaftsnahe Positionierung durch normativ und empirisch fundierte Bearbeitung nahezu aller relevanten Aspekte des aktuellen Rentensystems vom demografischen Wandel über die Rolle des Arbeitsmarktes und von Genderfragen bis hin zur Gefahr ansteigender Altersarmut usw. stark. Die Breite und Qualität, die der Band mit seinen Analysen und Perspektiven zur Rentenpolitik bietet, scheint darum im Fachliteraturangebot zu diesem Thema nach aktuellem Stand (September 2020) konkurrenzlos. Umso besser, dass der Band via Open Access auf der Homepage des Nomos-Verlags frei zugänglich ist. Das Werk hat eine breite Rezeption verdient, und das nicht allein in den Fachdiskursen, sondern idealerweise auch gerade dort, wo Rentenpolitik gemacht wird.
Rezension von
Mag. theol. Lars Schäfers
Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neutestamentlichen Seminar an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Generalsekretär von Ordo socialis – Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre e.V.
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Es gibt 2 Rezensionen von Lars Schäfers.
Zitiervorschlag
Lars Schäfers. Rezension vom 13.10.2020 zu:
Florian Blank, Markus Hofmann, Annelie Buntbach (Hrsg.): Neustart in der Rentenpolitik: Analysen und Perspektiven. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2020.
ISBN 978-3-8487-6572-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27490.php, Datum des Zugriffs 05.12.2024.
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