Jannis Eicker, Andreas Eis et al. (Hrsg.): Bildung Macht Zukunft
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 23.04.2021
Jannis Eicker, Andreas Eis, Anne-Katrin Holfelder, Sebastian Jacobs, Sophie Yume (Hrsg.): Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation?
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
304 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1124-3.
D: 34,90 EUR,
A: 35,90 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Entstehungshintergrund und Thema
Alle Aufsätze des Bandes gehen direkt oder indirekt auf eine Konferenz mit dem gleichnamigen Titel im Jahr 2019 in Kassel mit ca. 400 Teilnehmenden zurück. Vorbereitet und gestaltet wurde die Konferenz von einem Organisationskreis aus ca. 20 Personen aus Feldern der formalen und non-formalen Bildung, von Wissenschaft und sozialen Bewegungen. Sie war, wie Jannis Eicker und Anne-Katrin Holfelder einleitend schreiben, getragen von der Motivation, die Diskussion über die Ursachen der sozial-ökologischen Krise aufrecht zu erhalten, Ansätze von Bildungsarbeit darzustellen und theoretische Impulse und praktische Umsetzung in Verbindung zu bringen.
Herausgeber:innen
Die Herausgeber:innen repräsentieren einen Teil des Organisationskreises: Die Wissenschaft vertreten die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Jannis Eicker (Fachgebiet Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Kassel), Anne-Katrin Holfelder (Institut für angewandte Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam) und Sebastian Jacobs (Lecturer am Department Erziehungswissenschaften der Universität Siegen). Sophie Yume ist Bildungsreferentin für postkoloniale Entwicklungs- und Rassismuskritik und studentische Mitarbeiterin an der Universität Kassel. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie verbindet soziale Bewegungen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft und steht für eine von allen getragene Wirtschaft, die ein gutes Leben für alle möglich macht (https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/).
Aufbau und Inhalt
In diesem Band sind 36 Einzelbeiträge enthalten, die, abgesehen von der Einleitung und der Position des Organisationskreises, vier thematischen Rubriken zugeordnet sind. Der Organisationskreis der Konferenz definiert transformative Bildung als kritisch-emanzipatorische Bildung, die auch Lernen so begreift. Dafür braucht es eine Bildung, die „politische Antworten auf gegenwärtige Herausforderungen“ (S. 18) in den Blick nimmt und Räume für Mitgestaltung bereithält, eine Bildung, die irritiert und inspiriert und Lernende beteiligt. Als Aspekte auf dem Weg zum „gemeinsamen Handeln“ (S. 19) werden „kollegiale Lern- und Austauschräume und solidarische Vernetzung“ (S. 19) benannt.
Teil 1: Bildung und Transformation (S. 25–91)
Einleitend analysiert Julia Lingenfelder, was sich hinter „transformativem Lernen“ und „transformativer Bildung“ in einigen Konzepten verbirgt. Sie identifiziert ein Verständnis von „Wissensvermittlung“ (z.B. im WGBU-Gutachten), von Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses (z.B. in den Konzepten von Jack Mezirow und Hans-Christoph Koller), der Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und ökologischen Krisen (z.B. bei Edmund O'Sullivan) sowie „kollektiver Praxis und Infragestellung von Hegemonie“ (S. 30) (z.B. bei Paolo Freire, Stephen Brookfield). Die Ansätze unterscheiden sich in ihrer Zielrichtung, ob eine individuelle, kollektive oder gesellschaftliche Transformation angestrebt wird, haben unterschiedliche Referenztheorien, favorisieren verschiedene Formate des Lernens und der Handlungsfelder u.a.m. Der Verfasserin fehlt die politische Dimension der Theorien inklusive der Auseinandersetzung mit politischen Inhalten. Den Rückgriff auf transformative Lerntheorien für eine sozial-ökologische Bildung hält sie zwar für verständlich, aus dem Blickwinkel einer kritischen politischen Bildung aber als zu kurz gegriffen.
Ebasa e.V., ein freier Bildungsträger zur globalisierungs- und rassismuskritischen Bildungsarbeit, beschreibt die Inhalte seiner Podcastreihe „Transformation und Bildung“, die im Rahmen der Konferenz ins Leben gerufen wurde (https://www.ebasa.org/publikationen/​podcasts/).
Worin das transformative Potenzial der Erlebnispädagogik als erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen liegt, extrapoliert Friederike Preuschen. An Wahrnehmungs- und Kooperationsübungen, wie z.B. beim Klettern oder bei einer Tour, demonstriert sie, wie die psychischen Ressourcen Genussfähigkeit, Selbstakzeptanz, Selbstwirksamkeit, Achtsamkeit, Sinngebung und Solidarität gestärkt werden, um individuelle Krisen- und Irritationsmomente zu bewältigen oder wie „kollektive Emanzipation“ (S. 40) vonstattengehen kann.
Lydia Galonska-Wäldele zeigt an der Planspielmethode und ihrer idealtypischen Aktionssequenzen transformatives Lernen auf und demonstriert die interaktive Lehrmethode anhand des Planspiels „Globaler Wandel – lokale Konflikte (GLOCON)“, bei dem es um Landkonflikte in einem fiktiven Staat geht. Trotz der dem Planspiel inhärenten reduzierten faktischen und didaktischen Komplexität entsteht bei den Teilnehmenden in der Reflexion ein hohes Maß an kritischer Auseinandersetzung mit den Inhalten, der eigenen Rolle und dem Vorwissen.
Helge Kminek und Philip Wallmeier setzen sich mit der Problemorientierung in der politischen Bildungsarbeit und ihrer Rolle für die sozial-ökologische Transformation auseinander. Sie kritisieren das Modell der Problemstudie, die stets Lösungsorientierung impliziert, während Umwelt- und Klimaschutz pädagogisch nicht zu lösen sind und solche Intentionen einer Verniedlichung gleichkommen. Dagegen setzen sie eine Erweiterung der Problemstudie durch konsequente und diskursive Problemorientierung.
Am Beispiel des Workshops, den Kathrin Leipold und Judith Mahnert beim Kongress durchgeführt haben, erklären sie die „zukunftsbezogene Ausrichtung des Kritikbegriffs“ (S. 64). Darunter verstehen sie, eine reflexive Potenz bei den Adressat:innen so aufzubauen, dass aus einer zukünftigen Perspektive eine kritische Haltung auf das Jetzt eingenommen werden kann. Das erfordert im Sinne von Bruno Latour, sich statt zu den „matters of fact“ zu den Dingen von Belang („matters of concern“) hinzuwenden, sie mit und in den Bedeutungs- und Erfahrungskontexten zu sehen und im Sinne von John Dewey wahrzunehmen und zu erleiden.
Am Beispiel der sozial-ökologisch transformativen Positionen des Konvivialismus und der Commons erläutert Sebastian Jacobs, wie die Konstruktion eines gemeinsamen Wir in der Differenz zur politischen Ordnung und des Politischen notwendig ist, zugleich aber auch gefährlich, weil sie das Gemeinsame imaginieren, Grenzen ziehen und exkludieren. Dennoch ist der partikulare Diskurs das einzig mögliche, um das Politische aufrecht zu erhalten und jedwede mächtige Ordnung zu hinterfragen.
Patrick Brehm demonstriert auf amüsante Weise den Lehrer:innen(schul)alltag und die zu erübrigenden Freiräume für Themen einer sozial-ökologischen Transformation zwischen affirmativer Schullaufbahnpraxis, theoretisch-empirischer Forschung und kritisch-emanzipativem Anspruch. Zugegebener Weise kann das nur gelingen, wenn die Berufsgruppe am Montagmorgen nicht übermüdet vom BNE-Wochenende berichtet, sondern wenn sie unterrichtsfertige, fachbezogene „Kopiervorlagen mit transformativem Potenzial“ (S. 90) erhalten.
Teil 2: Bildung und Herrschaft (S. 95–164)
Der Themenblock umfasst zehn Beiträge, darunter zwei dokumentierte Gespräche, die sich mit Aspekten des Zusammenhangs von Macht, Herrschaft und Bildung befassen.
Nadine Kaufmann stellt die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Implikationen von Postwachstum und Degrowth und das erstarkende Interesse an diesen Aspekten dar. Bildungsinstitutionen sind, so Kaufmann, in die institutionelle Logik des Systems nicht nur eingebunden, sondern replizieren es auch, weswegen BNE (oder Bildung im Kontext von Degrowth) Bildungsformate kreieren sollte, die sich eignen, implizite Normalitäten zu hinterfragen. BNE kann und darf nicht a-politisch gesehen werden (und sein) und sie ist es dort nicht, wo sie freiwillig ist und insbesondere in Kooperation mit Partnern non-formaler Bildungsarbeit.
Steffen Pelzel nimmt die Kritik an dem inhaltsentleerten oder zu einer „Konsensmaschine“ (S. 103) funktionalisierten Bildungsbegriff, wie er teilweise in Ansätzen zur BNE verwendet wird, zum Anlass, sich auf Heinz-Joachim Heydorn und dessen kritische Bildungsphilosophie und -theorie zu besinnen. Ihr ist inhärent, dass nicht nur aktuelle Widersprüche analysiert werden, sondern Vorstellungen entwickelt werden, wie eine sozial-ökologisch gerechte Zukunft aussehen kann. Von daher gedacht sind die aktuellen Verhältnisse zu skandalisieren sowie die Pädagogik und ihre impliziten Mündigkeitsvorstellungen zu hinterfragen.
Julia Lingenfelder, Karolin Kalmbach und Bettina Lösch haben mit ihrer Analyse von Materialien zur politischen Bildung entdeckt, dass „hinsichtlich eines Verständnisses von Klasse/​class“ (S. 110) eine große Leerstelle herrscht. Nach der Darstellung verschiedener Ansätze von Klasse/​class und Klassismus haben sie im Arbeitskreis für politische Bildung die Broschüre „What about class?“ entwickelt, die sie im Aufbau, in der Herangehensweise und mit den Grundannahmen vorstellen und Kriterien für die Vorbereitung von Unterrichts – und Seminareinheiten benennen.
Moritz Niehaus und Benjamin Hornung berichten über ihre fünftägige Seminarwoche „Alternativen zum Wirtschaftswachstum“, die sie als Bildungsurlaubsseminar viermal durchgeführt haben. Vorab skizzieren sie die Spannungsfelder gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, mit einer an Wirtschaftswachstum gekoppelten Lohnentwicklung einerseits, und einem steigenden Bewusstsein für Ökologie und Alternativen zum Wachstumszwang andererseits. Erfahrungen der Autoren zufolge trage das Seminarprogramm infolge des expansiven Lernens in den Seminargruppen dazu bei, die Diskrepanzerfahrungen zu thematisieren und u.a. innerhalb der Gewerkschaftsarbeit neu über Klima und Mobilität nachzudenken.
Fiona Faye, Franziska Müller und Lisa Ernst führen ein Gespräch über postkoloniale Perspektiven, die ihnen u.a. persönlich, in Bildungsinstitutionen und bei Handelsbedingungen begegnen und zeigen Konsequenzen auf, was aktives dekoloniales Handeln zu sozial-ökologischer Transformation beitragen kann. Sophie Yume interviewt Daniel Ayitey, einen ghanaer Konferenzteilnehmer zu seinen Highlights, die darin bestehen, zu hinterfragen, wessen Wissen gelehrt wird und wie Wissen auch von internationalen Studierenden integriert wird.
Sehr beeindruckend demonstriert Carolin Philipp, mit wie vielen hegemonialen Denkmustern die Geschichtsschreibung verbunden ist: Was wird ausgespart, was und wie wird erzählt, wer berichtet und von wem, wo sind die Gegengeschichten und welche Beweggründe stehen dahinter? Die von ihr nur kurz angesprochenen Beispiele sowie die Verweise auf die Zeitstrahlenmethode „Connecting the dots“ (www.connecting-the-dots.org/) und die entsprechenden eLearning Tools sind eindrückliche Beispiele, die in der Bildungsarbeit genutzt werden können.
In einem Interview mit Abraham Tangwe und Lou Herbst werden Aspekte von Sex, Gender, Hautfarbe u.a.m. in der sozial-ökologischen Bildungsarbeit als subjektiv wahrnehmbare Diskriminierung, aber auch als systemdominante Faktoren thematisiert.
Getriggert von einer einleitenden Beispielsituation zeigt Kalle Hümpfner zahlreiche Aspekte auf, wie Lehrende in der Bildungspraxis diskriminierungssensibel werden und damit Fernbleiben, Ausschlüsse, Benachteiligung, gut gemeinte, aber falsch inszenierte Thematisierung u.a.m. verhindert werden können.
Konstantin Scheffler berichtet von seinem Praxisbeispiel, an einer Grund- und Gemeinschaftsschule in Berlin einen kindgerecht angepassten Zukunftsrat nach dem Modell von Nanz und Leggewie (2018) zu etablieren. Neben einer umfangreichen Vorarbeit und der Ergänzung mit mediativer Kommunikation konnte der Rat etabliert und auch – wie intendiert auf Zeit – wirksam sein, Schule um die „vierte Gewalt“ der sog. „Konsultative“ ergänzen. Dem Verfasser ist wichtig, auf den kulturellen Wandel in der Schule als Voraussetzung hinzuweisen.
Teil 3: Bildung für nachhaltige Entwicklung und Globales Lernen weiterdenken (S. 167–225)
Dieser Abschnitt beinhaltet sieben Aufsätze, die sich mit den Implikationen von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) befassen und jeweils unterschiedliche Facetten beleuchten.
Zu Beginn steht eine grundsätzliche Überlegung von Steffen Hamborg, wie über BNE gesprochen werden könne, ohne damit einer „Verzwecklichung“ von Bildung „im Namen des Guten“ (S. 167) zu verfallen. Sein Plädoyer lautet deshalb, Wege zu finden, BNE nicht zu einer Affirmation des Bestehenden werden lassen, sondern informiert und reflexiv das, was gerade ist, kritisch zu hinterfragen, zu reformieren und zu überwinden, also nicht im Subjektiven zu verharren, sondern das System im Denken zu involvieren.
Diesen Faden spinnt Johanna Neuffer fort und zeigt anhand der staatlich geförderten (Schul-)Bildungsprojekte (Transfer-21 und BLK-Modellprogramm 21) auf, wie unter dem Leitbild der BNE die Gestaltungskompetenz der Schülerinnen und Schüler anvisiert wurden. Deren subjektive Verantwortungsübernahme für das Wissen um globale Zusammenhänge und ressourcenschonendes Verhalten müsse eingebettet sein in das Bewusstsein darüber, woher solche Strategien kommen und wo die Grenzen der Handlungsmacht bestünden.
Mandy Singer-Brodowski und Koautor:innen verdeutlichen am Beispiel von Lernwerkstätten, wie Schüler:innen, soziale Innovationsakteur:innen und non-formale Bildungsträger:innen u.a. in sog. Service Learning Projekten im Wechselspiel zwischen Aktion und Reflexion und begleitet von Lehrkräften, die sich speziell darauf vorbereitet haben, kritisch-engagiert lernen, sich selbstwirksam erfahren und auch die Auswirkungen des Tuns unmittelbar erleben.
Nilda Inkermann und Christoph Sanders leiten ihre Kritik am Konzept des globalen Lernens aus der Perspektive des „Neuen Materialismus“ (S. 191) ab. Die oben bereits monierten Punkte sind in dieser Position inbegriffen. Im Wesentlichen geht es um die Überwindung des Mensch-Natur-Dualismus und eine Wissens-Engführung. Dagegen setzen Inkermann und Sanders auf das Konzept des Mit-Werdens, Mit-Denkens und der Responsabilität, die Inhalte, Lebensformen und die Varianten des gleichzeitigen Lebens in und mit unterschiedlichen Gegebenheiten stets in Beziehung zueinander setzen und daraus Rückschlüsse ziehen.
Den Ansatz des „Verlernens“ (S. 199) und der damit einhergehenden Dekonstruktion von z.B. hegemonialen Strukturen im (Stadt)Raum fokussiert Korbinian Biller. Räume definieren sich relational über soziale Beziehungen der in ihm tätigen Akteure und Subjekte. Sie bringen hegemoniale und rassistische Strukturen hervor, die sich replizieren, wenn nicht Prozesse der Dekonstruktion über Bildung eingeleitet und bewusst verlernt – und nicht vergessen – werden.
Den langen Weg zu einer „großen Ökumene der Befreiung“ (S. 208) skizzieren Peter Schönhofer und Volker Rotthauwe. Sie rekurrieren auf Entwicklungspfade von „Theologien der Befreiung“ und ihrer verändernden Kraft, wenn sie in Bildungsbewegungen aufgesogen wurden und transformative Kräfte entfalteten. Aktuell scheint Spiritualität als eine Basis wahrgenommen zu werden, auf der das In-Beziehung-Setzen von Mensch und Umwelt möglich sei und ein Baustein sei, eine „Ethik des Genug“ (S. 211) zu fundieren, die wiederum ein Narrativ von Transformation sein könne.
Mirjam Arbach und Frank Beuter berichten von ihren Erfahrungen, wie bei dem umweltpädagogischen Zirkusprojekt „So ein Zirkus um die Kohle“ im Sommer 2018 innerhalb von zwei Wochen mit jeweils 40 bis 45 Kindern in einer Rekultivierungszone des Braunkohletagebaus Espenhain im Freistaat Sachsen Wissensvermittlung mit einem emotionalen Grundverständnis über Bewegung, Spiel und Engagement verbunden werden konnte. Eine gekonnte Verknüpfung umwelt- und zirkuspädagogischer Anteile haben die Motivation gestärkt und viele Dimensionen der Gestaltungskompetenz tangiert.
Teil 4: Bildung und soziale Bewegungen (S. 229–301)
Alle neun Beiträge adressieren auf verschiedene Weise die „Rolle von sozialen Bewegungen bei Lernprozessen in und für eine sozial-ökologische Transformation“ (S. 14).
Der von Andreas Eis und Max Frauenlob verfasste Beitrag stellt ein theoretisches Modell von Lern- und Handlungsräumen für soziale Bewegungen aus einer machtanalytischen Perspektive vor und nutzt es im Anschluss, die „Klimagerechtigkeitsbewegung“ (S. 232) zu untersuchen. Der Fokus liegt auf den kollektiven Lernprozessen und der solidarischen Vernetzung. Bei vielen hunderten Ortsgruppen und im Netz kann demonstriert werden, wie sich die Bewegung selbst auf inhärente Dominanz hinterfrägt und vor Selbstausbeutung schützt.
Valentin Sagvosdkin liefert Einblicke in die Dominanz von Erzählungen, Narrative, Skripts, Rahmungen und Sprachbilder und wie sie individuelle und gesellschaftliche Denklogiken beeinflussen und den Diskurs gestalten. Unter Rekurs auf Hartmut Rosa favorisiert er, „Bildung als Resonanzraum“ (S. 243) zu nutzen und über das Framing aufzuklären, Menschen zu stärken, sich selbst ein Urteil zu bilden und Räume der Begegnung zu schaffen statt zu polarisieren.
Joschka Köck hat einen Schreibdialog zwischen Beteiligten des Forumtheaters bei der Konferenz redigiert, wie er anlässlich eines durch eine intervenierende Person entstandenen Konflikts bei den Darsteller:innen, zwischen Rolle und Person, Publikum und Darstellenden und auf anderen Ebenen entstanden ist und zu viel Redebedarf geführt hat. Den Anlass dazu gab eine strukturell verankerte sexistisch gelesene Intervention.
Sophie Yume fasst am Ende ihres Beitrags selbstreflexiv zusammen: „Wenn ich sicher mit meinen Unsicherheiten auftrete, kann ich mich mehr trauen, in meiner Kritik konkreter zu werden“ (S. 269). Das Resultat bezieht sich auf die Prüfung inhaltlicher und methodischer Aspekte beim Einbezug (post)migrantischer Perspektiven und der Selbstverständlichkeit von Partizipation der Adressat:innen in Bildungs- und Bewegungszusammenhängen.
Aus dem Gespräch von Sophie Yume mit Murat Akan, zwei Jahre lang Eine-Welt-Promotor für „Globales Lernen in der Migrationsgesellschaft“, geht hervor, wie hinderlich nationale Identitäten beim globalen Lernen sein können. Als fatal erweisen sich ebenso Aktivitäten, die nur der Beruhigung dienen, „etwas getan zu haben“ (S. 272).
Auf zwei Seiten gibt der Bildungsverein Klima*Kollektiv e.V. einen Einblick in die Bildungsgrafik „The True Cost of Coal“ (mehr dazu unter https://klimakollektiv.org/wp-content/​uploads/2016/12/booklet_tcoc_english_print.pdf).
Ein Interview mit Vertreter:innen der Studiengangs-Initiative „Selbstbestimmt studieren“ (www.selbstbestimmt-studieren.org) zeichnet Entstehungsschritte und Ziele des zu etablierenden Angebots nach, die getrieben sind vom „fragenden Lernen“ (S. 279). Dieses Vorgehen steht in Einklang mit dem Hochschulqualifikationsrahmen (HRQ) und befähigt dazu, die systemrelevanten Themen einer zeitgemäßen Hochschulbildung angesichts der Umbruchzeiten zu beantworten, so die Verfasser:innen Nisha Toussaint-Teachout, Fedelma Wiebelitz und Benedikt Jeschke.
Mit der Schaffung von Aneignungs-, Begegnungs- und Möglichkeitsräumen kann es, nach Jörg Kress, in der offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA)gelingen, Besucher:innen aus der Konsumenten- in eine produktive Rolle zu bringen und Themen des Alltags und Erlebens als Ausgangspunkt für Fragen des guten und solidarischen Lebens zu machen. Anhand von zahlreichen Beispielen belegt er, wie ein Atmosphärenbeauftragter – so definiert er seine Rolle – aus der Jugendbegegnungsstätte als Lebensbedingung spontan Themen generieren kann.
Josephine Eberhardt et al. präsentieren Varianten politischer Stadtrundgänge inklusive konkreter Beispiele aus München, Berlin und Hamburg. Didaktisch sind Sprecher:innen, Lernorte und Methoden die Elemente, mit denen verschiedene Zielsetzungen erreicht werden. Je nachdem, worauf die Ausführung stärker fokussiert, lassen sie sich in ein Vier-Felder-Schema auf einer Achse kognitiver und handlungsorientierter Auseinandersetzung und zwischen gesellschaftsstabilisierender und gesellschafts- und systemkritischer Funktion einordnen.
Abschließend lüftet Friederike Preuschen das Geheimnis von Machtspiel, dem kreativen Spiel mit Worten als Ideengeber für Transformation. Machtspiel-Auszüge dekorieren jeweils den Beginn eines neuen Abschnitts.
Diskussion
Herausgeber:innen und Verfasser:innen aus Wissenschaft, außerschulischen Bildungseinrichtungen und sozialen Bewegungen positionieren sich unmissverständlich und legen offen, was ihnen in den bisherigen Konzepten globalen Lernens, der BNE, aber auch der politischen Bildung, wie sie in Lehrplänen verankert oder in „gezähmter Form“ praktiziert wird, zu kurz kommt und fehlt, damit aus einer Transformationsrhetorik auch kollektive und strukturelle Veränderungen erfolgen, also das Denken auch in Handeln umgesetzt wird.
Die kurzen Aufsätze sind, insbesondere infolge der thematischen Einordnung auch einzeln zu lesen. Dabei hilft, dass jeweils zu Beginn die Absicht und das Ziel umrissen werden. Wer den Band systematisch und vollständig liest, sieht hier Möglichkeiten einer Straffung des wiederholten Bezugs auf die bekannten Krisen.
Die so unterschiedlichen theoretischen Zugänge und Ideen für die Bildungspraxis entpuppen sich als ein Füllhorn, wenn man ihnen in den (Internet)quellen nachgeht. Allein schon deshalb fiel es der Rezensentin schwer, auszuwählen, welche Autor:innen erwähnt und welche nicht in die Auswahl kommen. Sensibilisiert von den Inhalten des Readers wäre sie Gefahr gelaufen, sich ihrer eigenen mentalen Infrastrukturen zu bedienen und inhärente Muster zu reproduzieren, statt zu dekonstruieren und auch zu verlernen. Weil die Erklärung des Orgakreises zur Komposition des Bandes überzeugt und weder Wissenschaft, formale und non-formale Bildung oder soziale Bewegungen, noch theoretische oder auf die Bildungspraxis fokussierte Beiträge unterschlagen werden sollten, fanden alle Aufsätze und Interviews Erwähnung, weil sie die Diversität in der Zusammensetzung, in den Inhalten, in der Schreibweise, persönlicher Konnotierungen, Anliegen und den Facettenreichtum dessen, was den Diskurs ausmacht, wiedergeben. Die Sicherheit in der Unsicherheit zu offenbaren, legt die Basis für konkrete Kritik: Ansätze des transformativen Lernens mit der Reflexion des Lernkontextes implizieren einen sehr hohen Anspruch an alle Beteiligten. Auch beim kritischen politischen Lernen, bei dem Machtverhältnisse und Intersektionalität transparent sind, finden Exklusionsprozesse statt, die wiederum zum Gegenstand des Diskurses werden müssen. Bei aller Ungeduld mit dem Tempo, braucht es Geduld im Prozess.
Fazit
Die Beiträge verbindet eine kritische politische Bildung sowohl in der Haltung als auch dem Handeln im Bildungskontext. Der Band bietet viele Denkimpulse für alle in der Bildungsarbeit Tätigen, unabhängig davon, ob sie eher an grundsätzlichen Fragen oder konkreten Lehr- und Lernformaten interessiert sind. Er gehört in jede Bibliothek von schulischen und außerschulischen Bildungsakteuren, die sich Themen sozial-ökologischer Transformation widmen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 74 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 23.04.2021 zu:
Jannis Eicker, Andreas Eis, Anne-Katrin Holfelder, Sebastian Jacobs, Sophie Yume (Hrsg.): Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation? Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
ISBN 978-3-7344-1124-3.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27496.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.
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