Stephan Doering, Hans-Peter Hartmann et al.: Narzissmus
Rezensiert von Mag.a Manuela Pichler, 08.12.2021
Stephan Doering, Hans-Peter Hartmann, Otto F. Kernberg: Narzissmus: Grundlagen - Störungsbilder - Therapie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2021. 2. Auflage. 800 Seiten. ISBN 978-3-608-43167-4.
Thema
Die Herausgeber bieten einen weiten Einblick in das Phänomen des Narzissmus. Das Buch vereint aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse von mehr als 60 mitwirkenden Personen unterschiedlicher Schulen und Forschugsrichtungen. Konzepte, Störung und Therapeimöglichkeiten werden ausführlich behandelt. Narzissmus wird als Erkrankung und gesellschaftliches Phänomen betrachtet und seine Auswirkungen auf Beziehungen im privaten, beruflichen und öffentlichen Leben untersucht.
Herausgeber
Stephan Doering ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychoanalytiker. Er leitet die Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien.
Hans-Peter Hartmann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse, er ist Dozent an der Universität Gießen.
Otto F. Kernberg ist Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalytiker. Er ist Professor für Psychiatrie an der Cornell University und Direktor des Personality Disorders Institute am New York Presbyterian Hospital.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus sieben Kapiteln
- Konzeptualisierungen des Narzissmus
- Empirische Befunde zur Äthiologie und Neurobiologie narzisstischer Pathologie
- Epidemiologie, Klassifikation und Diagnostik
- Klinik narzisstischer Störungen
- Narzisstische Beziehungsgestaltung
- Narzissmus im kulturellen Kontext
- Therapie
1. Konzeptualisierungen des Narzissmus
Ausgangspunkt sind der Mythos von Narziss und Freuds Narzissmus-Theorie. Kerberg schreibt, aus dem „…klinischen Verständnis dieses Begriffs, das sich auf die normale und pathologische Regulierung des Selbstwertes bezieht…entstanden nach und nach die Beschreibungen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.“ (S. 25) Ansätze der Selbtpsychologie, Dynamik von Grandiosität und Vulnerabilität, Differenzierungen zwischen narzisstischer, antisozialer und selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung werden in diesem Abschnitt beschrieben. Den Abschluss bildet die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt bei Persönlichkeitsstörungen im Rahmen eines psychoanalytisch-bindungstheoretischen Ansatzes.
2. Empirische Befunde zur Äthiologie und Neurobiologie narzisstischer Pathologie
Zum einen weisen Ergebnisse unterschiedlicher Studien „… auf einen hohen genetischen Einfluss von Persönlichkeitszügen hin, die mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen korrelieren.“ (S. 134)
Zum anderen zeigt die Entwicklungspsychologie, dass Selbstentwicklung schrittweise erfolgt durch Interaktionserfahrungen und Internalisierungen. Nach und nach entwickeln sich Repräsentationen unterschiedlicher Persönlichkeitsfacetten. Eine gesunde narzisstische Regulation im Sinne von Selbstakzeptanz und Selbstfürsorge kann durch traumatische Erfahrungen in der kindlichen Entwicklung beeinträchtigt werden, so kann es als Folge zu übersteigerter Selbstbesetzung oder anderen Formen der erhöhten Selbstaufmerksamkeit kommen.
Nach einem Beitrag zur Neurophilosophie von Georg Northoff stehen neurobilologische Befunde am Abschluss des Kapitels. Dort heißt es, es wurden strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten beobachtet, „die mit Empathie, sozialem Ausschluss und selbstreferentiellen Prozessen in Verbindung gebracht werden können.“ (S. 187)
3. Epidemiologie, Klassifikation und Diagnostik
Die Prävalenz der narzisstischen Persönlichkeitsstörung liegt bei etwa 1 %. Auch wenn die Studienlage nicht optimal ist, wegen kleiner Stichproben und fehlender Replikationen, ist dennoch immer wieder nachweisbar, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung nicht stabil ist über die Zeit. Patienten können Verbesserungen durch Behandlung erreichen insbesondere destruktive, zwischenmenschliche Verhaltensweisen nehmen mit höherem Alter oft ab. Auch korrigierende Lebenserfahrungen außerhalb von Behandlungen unterstützen die Verbesserung narzisstischer Symptome wesentlich. Häufig treten narzisstische Persönlichkeitsstörungen zusammen mit anderen psychischen Erkrankungen auf. Dazu zählen insbesondere Suchterkrankungen, bipolare Störungen, Burnout und andere Persönlichkeitsstörungen.
Ein Beitrag zur Testdiagnostik von Stephan Doering steht Am Abschluss des Kapitels, er schreibt: „Der Goldstandard für die klinische Persönlichkeitsdiagnostik dürfte weiterhin im LEAD-Ansatz (Longitudinal Expert All Data) zu sehen sein, bei dem über einen gewissen Zeitraum verschiedene Datenquellen genutzt werden und ein standardisiertes Interview … die klinische Diagnostik vervollständigt …“ (S. 239)
4. Klinik narzisstischer Störungen
Der mit über 200 Seiten umfangreichste Abschnitt des Buches beschäftigt sich mit malignem Narzissmus und hat durch zahlreiche Fallvignetten einen sehr guten Bezug zur Praxis.
Ausgegangen wird von einem narzisstischen Kontinuum von „Normal“ bis zur Persönlichkeitsstörung im Sinne von pathologischer Selbstliebe, Objektliebe und Über-Ich Entwicklung. Die schwerste Ausprägung ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung. „Ihr Hauptcharakteristikum in struktureller Hinsicht ist die ausgeprägte Entstellung bzw. der Zerfall oder das gänzliche Fehlen des Über-Ich-Systems. … sowie ein hypertropes, sich bedroht fühlendes und in Gefahr befindliches gewalttätiges Selbst, das darauf ausgerichtet ist, einer von Grund auf gefährlichen und gewalttätigen Welt gegenüberzutreten.“ (S. 250/251)
Da narzisstische Störungen auch im Zusammenhang mit Perversionen oder im forensischen Kontext relevant sein können, werden auch diese Aspekte ausgeführt.
Den Schwerpunkt des Kapitels bildet ein emotionsdynamisches Modell der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, das auf die vorangegangenen Theorien und empirische Befunde aufbaut und sich aus der Dynamik ableitet, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung im Kern aus fehlerhaften affektiven Prozessen der Selbstwertregulierung besteht, die auf Scham, Neid und Wut zurückzuführen sind. So beschreibt Wolfgang Milch in seinem Beitrag die Problematik von Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung folgendermaßen „Wegen der mangelnden affektiven Kontrolle und Regulation bei einer erheblichen Labilität des Selbstwertgefühls sind sie in besonderem Maße suizidgefährdet. Sie bleiben ohne eine Behandlung zeitlebens anfällig für psychische Dekompensationen in Folge von Kränkungen, psychischen Verletzungen oder Verlusten von Selbstobjekten. …Mechanismen, die in Behandlungen entwickelt werden können…dienen dem defensiven Schutz vor dem Wiederaufleben alter Traumatisierungen oder dem kompensatorischen Erwerb kreativer Fähigkeiten, die vor Fragementierung schützen.“ (S. 342)
Außerdem wird Narzissmus im Kontext von Borderline Persönlichkeitsstörungen, somatoformen Störungen, Sucht und Psychosen thematisiert, den Abschluss bilden Befunde zu Narzissmus in Kindheit und Jugend.
5. Narzisstische Beziehungsgestaltung
Besonders in sozialen Interaktionen ist pathologischer Narzissmus schwierig, so etwa in vielerlei Aspekten romantischer Beziehungen, wenn es um Nähe, Autonomieverlust, Zärtlichkeit oder Sexualität geht. Entstehen aus Paarbeziehungen dann Familien, können sich zudem transgenerationale narzisstische Dynamiken ausbreiten. „So können Etern in ihren Kindern das suchen und auf sie projezieren, a) was sie selbst sind, b) sie selbst waren, c) sie selbst sein möchten, d) was einen Teil ihres eigenen Selbst darstellt und es ergänzt und e) was sie selbst nicht sein dürfen.“ (S. 471)
Auch Freundschaften können häufig scheitern wegen Überempfindlichkeit, häufiger Kritik, Neid und Rivalitätsverhalten.
6. Narzissmus im kulturellen Kontext
Es wird Narzissmus im Bereich des „Normalen“ und am Übergang zur Pathologie beleuchtet. So werden genderspezifische Aspekte diskutiert und Narzissmus im Kontext von Spiritualität, Führungsaufgaben, Politik und Gruppen betrachtet. „Maligne narzisstische Führer katalysieren die Regression auf maligne narzisstische Mechanismen über die Forderung, die individuelle Identität ihrer Anhänger in der Gruppenidentität aufgehen zu lassen, über die Trennung in 'Gutes' und 'Böses' sowohl innerhalb der eigenen als auch der fremden Gruppe, über die Förderung von introjektiven und projektiven Mechanismen, die Unterminierung von Grundvertrauen zwischen Eltern und ihren Kindern, über die Zerstörung intrafamiliärer Bindungen zugunsten von Loyalität und Identität der Gruppe und schließlich über die Bildung von Ideologien, die bestimmte Aspekte der historischen Kontinuität der Gruppe hochhalten, um sie gleichzeitig auszulöschen.“ (S. 599)
7. Therapie
Es gibt unterschiedliche Zugänge und Methoden für therapeutische Behandlung narzisstischer Störungen. Im Buch werden vorgestellt: Pharmakotherapie, Gruppentherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, CBASP-ein verhaltenstherapeutisches Modell, Schematherapie und psychodynamische Psychotherapie. Die verschiedenen Ansätze sind durch Fallvignetten und Abbildungen zu den Interventionen gut nachvollziehbar und praxisnah. Dem Phänomen von Übertragung und Gegenübertragung ist zudem ein eigener Abschnitt gewidmet.
Diskussion
Die Neuauflage von Doering, Hartmann und Kernberg ergänzt das Standardwerk um aktuelle Erkenntnisse zu Ätiologie und Neurobiologie narzisstischer Störungen. Autor*innen unterschiedlicher Schulen wie der Schematherapie und kognitiv-behavioralen Ansätzen sind beteiligt, wenngleich vorwiegend psychoanalytische Ansätze vorgestellt werden. Durch die überwiegend psychoanalytische und oft anspruchsvolle Schreibweise erfordert das Buch auch bei fundierter Ausbildung eine eingehende, konzentrierte Auseinandersetzung, wodurch flüssiges Lesen leider oft nicht möglich ist.
Dennoch bietet es eine hervorragende Möglichkeit, sich mit einzelnen Aspekten zum Thema Narzissmus vertieft auseinanderzusetzen. Auch für erfahrene Professionist*innen ist es voll wertvoller, aktueller Informationen zu Narzissmus und narzisstischen Störungen und eignet sich als Werk, in dem immer wieder nachgelesen werden kann.
Fazit
Die erweiterte Neuauflage eines umfangreichen und vielfältigen Standardwerks zum Narzissmus, mit einem Schwerpunkt auf psychoanalytische Konzepte. Ein „must have“ für KlinikerInnen, die das Thema vertiefen wollen.
Rezension von
Mag.a Manuela Pichler
Klinische- und Gesundheitspsychologin, Arbeitspsychologin
Publikation:
http://www.zks-verlag.de/subjektives-wohlbefinden-im-alter-print/
Website
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Zitiervorschlag
Manuela Pichler. Rezension vom 08.12.2021 zu:
Stephan Doering, Hans-Peter Hartmann, Otto F. Kernberg: Narzissmus: Grundlagen - Störungsbilder - Therapie. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2021. 2. Auflage.
ISBN 978-3-608-43167-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27497.php, Datum des Zugriffs 26.01.2025.
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