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Julia Elven: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis

Rezensiert von ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost, 16.11.2021

Cover Julia Elven: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis ISBN 978-3-8376-5282-6

Julia Elven: Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis. Eine praxistheoretische Forschungsperspektive. transcript (Bielefeld) 2020. 572 Seiten. ISBN 978-3-8376-5282-6. D: 50,00 EUR, A: 50,00 EUR, CH: 61,00 sFr.
Reihe: Kulturen der Gesellschaft - Band 44.

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Autorin

Die Autorin, Julia Elven ist wissenschaftliche Mitarbeiterin („Postdoc“) am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Sie promovierte im Fach Soziologie an der Universität Köln: die vorliegende Dissertation wurde 2019 an der humanwissenschaftlichen Fakultät angenommen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien sozialen Wandels, Laufbahn-, Bildungs- und Organisationsforschung sowie Praxistheorien. 

Thema

Die Autorin thematisiert sozialen Wandel jenseits des vorherrschenden strukturfunktionalen und modernisierungstheoretischen Paradigmas. Sie weist bei ihren Ausführungen Annahmen zurück, dass gesellschaftliche Entwicklungen linear (fortschreitend) sind und sich in Gesetze fassen lassen. Vielmehr entwickelt sie eine praxistheoretische Ausrichtung, um Wissensordnungen und Bedeutungsgefüge in Form von sozialen Logiken zu rekonstruieren (S. 11f). Vorgestellt werden praxeologische (Analyse-)Konzepte zur Erforschung des sozialen Wandels und – nach der konzeptuellen Entwicklung des Zugangs – eine empirische Arbeit, die exemplarisch die Handlungsorientierungen und Lebensentwürfe von Existenzgründerinnen analysiert. Sie bewegen sich „in besonders dynamischen“ Kontexten und treiben als „Avantgarde“ den sozialen Wandel voran (S. 289). Dabei wird an Erkenntnissen aus soziologischen Gegenwartsanalysen angeknüpft und die sinnstrukturelle Rekonstruktion von Lebensentwürfen im Hinblick auf mehrere Tendenzen reflektiert.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in vier Teile. In den ersten drei Teilen werden sozialtheoretische Grundlagen zum sozialen Wandel diskutiert, um die Optionen bzw. das Potenzial einer „praxistheoretischen Reformulierung sozialen Wandels“ herauszuarbeiten. Im vierten – empirischen Teil – wird die konzeptuelle Linie dann anhand einer Fragestellung zum sozialen Wandel sichtbar gemacht.

Die Autorin bietet zunächst eine Zusammenfassung von zentralen Punkten des modernisierungstheoretischen Diskurses sozialen Wandels: die Frage nach der Herausbildung der (westlichen) modernen Gesellschaften; der Kategorisierung von Ländern als „rückständig“ und der Identifizierung von Faktoren für „Modernisierung“ sowie – als dritte Frage – jene der konstanten Veränderung als Funktionsprinzip der Moderne (S. 33). Der anhaltende Wandel ist ein zentrales Charakteristikum der Moderne und so stellt sich die Frage nach der Logik und Dynamik seiner Strukturen. Die Autorin verweist in kritischer Haltung zu klassischen (funktionalistischen) Ansätzen auf die Denkweise einer „relationalen Soziologie“, die als Grundlage einer rekonstruktiven (Praxis-)Analyse sozialen Wandels dient (S. 77 ff.). Ein solcher Zugang setzt bei sozialen Praktiken an, trennt nicht zwischen Struktur und der subjektiven Ebene von Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmustern.

Julia Elven greift in Teil zwei (Kapiteln 6 bis 9) die praxistheoretischen Konzepte zur Analyse sozialen Wandels auf. Zentrale Prämissen wie Materialität, Körperlichkeit, Zeitlichkeit oder Historizität werden näher diskutiert genauso wie der Begriff der praktischen Logik und der habituellen Handlungsschemata (Bourdieu): Handlungen folgen dem Habitus als strukturierendes Prinzip und basieren auf dem (impliziten und inkorporierten) Wissen. Verwiesen wird dabei auf differente Weltbezüge, die sich in unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Handlungsstilen äußern, sodass sich sozialer Wandel in Milieus unterschiedlich vollziehen kann. Darüber hinaus wird auf den Faktor Macht in Verfahren, Dynamiken und Strategien hingewiesen. Nach den Prämissen dieses Ansatzes werden von der Autorin praxistheoretische „Analysekonzepte“ (S. 109 ff.) – der Habitus, das Subjekt, das Feld und die Lebensform – vorgestellt, schließlich noch der Begriff des Dispositivs (Foucault) eingeführt, um der Logik von Homologien und der transversalen Struktur nachzuspüren. Daraus ergeben sich zwei (grundsätzliche) Perspektiven, und zwar eine Sichtweise auf die konkreten Logiken von Feldern und Situationen und eine auf die alltagspraktischen „Konkurrenzen und Interferenzen“ – damit können durch Rekonstruktionen „transversale Wirksamkeiten“ von Strukturen (S. 171) fokussiert werden.

Danach werden in einem längeren Abschnitt (Teil drei – Kapitel 10 bis 14) soziologische Gegenwartsdiagnosen reflektiert und Erkenntnisse aus vorrangig praxistheoretischen Analysen in die Arbeit eingebracht, Als erste zentrale Kategorie wird die „Ökonomisierung“ hervorgehoben – ökonomische Handlungsprinzipien weiten sich aus und werden in verschiedenen sozialen Bereichen wirkmächtig wie Studien im Bereich der Sozialen Arbeit, der Medien, des Gesundheitswesens, der Wissenschaft oder der Bildung zeigen (S. 201 ff.). Ökonomisierung zeigt sich aber auch in einer „Radikalisierung“ der Logik der Ökonomie. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auch auf Arbeiten von Bourdieu zum „Neoliberalismus als hegemoniales Projekt“ genauso wie auf Foucaults Arbeiten zur „Governmentality“. Als zweite Kategorie – und Fluchtpunkt der Zeitdiagnosen – wird „Prekarisierung“ extrahiert, wobei die Autorin die Aufmerksamkeit besonders auf Aspekte der praktischen Hervorbringung von Prekarität lenkt, auf die „Regierungstechnik“ und die Ordnung von Klassenbeziehung (217 f.). „Ästhetisierung“ auf unterschiedlichen Ebenen, seien es Praktiken oder Gegenstände, ist ein weiterer Entwicklungstrend, den Julia Elven aufgreift. Die Ausdehnung ästhetischer Wirkung ist dabei nicht auf ein Feld beschränkt. Als wesentlicher Ausgangspunkt dieses Faktors ist die Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/​Chiapello) anzusehen, in der die Vereinnahmung der Logik der Künstlerkritik durch den Kapitalismus aufgezeigt wird. Alltagspraktiken werden authentischer und kreativer, dienen der Selbstdarstellung und -erfahrung und bilden sich erst im Zuge kapitalistischer Verhältnisse heraus. Die Logik der Ästhetisierung lässt sich aber auch als Folge des modernen Rationalismus sehen (S. 226 ff.). Mit ihm entwickelt sich ein Affekt- und Motivationsmangel, der im Bereich des Ästhetischen verstärkt zum Ausdruck kommt. Ästhetisierung fungiert daher als „Affektballung“, wobei neue moderne Praxiskonstellationen emergieren, die durch (künstlerische) Kreativität insbesondere sinnlich-emotionale Bedürfnisse befriedigt. Als vierten und letzten Punkt der Gegenwartsanalysen wird – ausgehend vom Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) – der Faktor „Singularisierung“ aufgegriffen. Es findet ein Strukturwandel von der Orientierungslogik des „Allgemeinen“ zum „Besonderen“ hin statt. Praktiken sollen möglichst einzigartig sein. In den weiteren Ausführungen zu Gegenwartsdiagnosen „als analytisches Netzwerk der Rekonstruktion sozialen Wandels“ verweist die Autorin auf die rekonstruktive Forschungslogik, einer „kritisch-reflexiven Grundhaltung“ (S. 251 f.) und eines „sozialkonstruktivistischen Wissenschaftsverständnis“ (S. 253f).

Im vierten Teil der Arbeit wird schließlich eine exemplarische Analyse des Wandels sozialer Praktiken, und zwar der Handlungsorientierungen und Lebensentwürfe von Existenzgründerinnen, vorgenommen. In einem ersten Punkt werden die – vier besprochenen – Wandlungslogiken in ihrer „praktischen Hervorbringung rekonstruiert“ (S. 263) und in einem weiteren Schritt dann auch in den „familialen Herkunftskulturen“ (diachron) untersucht werden. Die Daten, Leitfadeninterviews mit 20 Existenzgründerinnen und Verwandten aus Herkunfts- und Gründungsfamilie sowie einem „Familiengespräch“, entstammen einem Forschungsprojekt mit dem Titel „Familiale Voraussetzungen von Gründungsneigung und Gründungserfolg“. Die Frauen, die alle ein Studium absolviert hatten, waren im Alter von 28 und 51 Jahren; die Unternehmensgründungen erfolgten im Bereich wissensbasierter Dienstleistungen und lagen zum Zeitpunkt des Interviews nicht länger als ein Jahr zurück. Untersucht wird anhand dieses Datensatzes, wie die transversalen Logiken in den Lebensentwürfen wirksam werden, inwiefern sich also die in den Gegenwartsdiagnosen aufgezeigten Logiken in den Orientierungen wiederfinden lassen und wie die Lebensentwürfe der Gründerinnen aus dem familialen Kontext entstammen bzw. sich verändern. Für die Analyse wird die (praxis-)rekonstruktive Methodologie der Dokumentarischen Methode (Bohnsack) herangezogen. Auf dieser Basis werden die dem Alltagsgeschehen inhärenten Sinnstrukturen herausgearbeitet, wobei es – wie auch bei anderen interpretativen Methodologien – nicht „nur“ um das subjektive Sinnkonstrukt, sondern die zugrundeliegende implizite Logik, die nicht gewusst wird und die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen bzw. des Habitus durch die formulierende und reflektierende Interpretationsstrategien der Dokumentarischen Methode geht. Die Erkenntnisse der Analyse werden einerseits in Lebensentwurfstypiken („Drift“, „Pfad“ und „Fügung“) sowie in Familienfallanalysen dargestellt und durch Fallvergleiche, wie sie in der interpretativen Sozialforschung üblich sind, im Hinblick auf die transversalen Logiken noch verallgemeinert.

Diskussion

Julia Elven führt zu ihrer Forschung aus, dass sie diese als Ergänzung zu gegenwartsanalytischen Diagnosen sieht, indem sie sich auf die Praxisvollzüge sozialen Wandels bezieht: Gegenwartsdiagnosen können also übergreifende Wandlungslogiken herausarbeiten, praxeologische Wandelforschung kann darüber hinaus die konkrete Wirkung einzelner Logiken im Praxisvollzug rekonstruieren. Aus den Fallanalysen lässt sich folglich das Zusammenspiel, die Konkurrenz oder Ambivalenz, von Logiken in Lebenspraktiken erkennen. So zeigen sich diversifizierte Lebensentwurfspraktiken, die auf Basis ökonomischen oder/und kulturellen Kapitals entstehen, den Herkunftsstatus tradieren oder sich neu positionieren.

Zusammenfassend betrachtet stellt die Arbeit den modernisierungstheoretischen Ansatz sozialen Wandels in Frage, präferiert einen praxeologischen Zugang, der zunächst sozialtheoretisch und methodologisch begründet, danach am Beispiel von Gründerinnen empirisch angewandt wird. Hervorzuheben sind an dem Buch die umfassenden Reflexionen/​Analysen, wobei bereits der theoretische und methodologische Teil fast 260 Seiten aufweist. Detailliert und umfassend zeigt sich genauso der empirische Teil, der sich auf die Dokumentarische Methode beruft. Die Arbeit ist also beeindruckend – anzumerken ist allerdings, dass sich die Analysen der alltäglichen Praktiken/​Lebensentwürfe von Unternehmensgründerinnen auf länger zurückliegendes Material zu Wandlungsprozesse bezieht, da die Interviews aus einem Projekt stammen, das zwischen 2007 und 2011 durchgeführt wurde.

Fazit

Dieses Buch steht im Schnittpunkt mehrerer Forschungsschwerpunkte, und zwar zu Theorien sozialen Wandels, soziologischen Gegenwartsanalysen und interpretativer Sozialforschung (insbesondere Dokumentarische Methode). Für die Lesenden wird somit ein breites Repertoire an Zugängen reflektiert und aufeinander bezogen – die Analysen bieten interessante Erkenntnisse und sind sowohl ein originärer Beitrag wie auch als bedeutsamer Part der erwähnten Forschungsdiskurse zu sehen.

Rezension von
ao. Univ.Prof. Dr. i.R. Gerhard Jost
Mitarbeiter am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung, WU, Wirtschaftsuniversität Wien, Department für Sozioökonomie.
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Es gibt 23 Rezensionen von Gerhard Jost.

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ISSN 2190-9245