Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 12.02.2021

Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2018.
114 Seiten.
ISBN 978-3-525-40623-6.
D: 12,00 EUR,
A: 13,00 EUR.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Feld der Beratung in der Sozialen Arbeit gehört in Europa zu den personenbezogenen Dienstleistungen. Seit den 70er Jahren hat sich eine Szene der Beraterinnen und Berater innerhalb der Fachwissenschaft etabliert, die stetig expandiert und mit diversen Problemlagen von Klientinnen und Klienten zu tun hat. Gleichzeitig muss das Arbeitsfeld der Beratung sich aber auch an veränderte Bedingungen und Kontexte anpassen, die in Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen des Sozialstaats und ihren Organisationen stehen. In die Fachdiskussion um die Veränderung der sog. Systemlogiken ist der vorliegende Band einzuordnen.
Das Arbeitsgebiet der Beratung im Zusammenhang mit Sozialwirtschaft zu sehen und damit eher in ökonomisierte Sachzusammenhänge einzuordnen, ist das Ziel des kleinen vorliegenden Buches von Herbert Effinger zum Thema: „Beratung in der Sozialwirtschaft“.
Herausgebende
Der Band ist erschienen in der Publikationsreihe „Beraten in der Arbeitswelt“ 2018 im V&R-Verlag Göttingen, die von Stefan Busse, Rolf Haubl und Heidi Möller herausgegeben wird.
Der Beitrag erscheint in einer Reihe, die sich laut Selbstbeschreibung an erfahrene Beratende und Personalverantwortliche wendet und Fragen aufgreift, die in der „Beratungs-Community“ virulent sind. Das Thema ist daher primär die Reflexion der Bedingungen von Beratung, die durch den Systemzusammenhang von Sozialwirtschaft in Gang gesetzt worden sind.
Aufbau und Inhalt
Der Ausgangspunkt und gleichzeitig auch der Analysefocus des Bandes liegt in Kapitel 2, in dem die Sozialwirtschaft als intermediäres und hybrides Hilfesystem dargestellt wird. Vorgeschaltet ist dem in Kapitel 1 die Beschreibung des Ausgangspunktes einer Entstehung von Sozialwirtschaft. Bereits zu Beginn der Überlegungen des Bandes begegnet programmatisch die Einordnung von Beratung in die „Tätigkeit des Sorgens und Sichkümmerns“ (S. 9) in den Bereich von Care-Work und Sorgearbeit. Dieses Feld bezieht sich vorrangig auf die Problemlagen der Klientinnen und Klienten. Gleichzeitig ist die Sorgearbeit ein integrativer Teilbereich in sozialwirtschaftlichen Kontexten, woraus sich besondere Herausforderungen ergeben, die auf der Faktizität unterschiedlicher Systemlogiken basieren. Daraus – so folgert der Autor – ergibt sich für die Beratung die Notwendigkeit, im Hintergrund der Beratungsprozesse auch Wissen darüber zu haben, wie sozialwirtschaftliche Systeme funktionieren. (S. 15)
Kapitel 2 führt darum in die Grundzüge der Sozialwirtschaft als gesellschaftliches Aufgabenfeld ein. Der Ausgangspunkt der Überlegungen liegt in der Erkenntnis, dass Sozialwirtschaft als Feld der Daseinsvorsorge einen expandierenden Bereich darstellt, in dem die Ökonomie dominiert, die aber als Wirtschaftsbereich eine besondere Ausprägung hat. In Aufnahme der Standardliteratur wird das Feld der Sozialwirtschaft auf den Dritten Sektor konzentriert, deren Organisationsformen zwischen NPO und Wirtschaftlichkeit einen sog. „hybriden“ Charakter aufweisen. Zwischen Markt und Staat wird Sozialwirtschaft eingeordnet und mit der Zuschreibung der „sozialwirtschaftlichen Wohlfahrtsproduktion“ (S. 23) gekennzeichnet. Mit dem Begriff der sog. Wohlfahrtsproduktion ist in gewisser Weise für den Autor auch das Gliederungsprinzip seiner weiteren Überlegungen des Kapitels eingeführt, die sich ausgehend von einem historischen Rückblick auf Sozialstaatlichkeit und der Entstehung von Sozialwirtschaft mit den Begriffsklärungen von Gemeinschaft, Staat, Markt und intermediärem Bereich befassen. Die Argumentation läuft auf die Begriffsbestimmung der sozialen und personenbezogenen Dienstleistung hinaus, die mit den Begriffen des sog. Prosumenten und der Leistungserbringung von Seiten des Dienstleisters definiert werden. Die Arbeitsbeziehung ist daher „mehr als Beziehungsarbeit“ (S. 42), wie diese in klassischer Form in der Sozialen Arbeit seit den 70er Jahren beschrieben wurde, sondern darüber hinaus in funktionaler Form durch Zieldefinition und Leistungserbringung definiert. Soziale Arbeit im Sinne der Sozialwirtschaft ist – so kann man mit dem Autor zusammenfassen – „entlohnte personenbezogene Dienstleistung im gesellschaftlichen Auftrag“. (S. 41)
Daraus ergeben sich letztlich Konfliktlinien und Widersprüchlichkeiten zwischen dem Beratungssektor und der Sozialwirtschaft. Diese werden dann abschließend in Kapitel 2 focussiert und inhaltlich in mehreren Unterpunkten mit dem Ziel bearbeitet, die Verunsicherungs- und Simplifizierungspotenziale (S. 46) in der Szene der Sorgearbeitenden aufzuarbeiten. In der inhaltlichen Darstellung dominiert der Ansatz, das Beratungshandeln wissenschaftstheoretisch einzuordnen zwischen einer Mehrdeutigkeit und Ambiguität der gesellschaftlichen Verhältnisse, den normativen Ansprüchen der Community der Sorgearbeitenden und der eigenen Praxis des Handelns. Aus seiner Einordnung des Beratungshandelns in die Sozialwirtschaft folgert der Autor die Begrenzung des eigenen Handlungsansatzes, in dem er formuliert: „So können die Sorgearbeitenden mit ihren Adressaten direkt nur an ihren individuellen Bewältigungsstrategien arbeiten, wohlwissend, dass sie damit auch einen Beitrag zur Privatisierung und Individualisierung sozialer Probleme leisten […]. An den Ursachen der sozialen Probleme können sie unmittelbar nichts ändern.“ (S. 50–51) Einer gesellschaftsverändernden Vision, wie sie die Soziale Arbeit in ihrem sog. politischen Paradigma seit den späten 60er Jahren und vor allem den 90er Jahren in Theorieansätzen entwickelt hat, ist hiermit in gewisser Weise eine Absage erteilt, ja man kann sagen, dass dieses Paradigma vor dem Hintergrund der Faktizität sozialwirtschaftlicher Erfordernisse als gescheitert angesehen werden kann. Die Gefahr von Störungen und Pathologien auf den unterschiedlichen Seiten und bei verschiedenen Akteuren wird vom Autor dabei durchaus benannt.
Aus den bisher aufgezeigten Analysefeldern beschreibt Kapitel 3 die verschiedenen Herausforderungen für die Beratung. Diese kulminieren in der vom Autor auf S. 59 gestellten grundsätzlichen Frage: „Wie werde und bleibe ich trotz hoher Komplexität, innerer und äußerer Widersprüche, eigener Zweifel, paradoxer und absurder Situationen, trotz Mehrdeutigkeit oder Nichtwissen entscheidungs- und handlungsfähig?“ Die durch die Realität der Sozialwirtschaft hervorgerufene Handlungsebene für die Beratenden wird beschrieben als Unvereinbarkeit oder einer Ambiguität eines „sowohl als auch“. Entlang dieser Linien geht es darum, Strategien zur Vermeidung von Ungewissheit oder Unsicherheit für eine nachhaltige Bearbeitung sozialer Problemlagen im Sinne der Klientinnen und Klienten zu entwickeln. Diese werden entlang konkreter Verhaltensmuster aufgezeigt, deren Ausgangspunkt in einer Falleinschätzung liegen.
So entwickelt der Autor in einem ersten Gedankenschritt verschiedene Pole eines defensiven Vermeidungsverhaltens, die sich zwischen Rationalität und Emotionalität bewegen und beschreibt im Folgenden deren diverse Handlungsoptionen. Dieses geschieht aus der Perspektive der Beratenden zum Ziel einer gelingenden Beratungspraxis unter den Bedingungen einer sozialwirtschaftlichen Realität. Am Ende dieses Abschnittes zieht er dann in Bezug auf dieses Verhaltensmuster die Bilanz: „Das Vermeidungsverhalten kreiert oft mehr Probleme, als es löst.“ (S. 77) Es behindert vor allem die Möglichkeit neue Erfahrungen zu machen.
Davon unterschieden wird im Weiteren der Ansatz, reflexive Strategien des Handels zu entwickeln, die über die Ebene der Rationalität hinaus Situationsbewertungen durch subjektivierendes Handeln vornehmen. Beratungsarbeit wird dann zur „Interaktionsarbeit“, deren Ziel darin liegt gut Kooperationsbeziehungen herzustellen. Kontingenzen – so verstehe ich den Autor – sowohl von Situationen wie auch Organisationen werden durch subjektivierendes Handeln zu kreativen Lösungen zugeführt. Beratung ist demnach als der funktionale Prozess zu verstehen, in dem die Klientinnen und Klienten unterstützt werden, ihre oft unbewussten Verhaltensmuster zu finden und dieses geborgene Wissen für die Gestaltung der professionellen Hilfeprozesse zu nutzen. (81) Dieser Ansatz hat Auswirkungen auf die Profession der Beratenden. Aus dem Grund folgt am Ende des Kapitels die Beschreibung der Faktoren von Profession, in deren Mitte Überlegungen zum Kompetenzbegriff stehen. Der reflexive Ansatz der Überlegungen spiegelt sich in Überlegungen zum Begriff der Selbstkompetenz.
Das abschließende 4. Kapitel bildet das Fazit des Bandes. Die zusammenfassende Erkenntnis lautet: „Beratende und ihre Kunden in der Sozialwirtschaft brauchen ein Bündnis mit Kairos.“ (S. 101) Damit ist ausgedrückt, dass Beratung immer eingebunden ist in Veränderungssituationen, die an sich im individuellen wie organisationalen Bereich Ungewissheit und Unsicherheit implizieren. Gute Beratung kommt dann zu ihrem Ziel, wenn sie den Beteiligten mehr Gewissheit in die eigene Handlungskompetenz ermöglicht und Wege zu mehr Selbstvertrauen eröffnet.
Diskussion
Der Ansatz des vorliegenden Bandes einer realistischen Betrachtung unter Einbeziehung ökonomischer Bedingungen des Sozialstaates führt die Lesenden – die ja primär in der Community der Sorgearbeitenden zu suchen sind – zu der Erkenntnis einer gewissen Nüchternheit, die mir fachwissenschaftlich aus der Sicht meines eigenen Arbeitsbereiches der Sozialwirtschaft heraus nahekommt, aber vermutlich von manchen Kolleginnen und Kollegen auch anders beurteilt werden könnte. Ausgesprochen positiv ist für mich der mit dem Realismus des Bandes verbundene leise Abschied von einem oftmals zu hoch angesetzten politischen Eigenanspruch Sozialer Arbeit, der in manchen Theorieansätzen geradezu Züge von Omnipotenz des Faches trägt.
Der Band ist geprägt von einem wissenschaftstheoretischen Duktus auf dem Handlungsfeld Beratung. Manchmal wird nicht ganz deutlich, wer das Gegenüber von Beratungshandeln ist. Über weite Strecken ist es das Individuum mit seinen sozialen Problemen und auf den letzten Seiten werden Ungewissheiten und Unsicherheiten auf die Zielgruppe der „Mitarbeitenden in der Sozialwirtschaft“ (S. 101) und damit auf Beratung im Rahmen von Leitungshandeln in Organisationen bezogen.
Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, das mit dem Schwerpunkt Beratung und Sozialwirtschaft zwei Diskurse zusammenführt. Interessant ist vor allem der Blick von der Sozialwirtschaft und ihrer Systemlogik auf das Feld der Beratung und die Überlegung des Autors, wie diese – also die Beratung – darauf reagieren kann. Spannend wäre es jetzt einmal von der anderen Seite aus zu argumentieren, nämlich welche Infragestellung der Sozialwirtschaft sich durch den Blick der Beratung ergäbe. Aber das ist das Thema für einen neuen Band!
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Lehrstuhl für Diakoniewissenschaft und Wohlfahrtsökonomie
Hochschule Hannover
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Zitiervorschlag
Ralf Hoburg. Rezension vom 12.02.2021 zu:
Herbert Effinger: Beratung in der Sozialwirtschaft. Ungewissheiten als Chance kreativer Problemlösungsstrategien. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2018.
ISBN 978-3-525-40623-6.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27522.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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