Marion Möhle: Europäische Sozialpolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf, 07.09.2021

Marion Möhle: Europäische Sozialpolitik. Eine Einführung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2020. ISBN 978-3-658-28409-1.
Thema
Die jüngste Entwicklung der Sozialpolitik der Europäischen Union (im Folgenden: EU) ist das Thema dieses Buches, wobei der Schwerpunkt auf den letzten ca. 25 Jahren liegt.
Dabei werden zehn Themenbereiche angegangen: Die Bereiche der Beschäftigung, der Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung, der Gesundheits- und Pflegepolitik, der Armutsbekämpfung und sozialen Inklusion, der Alterssicherung, der Bildungs-, der Jugend- und der Migrationspolitik werden dargestellt. Dafür wird auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Entscheidungs- und Einflussstrukturen, die beteiligten Organisationen von Seiten der EU sowie von Seiten der Nicht-Regierungsorganisationen eingegangen, weiterhin auf gegenwärtige Reformüberlegungen zur Weiterentwicklung der Bereiche und auf vorhandene finanzielle Förderinstrumente. Damit konzentriert sich die Veröffentlichung auf die Inhalte und die Art der Entscheidungsfindung und darauf, wie sie in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden können.
In den aufgegriffenen Themenfeldern fällt die Sozialpolitik nicht in den Bereich der harmonisierenden Verfahren innerhalb der EU, bei dem die sozialrechtlichen Ansprüche der Arbeitnehmer und EU-Bürger zwischen den unterschiedlichen Staaten anerkannt werden. Es handelt sich vielmehr um ein bestimmtes koordinierendes Vorgehen, das mit Mitteln der gegenseitigen Information und Berichterstattung und der Einigung auf gemeinsame Indikatoren arbeitet. Insofern sind die Wege der Entscheidungsfindung und die konkrete Ausfüllung bedeutsam, die sich jeweils im Rahmen der rechtlichen Regelungen und durch die beteiligten Akteure ergeben.
AutorIn
Prof. Dr. Marion Möhle ist Professorin an der Fakultät für Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen und nimmt dort Lehrveranstaltungen in dem Bereich Sozial- und der Europapolitik und der Europäischen Sozialpolitik sowie im Bereich der Ethik der Sozialen Arbeit wahr. Sie hat im Jahr 2013 eine ähnliche Veröffentlichung vorgelegt.
Aufbau und Inhalt
Die klare Strukturierung des Buches fällt schon beim Blick in das Inhaltverzeichnis ins Auge: Die Kapitel 8 bis 15 stellen ca. zehn verschiedene inhaltliche Politikbereiche dar, zuvor werden die Grundlagen der Sozialpolitik der EU gekennzeichnet; am Ende findet sich ein Ausblick auf die dazugehörenden finanziellen Instrumente.
Die Überschriften der Kapitel des Buches sollen für die bessere Übersicht kurz wiedergegeben werden, sie lauten:
- Einführung
- Institutionen und Akteure der Europäischen Union
- Die aktuellen Rechtsgrundalgen der Europäischen Union
- Die Entstehung und Entwicklung der Sozialpolitik der Europäischen Union
- Instrumente der Europäischen Sozialpolitik
- Sozialstaaten in der Europäischen Union
- Beschäftigungspolitik
- Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik
- Gesundheits- und Pflegepolitik
- Armutsbekämpfung und soziale Inklusion
- Alterssicherungspolitik
- Bildungspolitik
- Jugendpolitik
- Migrationspolitik
- Europäische Förderpolitik
- Ausblick. Ein Europäisches Sozialmodell. oder ein unsoziales Europa?
Die Kapitel beginnen jeweils mit einer Zusammenfassung und einer Liste von Schlüsselwörtern. Sie werden insgesamt durch ein Glossar und einen Anhang ergänzt: Das Glossar enthält eine kurze Auswahl wichtiger Begriffe der Europäischen Union und einen Überblick über die Grün- bzw. Weißbücher der Europäischen Union zur Sozialpolitik. Im Anhang findet sich eine Liste der NGO's, die bei der Europäischen Union akkreditiert sind und bei den Entscheidungsverfahren beteiligt und angehört werden.
Die Literaturangaben sind jeweils den einzelnen Kapiteln beigefügt, sodass sich kein allgemeines Literaturverzeichnis findet. Es gibt ebenfalls kein Schlagwortverzeichnis, allerdings lassen sich inhaltliche Querverbindungen in E-books unkompliziert aufspüren.
Sehr hilfreich sind die Anlage der Veröffentlichung und die Tatsache, dass die Autorin die Gliederung klar umsetzt. Die einzelnen Handlungsfelder werden konsequent jeweils mit ihrer Entwicklung, also der jüngsten Geschichte, ihren Rechtsgrundlagen, den Instrumenten und den Akteuren dargestellt und mit einem Blick auf zukünftige Entwicklungen abgeschlossen. Dadurch ergibt sich eine gewisse Vergleichbarkeit untereinander. Hierdurch erkennt man u.a. auch Unterschiede erkennt, z.B. dass die Gleichstellungspolitik von Männern und Frauen und die Anti-Diskriminierungspolitik anders entfaltet und gestaltet sind als der Bereich der Armutsbekämpfung und sozialen Inklusion; und in der Migrationspolitik müssen die Asyl- und Flüchtlingspolitik, die seit Ende der 90er Jahre nach Europäischen Abkommen geschieht, und die Einwanderungs- und Integrationspolitik unterschieden werden, die weiterhin in der Zuständigkeit der Nationalstaaten liegt.
Diese Analyse ist nicht nur dem theoretischen Konzept einer Politikfeldanalyse geschuldet, sondern auch der Anlage und der Arbeitsweise der Europäischen Union. Wie sie sich aus den Impulsen seit Mitte der 80er Jahre weiterentwickelt hat, welche Rechtsgrundlagen in ihr gelten und wie darin die sozialpolitischen Initiativen und Aktivitäten der EU einzuordnen sind, wird in den Kapitel 2 bis 6 aufgezeigt.
Und nun erweist sich die Gliederung als Leitfaden zum Verständnis: Die Entwicklung in der Europäischen Union korrespondiert mit der Entfaltung in den einzelnen Handlungsfeldern; die Entscheidungsverfahren in den Handlungsfeldern kann man mit den Entscheidungswegen und -arten in der Europäischen Union vergleichen; die Rechtsgrundlagen, die bei den Handlungsfeldern genannt werden, sind leichter einzuordnen, wenn man die Rechtsgrundlagen der Europäischen Union verstanden hat; die aufgeführten Akteure, die sich in jedem Handlungsfeld beteiligen (z.B. die Organisationen der Europäischen Union, spezifische Agenturen, Arbeitsgruppen und Gruppen der Zivilgesellschaft) kann man besser einordnen, wenn man weiß, dass und warum die Europäischen Union auf die Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungs-Organisationen ausdrücklich Wert legt und welche Instrumente und Beteiligungswege sie dafür geschaffen hat. Diese Entsprechungen gelten bis hin zu den Indikatoren, die für die Berichterstattung und den gegenseitigen Austausch festgelegt wurden.
Besondere Aufmerksamkeit ist der Darstellung der Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik zu schenken: Seit Anfang der 2000er Jahre geschieht sie mit der Methode der offenen Koordinierung (Kap. 5.4, Kap. 6.3.) und seit den Reformen von 2017 durch die Europäische Säule Sozialer Rechte (Kap. 5.5; Kap. 6.4.). Führte erstere eine Berichterstattung durch die einzelnen Staaten ein, mit denen die Wirkungen der Politik im Hinblick auf die sozialpolitischen Ziele der Europäischen Union gemessen und die Anstrengungen der Staaten transparent gemacht werden sollten, so führen die Reformen von 2017 sie weiter: So sind die Indikatoren des dadurch eingeführten Europäischen Scoreboards (Kap 6.5) umfangreicher und detaillierter.
Auch wenn die Zusammenfassung, die in dieser Rezension gegeben wird, selbstverständlich allgemein bleiben muss, so liegt das Verdienst der Autorin darin, dass sie diese Elemente für zehn Handlungsbereiche der Europäischen Union auflistet und konkretisiert, dass sie die bisherigen und die umfangreicheren neuen Indikatoren dieser Bereiche gegenüberstellt und dass sie abschließend in Reformperspektiven einführt.
Diskussion
Die Autorin möchte in einem einführenden Lehrbuch über die Entwicklung und die Institutionen der EU informieren. In den besprochenen Handlungsfeldern entwickelt die EU eigene Aktivitäten, um u.a. die Tätigkeiten der Mitgliedsländer zu koordinieren. (S. 2).
Hervorzuheben ist, dass jene Bereiche geschildert werden, in denen die Europäische Union ergänzend zu den Nationalstaaten aktiv wird. Diese kennenzulernen, ist für die inhaltliche Einschätzung eines Politikbereiches elementar. Typischerweise macht man es, indem man die Ziele, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Entscheidungen, die Art der Erfolgskontrolle sowie zukünftige Themen vorstellt. Auch die Akteure, d.h. jene Gruppen und Organisationen, die sich in den Bereichen engagieren und mit ihren Handlungsressourcen Einfluss nehmen, sind zu beachten: Niemand anders als sie treiben die politisch-inhaltliche Gestaltung auf dieser Ebene weiter.
Beeindruckend ist weiterhin die Breite der Handlungsfelder, die mit ihren Entwicklungen in den letzten, jüngsten 10 bis 25 Jahren abgedeckt werden. Man sollte nicht vergessen: Es handelt sich um Zeitgeschichte – und zwar eine sehr bewegte Zeitgeschichte!
Weiterhin stellt die Autorin jeweils die gegenwärtig diskutierten, größeren Reformvorhaben für die nahe Zukunft bei den Handlungsfeldern vor. Dies tut sie aus Sicht der beteiligten Akteure und kennzeichnet dabei auch, in welchen Punkten die Reformvorschläge umstritten und konfliktträchtig sind. In diesen Bereichen gibt der Band den Stand von 2020 wieder. Bis zu diesem Zeitpunkt ging die Strategie 2020 der Europäischen Union, und bis dahin sind EU-Dokumente vorhanden. Weitere Zukunftsperspektiven greift die Autorin nicht auf.
An dieser Veröffentlichung kann vorbeigehen und muss sie nicht lesen, wer nur eine Face-to-Face Sozialarbeit machen oder wer sich auf Wissen und Anweisungen der Vorgesetzten vollständig verlassen möchte. Wer hingegen Ideen, Entwicklungen und Anregungen für sozialpolitische Anliegen und ihre Umsetzung in Europa sucht, wer Verständnis für die Hintergründe und Einflüsse auf sehr konkrete sozialpolitische Förderprogramme und ihre langfristigen Ziele sucht, findet hier kurz und knapp Informationen. Dies gilt für MitarbeiterInnen und Verantwortliche in Verwaltungen und in NGO's.
Aus Sicht der Politikfeldanalyse, der es um die Gegenstände, Ziele, Wirkungen und die Beteiligten geht, erschließt der Band wesentliche Elemente. Die Politikfeldanalyse gilt grundsätzlich als eine Untersuchungsweise, die nah an der praktizierten Politik ist; dies trifft auch auf den vorliegenden Band zu, der die jüngsten Entwicklungen der inhaltlichen Auseinandersetzung entlang der Entscheidungsorgane darstellt. Dies geschieht komprimiert, was dem Charakter als einführendes Lehrbuch entspricht.
Drei Anmerkungen sollen für die weiterführende Arbeit mit dem Buch gegeben werden.
- Bedenken muss man, dass in dem Buch lediglich eine Ebene des sogenannten Europäischen Mehr-Ebenen-Systems vorgestellt wird; die anderen Ebenen bleiben vorausgesetzt. Die Nationalstaaten, die Länder und die regionale bzw. lokale Ebene sind zum einen durch Beteiligungsarten eingebunden, und zum anderen wirken sich auf sie die Berichts- und die Förderpolitik aus, da die finanziellen Mittel über die Länderverwaltungen weitergegeben werden und in der Regel wegen des Grundsatzes der Co-Finanzierung mit eigenen Mitteln ergänzt werden müssen.
- Weiterhin fehlen u.a. die sogenannten non-decisions, also die nicht getroffenen Entscheidungen. Erst wenn man diese ebenfalls berücksichtigt, gelangt man zu einer vertieften Einordnung der politischen Bemühungen; ohne sie betrachtet man vor allem die Genese zustande gekommener Entscheidungen. Zugegebenermaßen ist das für ein einführendes Lehrbuch kaum zu schaffen, für die weiterführende Arbeit ist es jedoch aufschlussreich.
- Ähnliches gilt für die Darstellung der Akteure, deren Interaktionen, unterschiedliche Handlungs- und Machtressourcen im Hintergrund thematisiert werden. Das ist nachvollziehbar, denn diese Fragestellungen reichen in eine politics-Analyse hinein.
Fazit
Ein komprimiertes einführendes Lehrbuch.
Rezension von
Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf
Administrative und politische Grundlagen der Sozialen Arbeit
Fakultät I Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften
Universität Vechta
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Es gibt 14 Rezensionen von Johanna Bödege-Wolf.
Zitiervorschlag
Johanna Bödege-Wolf. Rezension vom 07.09.2021 zu:
Marion Möhle: Europäische Sozialpolitik. Eine Einführung. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2020.
ISBN 978-3-658-28409-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27523.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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