Michael J. Sandel, Helmut Reuter: Vom Ende des Gemeinwohls
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 04.11.2020
Michael J. Sandel, Helmut Reuter: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2020. 448 Seiten. ISBN 978-3-10-390000-2. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Thema des vorliegendes Titels ist die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft und der Protest der Bürger.
Autoren
Michael J. Sandel, 1953 geboren, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford, lehrt in Harvard und wurde durch eine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit bekannt. In seinen Veröffentlichungen beschäftigt er sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus; zum Bestseller wurde »Was man für Geld nicht kaufen kann«.
Helnut Reuter lebt in der Nähe von München und arbeitet als freier Übersetzer.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungshintergrund zu diesem Titel ist der weltweite Vormarsch der Populisten aufgrund von Gewinnern und Verlierern der liberalen Markt- und Leistungsgesellschaft. Das unumstrittene Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« führt zu dem Irrglauben, dass jeder das hat, was er verdient. Bei den Gewinnern befördert das Hybris, bei den Verlierern Demütigung, die sich zunehmend in Protesten Luft macht. Gewinner und Verlier, entfernen sich sozial und finanziell zunehmend voneinander. Sandel schlägt anstelle einer ‚Ethik des Erfolgs‘ eine am Gemeinwohl orientierte Ethik vor, die allen Mitgliedern der Gesellschaft gerecht wird.
Aufbau
Nach einem Prolog und einer kurzen Einführung beschreibt Sandel in sieben Kapiteln die Gewinner und Verlierer der Markt- und Leistungsgesellschaft, wobei Gewinn fälschlicherweise mit Leistung und Verdienst gleichgesetzt und verleugnet wird, dass er meist mit Privilegien und Glück zu tun hat, mit Einkommens-Wertmaßstäben gleichgesetzt wird und Aufstiegschancen suggeriert, die illusorisch sind. Erfolg wird meist durch einen Ausleseapparat (der mit der Geburt bereits beginnt) garantiert und vor allem nicht an dem Beitrag gemessen, den jeder arbeitende Mensch zum Gelingen des Gemeinwohls beiträgt.
Inhalt
Prolog
Auf die Coronavirus-Pandemie waren viele Länder, u.a. auch die USA, trotz Warnungen von Experten nicht vorbereitet. Infolgedessen fehlten geeignete Hilfsmaßnahmen. Trump ignorierte die Warnungen der Gesundheitsberater und spielte die Krise herunter. Die von der Seuche geforderte und notwendige Solidarität machte die Verwundbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit deutlich. Das Paradoxon von Solidarität durch Separation traf auf eine beispiellose Ungleichheit in der Verfügbarkeit von Ressourcen (Medikamente, Masken). Gewinner fanden sich nicht mehr links oder rechts, sondern wo man von der globalen Wirtschaft profitierte (durch Bildung, Herkunft, Chancen), den Erfolg sich selbst zuschrieb und mit Überheblichkeit und Verachtung auf die ‚Verlierer‘ herabschaute. Die soziale Pandemiekrise kann nicht durch eine medizinische und wissenschaftliche Expertise bewältigt werden, sondern durch eine moralische und politische Erneuerung.
Einführung: Reinkommen
Singer beginnt mit einem Bericht über den Schwindel mit Uni-Zulassungen in den USA: Reiche Eltern ermöglichten ihren Kindern mit Geld eine Zulassung durch die ‚Hintertür‘ oder den ‚Seiteneingang‘. Zwei Drittel der Studenten an den Elite-Unis stammen aus den oberen 20 % der Einkommensskala. Die ‚Zulassungsbesessenheit‘ hat zugenommen, da der Uni-Abschluss auch über das spätere Einkommen entscheidet. Die Profiteure halten ihren Erfolg – aufgrund harter Arbeit – für moralisch gerechtfertigt. Weil das kein fairer Wettbewerb ist, ist eine kritische Diskussion über Leistung und Verdienst notwendig.
Gewinner und Verlierer
Populismus, zunehmende Fremdenfeindlichkeit, rassistische Angriffe treffen auf Seiten der Politik auf Unverständnis. Neben ökonomischen Gründen (wachsende Ungleichheit) zielt die Wut auch auf die zunehmende Diversität von Ethnien und Geschlechtsidentitäten. Menschen fühlen sich fremd im eigenen Land und weigern sich, sich den Zwängen des globalen und technologischen Wandels, der meritokratisch Gewinner und Verlierer definiert, anzupassen.
In den USA war die demokratische Partei, als Trump gewählt wurde, zu einer Partei des technokratischen Liberalismus geworden, beginnend 1980 mit Reagan, fortgesetzt 1990 mit Clinton. Obama versagte als moralische Stimme, als er die Banken rettete, ohne sie zur Rechenschaft zu ziehen. Der Protest richtet sich auch in Europa gegen die Eliten, in den USA aber besonders in der Mittelklasse gegen die fehlende Aufstiegschancen und den fehlenden Zugang zu Bildung und Gesundheitsfürsorge. Die Meritokratie hat zu einer Erbaristokratie geführt (zwei Drittel der Studenten in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommensskala). Die meritokratische Ethik bietet – aufgrund der Ungleichheit der Ausgangsbedingungen – keine Chancengleichheit, verführt aber zu ungerechtfertigter Überheblichkeit der Gewinner und zu Demütigung der Verlierer. Trump holte seine Stimmen von den Globalisierungsverlierern.
Zunehmend werden Menschen an ihrem Marktwert gemessen und nicht an ihren Verdiensten für das Gemeinwohl. Während Hedgefondsmanager und Banker überdimensional belohnt werden, ist der Wert der Arbeit im herkömmlichen Sinn unsicher geworden. Es geht nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit, sondern vor allem um einen notwendigen moralischen und politischen gesellschaftlichen Diskurs.
»Groß, weil gut«. Eine kurze Moralgeschichte von Leistung und Verdiensten
Ein Wirtschaftssystem ist produktiver und weckt Ambitionen, wenn es Anstrengung, Initiative und Talent belohnt. Dieses meritokratische Ideal berücksichtigt nicht Schicksal, Glück oder angeborene Defizite und verleitet zu einer ‚Theologie des Verdienstes‘. Dagegen wandte sich Luther, denn seine Gnadenlehre war anti-meritokratisch. Nach Calvin ist jedoch eine intensive Arbeit verbunden mit Askese ein Zeichen des Heils. Diese Arbeitsethik bietet die kulturelle Basis für die Kapitalakkumulation. Die geistliche Aristokratie der Mönche wurde durch die der prädestinierten Heiligen ersetzt mit der Folge, dass die Nichterwählten verachtet wurden. Auch heute noch trägt die Meritokratie die Spuren dieses theologischen Disputs in der Vorstellung, dass die, die Erfolg haben, den auch verdient haben.
Die Ethik des Könnens stellt die Entscheidung des Menschen in den Mittelpunkt, die des Zufalls betont das Unkontrollierbare und Zufällige (Lears 2003). Die Finanzkrise 2008, verursacht durch das riskante Verhalten der Wall-Street-Banker, wurde aber nicht nur auf Kosten der Steuerzahler behoben, sondern gestattete den Bankern, sich auch noch Milliarden als Boni zu gewähren, während normale Unternehmen um das Überleben kämpften.
Das amerikanische ‚Wohlstandsevangelium‘, das die Gewinner belohnt, weckt weder Demut noch Dankbarkeit, unterstützt vielmehr den Glauben an den eigenen Verdienst und den Anspruch auf entsprechende Belohnung. Deshalb sollte auch Gesundheit, als Zeichen von Tugend, belohnt, und Krankheit, als Zeichen von Fehlverhalten, bestraft werden durch höhere Beiträge zur Versicherung. Gesundheit und Wohlstand sind aus meritokratischer Sicht hochmoralische Angelegenheiten.
Die Globalisierung hat zudem einen Nationalismus und Autoritarismus befördert, der zunehmend liberale Normen und Institutionen gefährdet, – ein Fortschritt im Negativen. Die Ethik des Verdienens und des Ehrgeizes hat die Ethik von ‚Gnade/​Geschenk und Dankbarkeit‘ in den USA verdrängt.
Das Gerede vom Aufstieg
Für sein Schicksal verantwortlich zu sein, ermutigt Menschen, die Kehrseite ist jedoch, dass ein Scheitern entmutigend und entwertend erlebt wird. Selbst bei Elite-Studenten löste der Hinweis auf glückliche Umstände, die zu ihrem Erfolg geführt hatten, Widerstand aus, denn die Konkurrenz um Studienplätze war seit 1980 härter geworden. Der Stress durch den Leistungsdruck hatte bereits, unterstützt von den Eltern, in der Schule begonnen. Chancengleichheit bedeutete zwar Abwesenheit von Diskriminierung, aber nicht Fairness in den Zugangsvoraussetzungen zum materiellen und gesellschaftlichen Aufstieg.
Hilfe verdient nur, wer unverschuldet in Not geraten ist. Die Betonung der Eigenverantwortung ist auch die Grundlage der Hartz IV-Reformen in Deutschland. Aufstieg, soweit einen die Fähigkeiten tragen, sind Grundvoraussetzungen einer Leistungsgesellschaft: Man bekommt (erreicht), was man verdient hat.
Bei Trumps Wahl hat die populistische Antipathie gegenüber den Leistungseliten eine Rolle gespielt, zusätzlich verknüpft mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Anti-Multikulturalismus. Für die Verlierer wirkte das Gerede vom Aufstieg eher beleidigend als inspirierend und im Effekt demoralisierend in Bezug auf Solidarität und wechselseitige Verpflichtung, denn die Verheißung, durch Anstrengung und Einsatz steigen zu können, spiegelte die Realität nicht wider. Während in China die Einkommensgewinne relativ sozial mobil verteilt waren, kamen sie in den USA weitgehend den Eliten zugute. Entsprechend gab es mehr Ungleichheit und weniger soziale Mobilität.
Nach Umfragen überschätzen Amerikaner ihre Aufstiegschancen, während Europäer sie unterschätzen; diese Wahrnehmungen werden durch Glauben und erworbene illusionäre Überzeugungen geformt.
Kredentialismus: Das letzte akzeptable Vorurteil
Seinen Wahlkampf bestritt Trump, indem er die Wut auf die meritokratische Überheblichkeit der Eliten anstachelte; gleichzeitig suchte er deren Anerkennung. Auch Biden übertrieb zeitweise, um Anerkennung zu bekommen. Das meritokratische Ideal verfestigt Vorurteile in Bezug auf Erfolg und Scheitern. Höhere Bildung galt als Lösung für wirtschaftliche Nöte. Aber ist Bildung das Heilmitte für Ungleichheit oder doch nur ein moralisches Urteil über Versager (Thomas Frank 2016)? Schwächt sie nicht die Wertschätzung der Arbeiter? Ist es nicht ein Problem der Gerechtigkeit, wenn smarte Investmentbanker so viel verdienen, im Vergleich zu den ‚dummen‘ Arbeitern? ‚Smart versus dumm‘ ist eine überhebliche Einstellung von Gebildeten gegenüber Ungebildeten, die zum Teil sogar von den Ungebildeten geteilt wird. In der Politik finden sich weit überwiegend akademische Grade und selten Angehörige der Arbeiterklasse; das gilt auch für Europa (im Bundestag 83 % Uni-Absolventen). Dennoch war Harry S. Truman – ohne Diplom – einer der besten amerikanischen Präsidenten.
2016 stimmten zwei Drittel der Weißen ohne akademischen Grad für Trump; die Demokraten wurden hingegen mit der Akademikerschicht identifiziert. Der Graben zwischen denen mit oder ohne einen akademischen Grad hat sich inzwischen weiter vertieft.
Zudem lenken technokratische Debatten (über Fakten, Daten) ab von den politischen Fragen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls., hingegen ergänzen sich Technokratie und Neoliberalismus gut. Politik besteht aber aus einem Wechselspiel von Meinungen und Fakten (Beispiel die Debatte um den Klimawandel).
Die Ethik des Erfolgs
Wenn Einkommen und Vermögen durch Zufälle der Geburt bestimmt sind und von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, entspricht das einer aristokratischen Gesellschaft, was aber nicht vergleichbar ist mit dem Stolz, durch Anstrengung und Talent in der Meritokratie aufzusteigen und deren demoralisierenden Kehrseite, arm zu sein. Ein klarer Blick auf das moralisch willkürliche Zustandekommen des eigenen Rangs führt nach Young (1961) zu der Erkenntnis, dass die Chancen keinesfalls mit den Fähigkeiten übereinstimmen. In der Leistungsgesellschaft haben die Reichen und Mächtigen das System manipuliert, um ihre Privilegien zu behalten.
Sandel geht es um Fragen der Gerechtigkeit und um die Bewertung von Erfolg und Scheitern. Auch eine vollkommene Leistungsgesellschaft wäre ungerecht, weil sie die Vorteile von unterschiedlichen angeborenen Talente unterschlägt, die nicht eigenes Verdienst sind; auch die gesellschaftliche Anerkennung steht nicht in der Verfügung des Einzelnen. ‚Neoliberalismus‘ und ‚egalitärer Liberalismus‘ stehen in einem komplexen Verhältnis.
Hayek (1960) unterscheidet zwischen Verdienst (moralisches Urteil) und Wert (was man bereit ist für ein Gut zu zahlen). Die wirtschaftliche Belohnung spiegelt weder die Leistung eines Menschen noch seinen moralischen Verdienst wider, stattdessen einen Zufall von Angebot und Nachfrage, den auch Verdienst ist nach Hayek eine Angelegenheit günstiger Umstände.
Der Liberalismus des Wohlfahrtsstaats (egalitärer Liberalismus) kann nach Rawls (1971) die Ungerechtigkeit aufgrund natürlicher Fähigkeiten nicht beheben. Echte Chancengleichheit bedeutet noch nicht eine gerechte Gesellschaft. Unterschiede sind eine natürliche Gabe und sollten auch den weniger Begünstigten zugute kommen, denn wir schulden der Gemeinschaft, die unseren Erfolg ermöglicht hat, Dank und sind verpflichtet, zum Gemeinwohl beizutragen. Auch die Erfolgreichen sind nicht allein für ihren Erfolg verantwortlich.
Nach Hayek und Rawls sind Leistung und Verdienst keine Grundlage für Gerechtigkeit. Doch wie bestimmt man Verdienste, wenn das gesellschaftlich strittig ist? Hayek macht den fadenscheinigen, moralisch und psychologisch nicht haltbaren Unterschied zwischen Verdienst und Wert. Marktwert und der moralische Wert des Beitrags für die Gesellschaft sind unterschiedliche Dinge (Knight 1920): Markpreise sind keine ethischen Werte. Die Befriedigung von Verbrauchernachfrage ist kein Wert an sich (s.a. Drogen). Deshalb müssen nach Rawls Spielregeln der Gerechtigkeit (Rechtsansprüche) festgelegt werden, die eine meritokratische Überheblichkeit einschränken, denn die populistische Revolte gegen die Eliten bezieht ihre Energie aus dem Ärger, über die Überheblichkeit, die Akademiker den nicht-Akademikern entgegenbringen (intelligent versus dumm).
Kritiker des Glückegalitarismus (Anderson 1999) bemängeln, dass Mitgefühl und Solidarität verknüpft werden mit der Schuldfrage (verschuldet oder unverschuldet in Not geraten), sodass die Empfänger sich als unverschuldete Opfer darstellen müssen und nicht als gleichwertige und anspruchsberechtigte Bürger: Hilfe wird damit zur Demütigung. Aber die Unterscheidung zwischen Zufall und eigener Entscheidung ist unscharf, da auch Menschen mit Begabungen und Behinderungen – also ungleich – geboren werden.
In den letzten Jahrzehnten ist der öffentliche Diskurs von der Sprache der Leistung dominiert worden, trotz einer sich vertiefenden Ungleichheit; diese macht sich in populistischen Gegenbewegungen Luft.
Der Ausleseapparat
Die Tyrannei der Leistung untergräbt die Würde der Arbeit. Bilden die Elite-Unis (Havard, Yale, Princeton, Stanford) tatsächliche die begabtesten Studenten aus oder vielmehr die Kinder einer vererblichen Oberklasse? Durch ein Stipendiumprogramm versuchte man die begabtesten High-School-Schüler herauszufinden; das Ergebnis war eine ’Tyrannei der Leistung‘ (Meritokratie) und eine Auslese, die weniger Begabte ausschloss. Selbst dann waren die Kinder von ‚Ehemaligen‘ nach wie vor überrepräsentiert, da bereits die Familie Bildungsvor- und -nachteile bietet, somit sind auch die Testvoraussetzungen nicht für alle gleich sind. Für den, der aus einer reichen Familie stammt, liegen die Chancen, eine Elite-Uni zu besuchen um Faktor 77 höher als für Angehörige armer Familien. Zudem ist eine höhere Bildung nicht zum Motor einer sozialen Mobilität geworden. Die Mobilitätsquoten an den Universitäten sind gering, solange die Zulassungsbedingungen (positive bei ehemalige Absolventen, Spenden, Finanzierern von Stipendien) nicht verändert werden. Zwar können die Hochschulen von sich aus Bevorzugungen einstellen oder der Staat könnte ihnen Steuerbefreiung entziehen, wenn nicht mindestens die Hälfte der Studenten aus den unteren Zweidrittel der Einkommen stammt, doch ist offen, ob das eine grundsätzliche Änderung bewirken würde.
Inzwischen hat der harte Ausleseprozess zugenommen, und an dem falschen Werterahmen (dass allein Leistung und Erfolg zählt) hat sich nichts geändert. Auch wurde die Kluft zwischen hoch- und niedrige-selektiven Hochschulen immer größer. Der Druck durch den Zulassungswahn verdirbt vielen Kindern den Genuss der Teenagerjahre. Bei den Gewinnern führt sie leicht zu Überheblichkeit, subjektiv gerechtfertigt durch den erlebten Stress in den Entwicklungsjahren. Untersuchungen zeigen, dass viele Kinder ‚depressiv, ängstlich und wütend‘ sind und Depressionen, Drogenabhängigkeit und Angststörungen zeigen: Die Sieger auf dem Leistungsschlachtfeld kehren triumphierend, aber verwundet, zurück, infiziert mit der Krankheit des ‚Perfektionismus‘.
Auch die zahlreichen Clubs und Organisationen an den Hochschulen stellen ein selektives Ausleseprinzip dar, das Überheblichkeit und Demütigung begünstigt. Sandel plädiert für eine Abbau des Ausleseapparats und schlägt, da die bisherigen Kriterien unzuverlässig sind, ein Lossystem vor und gleichzeitig eine Wertschätzung jeder Form von Arbeit, die einen Beitrag zum Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens leistet – und damit einen Abbau von Überheblichkeit und Demütigung.
Arbeit anerkennen
Seit 1945 bis ca. 1970 war es möglich, auch ohne Hochschulabschluss eine gute bezahlte Arbeit zu finden; von 1979 bis 2016 nahm die Zahl der produzierenden Gewerbe ab, obgleich die Produktivität zunahm; der Gewinn blieb bei den Führungskräften und Aktionären. Gleichzeitig nahm die soziale Anerkennung und Wertschätzung ab. Geld spiegelt nicht den Wert eines gesellschaftlichen Beitrags, sorgt aber für Ungleichheit und weckt Groll. 2017 hatten nur 68 % – qualifiziert mit einem High-School-Abschluss in USA – einen Job. Zunehmend gab es ‚Todesfälle aus Verzweiflung‘ besonders unter weißen Erwachsenen zwischen 45 und 54 Jahren, nicht nur aus materiellen Gründen. Ursachen der Verbitterung ist u.a. die Herabsetzung der Arbeiterklasse seitens der Eliten und ökonomischer Groll. Mit dem Wegfall der Rassentrennung fiel auch der Trost weg, dass andere noch schlechter gestellt waren. Hochschild (2018) stellte ‚Hoffnungen, Ängste, Stolz, Scham, Verbitterung und Sorgen‘ unter Arbeitern fest. Automatisierungen und Verlagerungen führten zum Verlust der Arbeitsplätze und weckten elitären Dünkel und Frustration.
Sandel meint, dass die ‚Würde der Arbeit‘ erneuert werden muss. Denn Arbeitslosigkeit bedeutet auch, dass man für die Gemeinschaft nutzlos ist und keine Anerkennung und Wertschätzung bekommt. Einkommen und Vermögen müssten fair verteilt werden. Die Gewinner des Wirtschaftswachstums müssen die Verlierer entschädigen, – auch wenn damit das Anerkennungsproblem nicht gelöst ist. Gemessen am Gemeinwohl geht es nicht um die Konsumenten, sondern um die Produzenten (Beispiel Streik der Müllwerker) und ihren Anteil am Gemeinwohl durch die Befriedung grundlegender menschlicher Bedürfnisse.
Das begründet Zweifel an den Prämien der Globalisierungsgewinner und den Zumutungen für die zurückgelassene Mehrheit. Positiv unterstützten Lohnaufstockungen während der Corona-Epidemie die Würde der Arbeit (im Gegensatz zum Arbeitslosengeld).
Der Finanzmarkt-Kapitalismus hat sich demoralisierend auf den Wert der Arbeit ausgewirkt, obgleich er nicht produktiv ist. Zwar fördert er Wirtshaft, indem er Kapital zur Verfügung stellt, doch ist zunehmend weniger Kapital in die Realwirtschaft investiert worden, stattdessen in komplexe Finanztechniken, die den Akteuren Profite bringen, aber die Wirtschaft nicht produktiver machen. Erträge werden vielmehr aus der Realwirtschaft abgezogen ohne einen ökonomischen Wert zu liefern, stattdessen ‚unproduktive Lotteriegewinne‘. Moralische Urteile finden sich auch in der Steuerpolitik, wenn Einkommen aus Kapitalgewinnen nicht versteuert werden. Wird heute die Zahl der Nehmer größer als die der Macher?
Es geht darum, die Würde der Arbeit wiederherzustellen, die sozialen Bindungen zu reparieren, die die meritokratische Leistungsgesellschaft zerstört hat.
Schluss – Leistung und Gemeinwohl
Ist eine Leistungsgesellschaft eine gerechte Gesellschaft? Barrieren, die einen Aufstieg verhindern, abzubauen ist gut. Aber auch die, die nicht aufsteigen können, müssen einen solidarischen Platz in der Gesellschaft haben und mit ihren Fähigkeiten Anerkennung finden ungeachtet der zufälligen Umstände von Geburt oder Begabung. Wohlhabende und Menschen mit bescheidenen Mitteln treffen kaum (in Wohnorten, Schulen, Heiraten) aufeinander. Die beiden Konzepte des Gemeinwohls – das konsumorientierte und das zivilgesellschaftliche – müssen Gemeinsamkeit pflegen, Differenzen auszuhalten und gemeinwohlorientiert handeln. Auch wenn wir Erfolg haben, schulden wir der Gesellschaft, dass sie uns das ermöglicht hat, verbunden mit der Einsicht, dass wir nicht völlig autark sind und über Zwecke und Ziele der Gesellschaft gemeinsam solidarisch nachdenken müssen. Demut anstelle einer Ethik des Erfolgs, weist über die Tyrannei der Leistung hinaus und auf ein großzügigeres (gemeint ist wohl eher gerechteres? Ha.) öffentliches Leben.
Diskussion
Sandel bezieht sich im Buch weitgehend, aber nicht nur, auf amerikanische Verhältnisse des Zugangs zu höherer Bildung (Universitäten) verbunden mit Aufstiegschancen in der Gesellschaft. Probleme sind u.a. die unterschiedlichen Voraussetzungen von Geburt/​familiäres Umfeld und angeborener Begabung. Fehlende Unterstützung und Anerkennung (auch materiell) verschärfen die Probleme von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Diese sind auch in Europa und Deutschland nicht gelöst und ein Teil der Ursache der Zunahme von populistischen Bewegungen (fehlende Anerkennung und Entwertung). Das beginnt bereits in der Schule, wenn einseitig intellektuelle Begabungen gefördert, aber praktische – die später auch benötigt werden – vernachlässigt werden und Kinder mit unterschiedlichen – praktischen, künstlerischen, sozialen – Fähigkeiten leicht entmutigt oder gedemütigt werden, wenn allein intellektuelle Standards gelten. Diese sind zwar notwendig in Technik und Wissenschaft, leben aber auch vom einem funktionierenden Gemeinwesen, zu dem Krankenschwestern, Müllwerker, Verkäuferinnen (um nur einige zu nennen) das Ihrige beitragen, was in Deutschland zum Beispiel erst zu Coronarzeiten wieder in das allgemein Bewusstsein rückte.
Der Neoliberalismus und die Globalisierung haben zudem eine Entwicklung begünstigt, dass profitorientierte Produktionsanlagen in Billigländer verlegt wurden mit der Folge von Werksschließungen, unverschuldeter Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg. Auch die (unverschuldete) Corona-Epidemie hat bei vielen zu einem sozialen Abstieg geführt, der, selbst wenn er durch ein soziales Netz aufgefangen wird, die gesellschaftlich diskriminierenden Folgen von Hartz-IV-Empfängern nicht mindert, solange nicht insgesamt ein Umdenken stattfindet. Auch ein Hartz-IV-empfangende alleinerziehende Mutter oder Vater leisten einen Anteil zum Gemeinwohl und verdienen Anerkennung und Respekt.
Wie sehr die Schule, zu einseitig auf intellektuelle Leistungen ausgerichtet, uns geprägt hat, habe ich in Gesprächen mit rechtsradikalen Jugendlichen (Schulabbrechern) erlebt, als ich bei mir die ‚Verführung‘ (!) beobachtete, meine intellektuelle Überlegenheit auszuspielen. Das hätte verhindert, dass ich überhaupt etwas von ihren Sorgen, Nöten, Minderwertigkeitsgefühlen und subjektiver Aufwertung durch entsprechende Vorurteile erfahren hätte.
Beim Lesen des Buches wurde ich erinnert an das Buch von Vobruba (2019) über ‚Einfachdenken und besseres Wissen‘, in dem der Autor auch zu wenig berücksichtigt, dass wir uns – auch als Intellektuelle (!) – im Alltag mit Einfachdenken zurechtfinden und froh sind, wenn wir einen Handwerker finden, der zwar nicht Elektrotechnik studiert hat, aber weiss, wie man einen Küchenherd anschliesst. Das Einfachdenken ist typisch für die Technik, mit der Kinder die Welt entdecken: Sie entdecken, wie was funktioniert, aber wissen nicht warum, und für den Alltagsgebrauch ist das ‚Wie‘ nützlich und in vielen Fällen durchaus ausreichend. Auch Intellektuelle benutzen dieses Einfachdenken bereits am Computer und müssen, wie mir tröstlich ein Experte nach einem Absturz sagte, auch nicht verstehen, warum der plötzlich nicht mehr wie gewohnt funktionierte.
Da die Welt sozial, politisch, technisch, ökonomisch immer komplizierter und komplexer wird, andererseits Menschen durch die Explosion des Wissens über das Internet auch immer zahlreicher und kritischer an diesen Entwicklungen teilhaben können (nicht müssen), wächst die Notwendigkeit die Fragen, die Sandel stellt, nach der ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit und gesellschaftlichen Anerkennung gemessen am Dienst für das Gemeinwesen, politisch ernst zu nehmen und mit allen Beteiligten unter fairen Bedingungen auszuhandeln. Der Maßstab sollte nach Sandel orientiert sein am ‚Produkt‘, – ein funktionierendes Krankenhaus (einschliesslich der Reinigungskräfte), eine Schule, eine Eckkneipe, ein Sportverein sind Produkte, – die zum gelingenden gesellschaftlichen Zusammenleben beitragen. Im Gegensatz dazu, bemerkt Sandel kritisch, dass die Bankenkrise auch kritische Fragen aufwirft im Hinblick auf ein Gewerbe, das möglicherweise weitgehend nur der Selbstbedienung dient.
Populistische Bewegungen sind nach dieser Analyse durchaus verständliche und notwendige Provokationen, soweit sie auf Anerkennungs- und Verteilungsdefizite hinweisen. Was nicht heisst, dass sie immer Recht haben. Aber: Wer hat schon ‚immer‘ Recht?
Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, dem einige Kürzungen – wegen Wiederholungen – gutgetan hätten und das, angesichts der Übersetzung, in mir oft den Wunsch weckte, das Original zur Hand zu haben, da ich mir auch andere mögliche Übertragungen von Gedanken vorstellen konnte.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 120 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 04.11.2020 zu:
Michael J. Sandel, Helmut Reuter: Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. S. Fischer Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
ISBN 978-3-10-390000-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27541.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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