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Bettina Hitzer: Krebs fühlen

Rezensiert von Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt, 19.03.2021

Cover Bettina Hitzer: Krebs fühlen ISBN 978-3-608-96459-2

Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2020. 540 Seiten. ISBN 978-3-608-96459-2. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.

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Thema

Der Titel zeigt sich griffig und eingängig- ist aber etwas irreführend. Denn diese Studie führt nicht in die Erlebenswelt der Erkrankten vielmehr richtet sie den Blick auf Diagnose und Therapie der Krebserkrankung und wie sich der emotionale Umgang von Gesellschaft, Wissenschaft und ihren VertreterInnen während des 20. Jahrhunderts verändert hat. Zudem analysiert die Autorin deutlich, dass sich das Therapieziel und damit auch der Umgang mit Emotionen von der Idee der Lebensverlängerung hin zur Verbesserung der Lebensqualität verändert hat.

AutorIn

Bettina Hitzer ist Historikerin, leitet seit 2014 die Forschungsgruppe für Bildungsforschung am Max-Planck-Institut für in Berlin und lehrt als Privatdozentin an der FU Berlin.

Entstehungshintergrund

Dieses Werk ist die gekürzte und überarbeitete Version der 2017 abgeschlossenen Habilitationsschrift der Autorin an der FU Berlin.

Aufbau

Die Emotionsgeschichte wird mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten jeweils chronologisch insgesamt viermal dargestellt. Zunächst wird begonnen mit dem Kapitel „Krebs erklären und erforschen“, dem folgt der Fokus auf Früherkennung und Heilungsnarrative, mit dem Titel „Krebs erkennen“, gefolgt von dem Abschnitt „Über Krebs sprechen“. Abgschlossen wird mit dem Teil „Krebs erfahren“, in dem die Emotionen Angst, Ekel und Hoffnung bereits im Inhaltverzeichnis als Unterabschnitte benannt werden. Das Kapitel „Krebs fühlen im 20. Jahrhundert“ bildet die Zusammenfassung.

Inhalt

Im ersten Kapitel steht die Frage danach im Mittelpunkt, wie und wann es dazu kam, dass sich die Medizin als Wissenschaft den Gefühlen widmete. Der zeitliche Schwerpunkt wird hier auf die Zeit nach 1945 und Fragen nach psychosomatischen Konzepten in der Krebsforschung gelegt. Dabei wurden die Ideen einer möglichen Krebspersönlichkeiten und der damit verbundenen Zuschreibung von Schuld und Verantwortung für das Krankheitsgeschehen diskutiert.

Im nächsten Kapitel geht es um Krebsaufklärungskampagnen und die Instrumentalisierung von Angst und Hoffnung in den dort eingesetzten Medien. Bettina Hitzer führt mit Verweis auf verschiedenste Quellen aus, dass Angst sowohl als sinnvoll und motivierend betrachtet wurde, weil es dazu führen sollte, den Arzt bei Auffälligkeiten zu konsultieren, gleichwohl konnte zu viel an Angst oder falsche Angst zu Panik und Lähmung und damit ungewünschtem Verhalten führen. Der Blick auf die beiden deutschen Staaten zeigt auch unterschiedliche Narrative der medizinischen Gefühlspolitik. In der DDR wich die Angst der Sozialistischen Lebensfreude, in der BRD wurde das Thema Angst im Umgang mit der Krankheit Krebs weiter bedient und moralisch konnotiert in den familiären Raum getragen. Erst in den 70er Jahren wurde dort die Betonung der Angst versetzt durch den Glauben an durch eine positive Einstellung mögliche Gesundung.

Im dritten Kapitel liegt der Fokus auf das die Art und Weise, wie ÄrztInnen mit ihren PatientInnen über die Diagnose und die Therapie sprachen. Deutlich erscheint hier bis in die 1970er Jahre die Dominanz des Schweigens in allen Variationen, vom Verschweigen Verheimlichen, bis hin zum Lügen. Das Recht auf Aufklärung und Mitbestimmung setzte sich erst nach und nach und entwickelte sich parallel mit der Fokussierung psychotherapeutischer Ansätze in der Krebstherapie, bei denen die Zusammenarbeit des erkrankten und informierten Menschen mit dem Arzt zum Paradigma wurde.

Im vierten Teil wird der Erfahrungsraum Krebs, und die Orte der Behandlung, sowie wie der Strahlenbunker vorgestellt. Den Emotionen Angst und Ekel nähert sich die Autorin nicht über Geschichten der Betroffenen selbst, sondern über die Darstellung der Räume oder die Bilder der Erkrankten und ihrer entstellenden Krebsgeschwüre. Der letzte Teil widmet sich hier dem Phänomen der Hoffnung, die von einem oft falschen Versprechen einer Heilung zu einer Aufgabe des Kranken erwuchs. Die neuen Therapien mit den wiederkehrenden Phasen einer Gesundung veränderten zudem den Umgang mit Gefühlen und dessen Management.

Im letzten Kapitel wird vorzüglich zusammengefasst und pointiert die Thesen der Gefühlslogiken in beiden deutschen Staaten zugespitzt.

Diskussion

Dieses Buch bietet über den Zugang in Räume des Forschens, der Früherkennung der der Behandlung und des Weiterlebens oder Sterbens Einblicke in die Gefühlswelt von Menschen, die an der Heilung und Behandlung von Krebs beteiligt sind, oder an Krebs Erkrankten und ihren Angehörigen. Dabei geht die Autorin von einem Gefühlsbegriff aus, der Gefühle sowohl als universell, individuell, und historisch konstruiert bzw. beurteilt erachtet. Dies wird insbesondere bei dem Thema Hoffnung und dem „emotional turn“ Anfang der 1990 er Jahre deutlich. Während Hoffnung lange als eine in die Zukunft und auf Heilung gerichtete Haltung galt, wird nun von den Kranken eingefordert, unterstützt von PsychoonkologInnen und PalliativmedizinerInnen mit Bildern von kleinen Erlebnissen des Glücks an der Idee einer Hoffnung zu arbeiten. Damit wird durchaus auch Kritik an diesen aktuellen Gefühlsbildern geübt, zumindest aber wird deutlich, dass sich unter gleichen Begriffen oft unterschiedliches verbirgt.

Fazit

Bettina Hitzers Buch ist quellen- und kenntnisreich, äußerst differenziert und tiefgründig. Sie geht den Wegen des Schweigens und Sprechen über Krebs nach, erkundet Unterschied zwischen den beiden deutschen Staaten und deutet sie sachkundig und zeigt wie sich verändernde gesellschaftliche Normen bis in unser Erleben von Gefühlen eindringt. Zu Recht hat sie den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2020 für diese Studie erhalten. Wem dieses Buch aufgrund seines Umfangs abschreckt, sollte mit der brillanten Zusammenfassung beginnen und dann einzelne Kapitel herauspicken- auch so funktioniert dieses Werk.

Rezension von
Dr. rer. soc. Gudrun Silberzahn-Jandt
Kulturwissenschaftlerin, Referentin beim Caritasverband der Diözese Rottenburg – Stuttgart e.V.
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Es gibt 21 Rezensionen von Gudrun Silberzahn-Jandt.

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Zitiervorschlag
Gudrun Silberzahn-Jandt. Rezension vom 19.03.2021 zu: Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2020. ISBN 978-3-608-96459-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27549.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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