Bernd Dollinger: Sozialpädagogische Theoriegeschichten
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 17.02.2021

Bernd Dollinger: Sozialpädagogische Theoriegeschichten. Eine narrative Analyse historischer und neuerer Theorien Sozialer Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 256 Seiten. ISBN 978-3-7799-6385-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema
Theorien Sozialer Arbeit sind ein durchaus umstrittenes Diskursfeld. In der Praxis häufig kaum bekannt und rezipiert, was nicht nur den in der Handlzeithungspraxis tätigen Fachkräften zum Vorwurf gemacht werden kann. Teilweise sind theoretische Fassungen derart dargelegt, dass diese in der Tat schwer nachvollziehbar erscheinen. Zugleich gibt es ‚Theorien‘, bei denen kritisch nachfragt sein darf, ob es für die Disziplin zuträglich ist, wenn eher fachkonzeptionelle Systematisierungen gleich in den Stand einer Theorie gehoben werden. Gleichwohl benötigt eine Wissenschaft Soziale Arbeit, um als solche überhaupt einen anerkannten Stellenwert auch außerhalb ihrer Selbstbezüge zu erlangen, gleichsam theoretische Rahmungen und theoriegeleitete Füllungen. Das hier vorgelegte Theoriebuch reiht sich gleichwohl nicht ein in die mittlerweile durchweg mannigfaltig vorhandenen Bündelungen der theoretischen Grundierungen Sozialer Arbeit bspw. Ernst Engelke, Stefan Borrmann, Christian Spatscheck (Hrsg.): Theorien der Sozialen Arbeit.2018 [https://www.socialnet.de/rezensionen/​24725.php]; Michael May, Arne Schäfer (Hrsg.): Theorien für die Soziale Arbeit. 2018 [https://www.socialnet.de/rezensionen/​24772.php]; Philipp Sandermann, Sascha Neumann: Grundkurs Theorien der Sozialen Arbeit. [https://www.socialnet.de/rezensionen/​24391.php]; Johannes Schilling, Sebastian Klus: Soziale Arbeit. Geschichte, Theorie, Profession. 2017 [https://www.socialnet.de/rezensionen/​23788.php]; Peter Hammerschmidt, Kirsten Aner, Sascha Weber: Zeitgenössische Theorien sozialer Arbeit. 2016 [https://www.socialnet.de/rezensionen/​21990.php]; Stefan Borrmann: Theoretische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Ein Lehrbuch. 2016 [https://www.socialnet.de/rezensionen/​21167.php]. Es stellt auch keinen Versuch dar, einen neuen theoretischen Zugang zu Sozialer Arbeit anzubieten. Das herausragende Angebot dieser strukturell zugänglich dargelegten und für ein Theoriebuch lesefreundlich gestaltete Lektüre liegt darin, einen zumindest für den Rezensenten ungewohnten analytischen Zugang zu sieben beispielhaft ausgewählten Theorien der Sozialpädagogik und Sozialarbeit zu ermöglichen. Auf Grundlage des Geschichtswissenschaftler Hayden White sowie dem in der Narrationsforschung fachlich beheimateten Gérard Genette wird eine narrative Analyse ausgeführt, um, dezidiert als Ziel des Buches so benannt, „die Welten zu rekonstruieren, die in sozialpädagogischen Theorien entworfen werden und in denen eine spezifische Art von Sozialpädagogik bzw. Sozialer Arbeit verortet wird“ (S. 7).
Autor
Bernd Dollinger, Hochschullehrer für Theorie und Geschichte an der Universität Siegen, ist neben seinen zahlreichen fachwissenschaftlichen Publikationen renommiert durch seine Forschungen im Bereich eben der Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, zugleich zu thematischen Fokussierungen der Jugend-/​Kriminalität und der Professionalisierungsdiskurse sowie der Bezüge von Sozialpädagogik und Sozialpolitik.
Aufbau und Inhalt
Nach einem die Grundmotivation und Zielstellung dieser narrativen Theorieanalyse skizzierendem Vorwort wird im ersten Kapitel ein Zugang zu den beiden oben benannten theorieanalytischen Verfahrensweisen ermöglicht, um so in die Perspektiven, die Begrifflichkeiten sowie die Instrumente und Darlegungsstruktur dieser Analyseform einzuführen und das Nachfolgende transparent erfassbar zu machen.
Teil 1 der Analyse befasst sich mit drei vom Autor ausgewählten ‚historischen Kernnarrativen‘, die im Folgenden nur benannt werden:
- Liberale Sozialpädagogik und das Risiko der Freiheit: Adolph Diesterweg
- Völkische Sozialpädagogik und die Harmonisierung von Gegensätzen: Herman Nohl
- Kritische Sozialpädagogik gegen den Kapitalismus: Siegfried Bernfeld.
Nach einem die zuvor ausgeführten Analysen vergleichenden Zwischenfazit folgen in Teil 2 vier ‚neuere Narrative‘:
- Die ironische Soziale Arbeit der „Zweiten Moderne“
- Die metaphorische Soziale Arbeit als Systemtheorie
- Metonymische Soziale Arbeit: Regierung gemäß Michel Foucault
- Polytrope Soziale Arbeit: Die Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch
Das Buch schließt mit einer „narrativen Plausibilität sozialpädagogischer Theorien“ (S. 227).
Diskussion
Wie eingangs bereits angedeutet, ist dieses Buch eine Bereicherung im Diskurs der Theorien Sozialer Arbeit, da zumindest entlang dieser sieben exemplarisch gewählten Theoriebezüge die Stärke dieses narrativ-analytischen Vorgehens deutlich wird. Die Theoriebezüge werden weder bewertet noch relativiert, gleichwohl deutlich stärker als nur in einem zeithistorisch und gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet, wie zumeist in den eingangs benannten Sammelwerken. Um den Autor selbst ‚sprechen‘ zu lassen: Theorien Sozialer Arbeit „sind ideologisch gefärbt, verbinden sich mit der Reputation einzelner ForscherInnen und Forschungstraditionen, folgen besonderen Konjunkturen wissenschaftlicher und kultureller Diskurse, sie belassen ihre normativen Voraussetzungen oftmals implizit usw.“ (S. 229). All diese Aspekte (und noch viel mehr) werden in diesem Buch strukturiert sichtbar gemacht und ermöglichen so eine ergänzende und bereichernde Perspektive zu den bestehenden Theoriebezügen.
Fazit
Es wäre eine fachliche Freude, wenn der Kollege unter dieser narrativen Analysebrille weitere Theorien Sozialer Arbeit durch diese narrative Analysebrille betrachtet. Kurzum: ein durchaus voraussetzungsvolles, durchweg anspruchsvolles und rundum lesenswertes sowie zugänglich gestaltetes Fachbuch, dass zumindest in den Masterstudiengängen Sozialer Arbeit nutzbar gemacht werden sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig [www.eins-berlin.de].
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 17.02.2021 zu:
Bernd Dollinger: Sozialpädagogische Theoriegeschichten. Eine narrative Analyse historischer und neuerer Theorien Sozialer Arbeit. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-6385-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27556.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
Urheberrecht
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