Konrad Heiland (Hrsg.): Prinzip Infektion
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.06.2021
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Konrad Heiland (Hrsg.): Prinzip Infektion. Atmosphärische Übertragung in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2020. 340 Seiten. ISBN 978-3-8379-2965-2. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
„German Angst“ -oder: Infektion als medizinische und anthropologische Variante
Ansteckung ist Übertragung von Viren und Krankheitskeimen von einem Körper auf einen anderen, wie auch Einflussnahme in psychischen und kommunikativen Zusammenhängen. Die Übertragung von Meinungen, Auffassungen, Einstellungen auf andere Menschen ist verbunden mit intellektuellen, neuronalen, aber auch ideologischen Aktivitäten (Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/​22651.php). Die Aktionen und Reaktionen bewegen sich in individuellen und kollektiven Prozessen überwiegend in der Spannweite zwischen Hoffnung, Kraft, Zuversicht, Empathie,positivem Denken und Handeln auf der einen Seite, und von Angst, Passivität, Ausgeliefertsein, Fatalismus und humaner Verneinung auf der anderen (Hannes Hofbauer/Stefan Kraft, Hrsg., Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/​28090.php; dies., Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​28039.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeber
„Mir scheint das Prinzip Infektion wie ein übergreifendes, mächtiges Lebensprinzip“. Mit dieser Aussage greift der Arzt, Psychotherapeut und Psychoanalytiker Konrad Heiland in den Diskurs ein, dass – im Allgemeinen wie im Besonderen – der Mensch in seiner Identitätsentwicklung darauf angewiesen ist, sich ein- und auszurichten auf kollektive Werte, Normen, Verfasstheiten und Lebensbedingungen. Dabei erlebt er sowohl positive Wirkungen, aber auch negative Gefährdungen: „Angst ist ansteckend, aber Mut ist es auch“. Mit den Denk-Instrumenten und Methoden der Psychoanalyse diskutiert er die Folgen und Erfahrungen von „Ansteckungen“ beim menschlichen Miteinander und lässt Meinungen und Analysen zum Infektionsbegriff zu Wort kommen: „Ausgehend von der medizinischen Wissenschaft und den teilweise verheerenden Erfahrungen mit den sogenannten Infektionskrankheiten in den letzten Jahrhunderten, werden … Analogien in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse … entwickelt“. Die dabei grundgelegten psychologischen Theorien und Praktiken, wie z.B. die „Balint-Supervision“ und die „Adhoc-Übertragung“, sind durchaus geeignet, sie in interdisziplinären Zusammenhängen zu diskutieren.
Aufbau und Inhalt
Neben den im Vorwort vom Herausgeber eingeführten Konkretisierungen der Thematik, beginnt der Medizintheoretiker Alfons Labisch mit dem Beitrag: „Miasmen, Kontagien, Pesthauch und Infektionen. Was die Menschen im Westen der Welt über die ansteckenden Krankheiten dachten und denken“. Es ist eine historische Analyse, in der deutlich wird, „dass eine Infektion nur höchst selten ein monokausales Geschehen ist…, vielmehr müssen viele weitere Faktoren hinzutreten, damit aus einer Infektion eine Krankheit und aus einer Infektionskrankheit eine Seuche wird“.
Konrad Heiland und der Journalist und Medienwissenschaftler Hans-Christoph Zimmermann entwickeln mit dem Stichwort „Geisterspiele“ Gedanken zur Corona-Pandemie. Es sind Verschwörungshysterien, psychopathologische Verirrungen und Maskierungsakte, die anonymisierte Geister hervorrufen. Sie zwingen aber auch dazu, vermeintliche und wirkliche Wirklichkeiten neu zu denken.
Konrad Heiland verweist weiterhin mit dem Beitrag „Von Ansteckungen erzählen“ auf Szenen im Kino und in der Literatur als Spiegel von Infektionskrankheiten. Es sind Immunschwächekrankheiten wie z.B. Aids, Volkskrankheiten wie die Schwindsucht, Krebs…, die als theatrale und künstlerische Metapher dargestellt werden. Es sind Ansteckungen im doppelten Sinne: „Entzündung!“.
Der Berliner Psychologe Bernd Heimerl setzt sich im Beitrag „Ästhetische Lust und Übertragungsprozesse im öffentlichen Raum“ mit der Performance Art von Marina Abramović und der Benutzung und Zurschaustellung des eigenen Körpers als Subjekt und Medium auseinander: „The Artist is Present“. Es sind Grenzbegehungen und -überschreitungen, die Körperlichkeit als Ästhetik und Geistigkeit spiegelt.
Der Kölner Musiker und Philologe Uli Schauerte sagt: „Wer nicht hören will, kriegt Viren“. Es sind Reflexionen über die „Mem-Theorie“, der Überzeugung nämlich, dass „kulturell Gelerntes wie das Resultat der Evolution einer Spezies“ ist. Es sind „musikalische Erreger“, die sogar bewirken können, dass „bewusstes Hören ( ) die Immunabwehr (stärkt)“.
Der Kieler Film- und Medienwissenschaftler Willem Strank stellt fest: „Infektion durch Filmmusik“. Er diskutiert Phänomene der auditiven Penetration im Science-Fiction-Film und zeigt auf, dass die Musik als „eine (Inter-)Penetration des Eigenen durch das Fremde interpretiert … werden kann“
Konrad Heiland stellt mit dem Titel „Theater der Ansteckung“ Gedanken und Erfahrungen des Schauspielers Sebastian Rüger im Interview vor. Es sind die Kunstfiguren „Ulan & Bator“, in denen die verschiedenen theatralen Formen von Bühnenkunst, Kabarett, Comedy, Gesang und Dada zum Ausdruck und Anschauen kommen und Menschen dazu bringen können, anders als sonst üblich, sich und die Mitwelt zu betrachten.
Der Psychoanalytiker Hannes König reflektiert verschiedene Ansteckungsphänomene im Weg: „Digitale Scheißflut“ (Shitstorm). Es sind die erdachten und gemachten Entrüstungen, die Echokammern, Fake News und Hate Speech, die als populistisches Nachsprechen zu fäkalen Sprachver(w)irrungen führen.
Die Historikerin und Projektmanagerin Christa Möhring setzt sich mit „Selfie or not to selvie“ auseinander, indem sie die Selbsttechnologie des frühen 21. Jahrhunderts diskutiert. Es ist die Spannweite zwischen der bebilderten Selbstpräsentation und narzisstischer Postung. Und siehe da: Aus dem flüchtigen, im Augenblick und spontan erstellten und geposteten Selfie wird eine zementierte, unlöschbare Abbildung und ein unkontrollierbarer, erwünschter wie unerwünschter Zugriff.
Der Pädagoge und Systemische Berater Uwe Labatzki thematisiert mit dem Beitrag „Digitale Infekte – Digitale Heilung“ die verschiedenen Formen von Krankheit und Therapie im Zeitalter der Digitalisierung. Die „digitale Revolution“ bewirkt radikale Umbrüche, Perspektivenwechsel, Ich- und Weltanschauungen. Mit ihnen verantwortungsbewusst und human umzugehen, erfordert Wissen und kritische Distanz.
Der Psychiater Rudolf Heltzel stellt mit „Emotionen erleben!“ sozialpsychologische Überlegungen zur Welt der Fußballfans an. Dort, wo Affekte das kollektive Denken und Handeln bestimmen, durch Fan-Clubs und Ideologien gesteuert werden, gibt das Individuum seinen eigenen Verstand ab und folgt destruktiven Kräften.
Konrad Heiland greift mit dem Beitrag „Die infizierte Gesellschaft“ erneut in den Diskurs ein. Er thematisiert epidemische Phänomene im öffentlichen Diskurs. Er verweist auf öffentliche, lancierte und unkontrollierbare Gerüchte, die sich, wie dies z.B. A. Paul Weber in seinen Zeichnungen unnachahmlich dargestellt hat. Es sind mimetische und antimimetische Affekte, die Positionen und Richtungen bestimmen das Gewöhnliche und Ungewöhnliche, das Erstrebenswerte und Utopische: „Das Besondere und das Allgemeine fallen in eins“.
Mit dem Schlussbeitrag – „Die Gefühlsansteckung, nur einen Moment oder Mausklick entfernt“ – verweist die Psychoanalytikerin Marie-Luise Althoff auf Phänomene, wie sie als „Emotional Contagion“, als „Gefühlsansteckung“, im professionellen Diskurs benannt werden. So wie im Sprichwort zu, Ausdruck kommt, dass Humor und gute Laune ansteckend sind, wird auch in psychologischen, emotionalen Prozessen deutlich, dass negative Gefühle übertragbar sein können: „Was Menschen fühlen und wie sie sich verhalten, entscheiden sie nicht allein“. Es sind Noceboeffekte, Traumata und Psychosen, die Ansteckungen bewirken können.
Diskussion
Krisen, unerwartete Ereignisse und Pandemien verunsichern Menschen. Die Strategien zum existentiellen Umgang mit ihnen sind vielfältig. Sie reichen von der aktiven, hoffnungsvollen und realistischen Bewältigung, bis hin zu fatalistischen, wirklichkeitsverweigernden Einstellungen und Verirrungen. Das Phänomen der Ansteckung und Übertragung im menschlichen Miteinander ist als Grundlage der Conditio Humana zu verstehen. Wie das „Prinzip Infektion“ entsteht, wirkt und damit umgegangen werden kann, wie eine „atmosphärische Übertragung“ im individuellen und kollektiven Dasein zustande kommt und eingeordnet werden kann in ein humanes Leben, damit setzen sich die Autorinnen und Autoren mit dem medizinisch geprägten Infektionsbegriff auseinander.
Fazit
Infektionskrankheiten als Folgen und Ergebnisse von Kontakten zwischen Menschen sind „normale“ Tatsachen. Es sind Entwicklungen, die aus Gutem Schlechtes macht. Gut deshalb, weil der anthrôpos, das mit Vernunft ausgestattete Lebewesen, friedlichen und humanen Kontakt, Empathie und Zuneigung zu den Mitmenschen und zur Umwelt benötigt. Es ist deshalb notwendig, die Ursachen, Gründe und Wirkungen von Infektionen zu ergründen. Dabei gilt es, „Infektion“ nicht nur als Auslöser von Krankheiten, sondern als umfassendes Phänomen des Lebens zu verstehen. Damit dann sind wir schon bei der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Begriff und den Fragen, wie sich Infektionen, Übertragungen und Ansteckungen im individuellen und kollektiven, kulturellen, ethischen, moralischen und gesellschaftlichen Leben der Menschen auswirken. Gewissermaßen unter der Führung des psychologischen und psychoanalytischen Denkens wird im Sammelband danach gefragt, wie atmosphärische Übertragungen in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse zustande kommen und wirksam werden.
Die verschiedenen, fachbezogenen und fächerübergreifenden Aspekte sind Anreger für alles soziales, zivilisatorisches, ethisch-moralisches, pädagogisches, alltägliches, gesellschaftliches Denken und Tun!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 17.06.2021 zu:
Konrad Heiland (Hrsg.): Prinzip Infektion. Atmosphärische Übertragung in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2020.
ISBN 978-3-8379-2965-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27563.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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