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Cita Wetterich, Erik Plänitz: Literaturanalysen in den Sozia­lwissenschaften

Rezensiert von Prof. Dr. Bernhard Klingmüller, 24.08.2021

Cover Cita Wetterich, Erik Plänitz: Literaturanalysen in den Sozia­lwissenschaften ISBN 978-3-8474-2430-7

Cita Wetterich, Erik Plänitz: Systematische Literaturanalysen in den Sozialwissenschaften. Eine praxisorientierte Einführung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. 150 Seiten. ISBN 978-3-8474-2430-7. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.

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Thema und Autoren

Die Autorin und der Autor haben beide einen Bezug zur Universität Freiburg und insb. dem Arnold-Bergsträsser-Institut. Sie sind beide Mitglieder des FREINEM (Freiburger Netzwerk für Migrations- und Integrationsforschung)

Entstehungshintergrund

Warum sich Wetterich und Plänitz mit diesem Thema befasst haben, konnte weder in der vorliegenden Veröffentlichung noch aus anderen Quellen ermittelt werden. Vermutlich ist die Arbeit im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Qualifikationsprozessse entstanden.

Aufbau

Neben „Einleitung“ und „Abschließenden Gedanken“ haben sie das Thema in 11 Kapiteln aufgeteilt. Oft sind die Kapitel um „Weiterführende Literatur“ oder zwischengeschobene Kurzreferate ergänzt, in denen auf Hintergründe, Quellen, Vertiefungen und Perspektiven hingewiesen werden.

Inhalt

Sie beginnen mit einer kurzen Skizze der hohen Bedeutung, die heute Zitationen im Wissenschaftsbetrieb gewonnen haben (sie sprechen sogar von einer „akademischen Währung“) und einer Kritik an bestimmten Erscheinungsformen. Deshalb ist das Ziel mit ihrer Einführung in die „Systematische Literaturanalyse“ (SLR=Systematic Literature Reviews, beide Begriffe werden äquivalent benutzt) zur „größtmögliche[n] Transparenz und Objektivität in der Literaturarbeit“ (S. 10) beizutragen. Die SLR wird bereits umfassend in der Medizinwissenschaft verwendet und wird zunehmend in die Geistes- und Sozialwissenschaft übertragen.

In der Medizin wurde die SLR durch die Vorgabe der Evidenz-Basierung vor allem im Bereich quantitativer Forschung benutzt. Ein zweiter Zweig ist die Verwendung im Rahmen von qualitativer Forschung. Gerade in den Sozialwissenschaften ist es sinnvoll, beide Formen zu verbinden als „Mixed-Methods-Review“ (S. 14). Diese Verbindung erfordert sich der Grundprinzipien „Objektivität, Reliabilität und Repräsentativität“ zu vergewissern. Die Autoren weisen darauf hin, dass Forschende mit einer „explizit normativen Ausrichtung“ stärker auf „kritischen und konstruktiven Dialog“ (S. 15) orientiert sind, „besonders in Zeiten von rechtspopulistischen Tendenzen“ (S. 15).

Des Weiteren gibt es Forschungsbereiche, die vorab hoch politisch besetzt sind, sodass schon alleine deshalb schwierig ist, die Studien zu bewerten, wenn man nicht die Primärquellen zur Verfügung hat. Auch können durchaus kontroverse Ergebnisse generiert werden, die „nicht unbedingt auf methodische Mängel“ (S. 16) zurückzuführen sind.

Neben Problemen des Bias ergeben sich auch Schwierigkeiten allein aufgrund des „Informationsüberschuß“. (S. 17). Beides ist für die Autorin und den Autor ein weiterer Grund zum Einsatz der SLR.

Vorab wären drei Fragen zu klären:

  1. „Überprüft meine Forschungsfrage die Evidenz einer bestimmten Intervention?“ (S. 24) (policy-orientiert)
  2. „Untersucht meine Forschungsfrage die Zusammenhänge zwischen zwei Variablen?“ (S. 24) (akademisch-orientiert)
  3. „Stellt die Anwendung einer SLR einen Mehrwert zu bestehender Literatur dar?“ (S. 25)

Um diese Fragen zu beantworten bietet sich eine Vorstudie an (Beschreibung S. 28f). Gleichzeitig wird auf die Bedeutung der Protokollierung hingewiesen (S. 29f).

Zusätzlich wird auf den Faktor des Aufwandes hingewiesen. Für die Begutachtung einer einzigen Quelle wird als grobe Schätzung die Arbeitszeit eines halben Tages veranschlagt (S. 31).

Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten besteht der nächste Schritt einer SLR darin, das zu untersuchende Sample an Forschungsveröffentlichungen zu bestimmen an Hand von „Ein- und Ausschlusskriterien“. Diese sollten im Idealfall so klar und detailliert formuliert werden, dass verschiedene Personen aus dem gleichen Sample zu der gleichen Auswahl kommen.

Eine Auswahl kann entweder hierarchisch vorgenommen werden, was insbesondere für die „Evidenzhierarchie“, also der methodischen Qualität, in der Medizin zutrifft. In den Geisteswissenschaften ist es demgegenüber eher erfolgversprechend, wenn man die verschiedenen Untersuchungen typologisch anordnet. Dadurch läßt sich eine zu eng fokussierte SLR vermeiden.

Weiterhin ist bei der Auswahl der zeitliche Rahmen zu berücksichtigen, also wie weit geht man bei seiner Suche zurück. Weitere Punkte, die den Umfang einer SLR bestimmen sind die Ressourcen, die Logik und möglicherweise auch das Überschreiten ethischer Grenzen (S. 41). Die Auswahl sollte, auch in Hinblick auf eine mögliche Veröffentlichung, genau dokumentiert werden.

Erheblich erleichtert werden SLR dadurch, dass es inzwischen viele elektronisch zur Verfügung stehende Datenbanken in den Sozialwissenschaften gibt (Liste S. 47f). Ein besonderes Problem stellt die sogenannte graue Literatur dar, für die es inzwischen auch Datenbanken gibt. Ansonsten ist nach wie vor der Weg in Fachbibliotheken erforderlich. Genauer werden die Recherchemöglichkeiten ausführlich am Beispiel des „Web of Science“ beschrieben.

Hat man seine Auswahl getroffen. widmet man sich zunächst genauer den Titeln und den Abstracts und anschließend den Volltexten. Dabei ist es sinnvoll, die Auswahl zu kodieren. Auch dafür gibt es verschiedene Programme. Hier wird der EPPI Reviewer dargestellt. der sich „in der Praxis bewährt“ habe (S. 59). Dieses Programm stellt einem Codesets zur Verfügung, die das Erstellen der Codes erheblich unterstützen.

Mit diesen Stufen der Aufarbeitung der Quellen hat man den „Kern der SLR“ gewonnen, „in dem verschiedenen Enden der Literatur verbinden und zu einer eigenen Geschichte verflochten werden.“ (S. 79), worin „der individuelle Beitrag zur Fortschreibung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und dem Schließen von Forschungslücken“ als „Synthese“ (S. 79) besteht.

Synthesen bestehen aus vier Elementen: „(I) einem theoretischen Modell, (II) einer vorläufigen Synthese, (III) der Untersuchung von Zusammenhängen in der Literatur und (IV) einer Überprüfung der Validität.“ (S. 80). Wobei eine „Synthese … nur so stark wie die untersuchte Literatur“ (S. 80) sein kann. Für die quantitative Bewertung der Literatur stellt der EPPI Reviewer eine Funktion zur Verfügung. Für die qualitative Bewertung wird auf die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring zurückgegriffen. Genauer wird noch auf die Probleme der Metaanalyse eingegangen (S. 85–89) und auf die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Schreibens im Sinne der „Erzählung“.

Anschließend werden die Formen der Präsentation von Ergebnissen behandelt, wobei besonders wert gelegt wird auf den Unterschied zwischen einer „policy-orientierten SLR“ (S. 96ff) und einer 

„akademisch orientierten SLR“ ( S. 99f).

Neben der innerhalb einer SLR bestehenden Möglichkeit der Validation stellt die Triangulation (S. 102f) eine Perspektive zur Verfügung, mit der man mit deren vier Grundtypen gewinnbringend anwenden kann.

In einem abschließendem Kapitel zur SLR werden verschiedene Stolperfallen bei der praktischen Durchführung der SLR beschrieben ( S. 104 ff) und zudem auf falsche Vorstellungen von einer SLR eingegangen, die in einer Tabelle (S. 108) zusammengefasst werden.

Die Arbeit endet mit Gedanken über die mögliche Weiterentwicklung der SLR, deren Anwendung auf den verschiedensten Stufen und den Notwendigkeiten der Institutionalisierung der SLR im akademischen Rahmen, wobei besonders auf die Bedingungen „Ländern des globalen Südens“ (S. 115) verwiesen werden. Zudem ist in Zeiten der Pandemie die SLR eine Möglichkeit zur Forschung beizutragen bei minimalen Gesundheitsgefährdungen.

Diskussion

Gegenüber z.B. der „journalistischen Wende“ in der Soziologie ist es erfreulich, dass sich den Notwendigkeiten und Möglichkeiten solider Literaturaufarbeitung von qualitativen und quantitativen Forschungen auch als einem eigenständigen wesentlichen Bereich in den Geisteswissenschaften gewidmet wird.

Technisch wäre interessant, ob bei erwartbarer dürftiger Quellenlagen nicht das Arbeiten mit einer Tabellenkalkulation ausreicht, die ja inzwischen ein breites Repertoire von Statistik und bouleschen Verknüpfungen bildet. Zum zweiten, wie weit die gängigen Bibliographier-Programme nicht auch relativ leistungsfähig sind oder befähigt werden können. Das würde auch die Einarbeitung in Sondersoftware ersparen. Bibliotheks-wissenschaftlich erstaunt auch, dass die Unterscheidung von „Schlagwort“-Verarbeitung (selbst vergebene Begriffe) und „Stichwort“-Verarbeitung (Begriffe, die in den Quellen benutzt werden und die eine automatische Vorab-Kodierung ermöglichen) genutzt wird.

Weiterhin hätte das Thema der Triangulation auch schon bei der Vorbereitung zu einer SLR diskutiert werden können.

Die entscheidenden Probleme liegen m.E. auf einer anderen Ebene, nämlich in dem Bereich Gültigkeit auf der Grundlage von theoretischer Ausrichtung, politischer Orientierung, moralischer Vorgaben oder Zuordnung. Wenn man exemplarisch ein Thema der Autor:in, nämlich der Gewalt in den Herkunftsländern als Faktor zur Migrationsbereitschaft nimmt, so sind darin drei notwendige Themen zu trennen. Das erste ist die idiographische Aussage z.B. als Grundlage einer Asylentscheidung, das zweite ist die aktuarische Analyse der Gefährdung bestimmter Gruppen von Personen. Das dritte ist die gesellschaftsstrukturelle Situation der aufnehmenden Länder. Da interpersonelle Gewalt und Willkür in vielen Kulturen endemisch ist, haben die aufnehmenden Gesellschaften die unterschiedlichsten Verfahren entwickelt, mit der quantitativen Dimension der Migration umzugehen. Wenn dieser Aspekt aus moralischen oder politischen Gründen, die oft mit der internen Struktur von Forschungsrichtungen zusammenhängt, undiskutierbar bleibt, kann man dennoch eine umfassende und beeindruckende SLR vorlegen, die letztlich nur geeignet ist, die eigene Moral zu boostern. Deshalb finde ich die Trennung in eine policy-orientierte und eine akademische SLR inhaltlich bedenklich und nur auf die Form der Darstellung zu beziehen.

Eine kleine Anmerkung. Da einer der häufigsten Platzhalter in der Verwendung bei Recherchen das * ist, hätte ich beim Gendern das: vorgezogen.

Fazit

Die Arbeit ist eine hervorragende Einführung in die Systematische Literaturanalyse und als solche hat sie m.E. fast die Qualität einer Pflichtlektüre für höhere Semester in den Kultur- und Geisteswissenschaften. Es wird die systematische Literaturanalyse vorgestellt, deren Anwendung durch Zuhilfenahme verschiedener Programme und elektronisch vorliegender Quellen beschrieben und durch Kurzreferate Quellen zur Vertiefung der einzelnen Themen bereitgestellt. Hervorzuheben ist auch, dass sie mögliche Stolperfallen benennen und auf Kritik eingehen, in dem sie Mythen über eine systematische Literaturanalyse auflisten. Mögliche Gefahren der Gültigkeit der Ergebnisse wurden oben genannt.

Rezension von
Prof. Dr. Bernhard Klingmüller
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Es gibt 14 Rezensionen von Bernhard Klingmüller.

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Zitiervorschlag
Bernhard Klingmüller. Rezension vom 24.08.2021 zu: Cita Wetterich, Erik Plänitz: Systematische Literaturanalysen in den Sozialwissenschaften. Eine praxisorientierte Einführung. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2020. ISBN 978-3-8474-2430-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27572.php, Datum des Zugriffs 11.10.2024.


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