Alexander Wohnig: Politische Bildung als politisches Engagement
Rezensiert von Fabian Fritz, 17.02.2021

Alexander Wohnig: Politische Bildung als politisches Engagement. Überzeugungen entwickeln, sich einmischen, Flagge zeigen.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
208 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1133-5.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
Thema & Entstehungshintergrund
Der Ende des Jahres 2020 erschienene und rund 200-seitige Sammelband ist eine Festschrift für Frank Nonnenmacher. Im Fokus des 2009 emeritierten, aber bis heute engagierten, Professors für Didaktik der Sozialwissenschaften und der Politischen Bildung steht das politische Engagement als praxisorientierte politische Bildung. Der Titel des Buches wurde daher nicht zufällig gewählt, sondern geht auf die Auseinandersetzungen Nonnenmachers mit der Frage nach der Neutralität der politischen Bildung und ihres Lehrpersonals zurück (vgl. Wohnig 2020: S. 5) [1]. Für Nonnenmacher ist die Vorstellung von einer Meinungslosigkeit der Lehrenden „höchst fatal. […] [Sie] fördert die Tugend der Meinungslosigkeit, des Sich-Heraushaltens, des Nicht-Flagge-Zeigens“ (ebd.).
Der Sammelband möchte nun genau dieser Debatte um Neutralität vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf den Grund gehen, denn die Forderungen nach Neutralität werden im jüngsten Diskurs lauter (vgl. ebd.: S. 7). Das Buch setzt sich mit seinen Beiträgen solchen Positionen – ganz im Sinne Nonnenmachers – in einem deutlichen Kontrast entgegen und fragt vielmehr, wie „politische Bildner*innen selbst Überzeugung entwickeln, sich einmischen und Flagge zeigen“ (ebd.: Klappentext) können.
Die Beiträge vollziehen diese Debatte und ihre Fragen in drei grundlegenden Abschnitten nach und konzentrieren sich zuerst auf biographisch-historische Aspekte im Leben Nonnenmachers. In einem zweiten Teil werden konzeptionelle, theoretische und bildungspraktische Aspekte aus dem Werk des emeritierten Professors besprochen (vgl. ebd.). Ein dritter Teil fragt nach den schulpraktischen Wirkungen des Werkes von Nonnenmacher (vgl. ebd.: S. 4).
Herausgeber und Autor*innen
Herausgeber des Sammelbandes ist Alexander Wohnig, Juniorprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Wohnig war selbst Hilfskraft und Promovend bei Nonnenmacher in Frankfurt. Sein aktueller Schwerpunkt liegt vor allem auf der Schnittstelle von schulischer und außerschulischer politischer Bildung. Im Sammelband schreibt Wohnig neben der Einleitung einen Beitrag zur politischen Aktion in der politischen Bildung.
Die anderen 13 Autor*innen setzen sich aus Professor*innen, Hochschullehrenden, Lehrkräften an Schulen sowie anderen Akteur*innen mit Bezug zur Politischen Bildung – und dabei vor allem der schulischen politischen Bildung und ihrer Didaktik – zusammen. Wohnig attestiert vielen der Autor*innen, dass sie Multiplikator*innen einer „konfliktorientierte[n] und engagierte[n] sowie Position beziehende[n] Didaktik“ (ebd.: S. 9) sind.
Aufbau & Inhalt
Das Buch ist in drei Kapitel aufgeteilt. In seiner vorangestellten Einleitung, die Nonnenmachers Werk mit der aktuellen Lage verknüpft und den Titel des Sammelbandes trägt, setzt Wohnig die Kapitel in ein Verhältnis zueinander und umreißt kurz die Inhalte der einzelnen Beiträge (vgl. ebd.: S. 5 ff.).
An Ende des Buches werden die einzelnen Autor*innen vorgestellt (vgl. ebd.: S. 206 ff.).
1. Kapitel: Biografisches im historischen Kontext
In diesem Kapitel werden in sechs Beiträgen Bezüge zwischen den wesentlichen Wirkstationen im Leben Nonnenmachers und den jeweiligen historischen Kontexten hergestellt.
Zu Beginn liefert die Ehefrau Nonnenmachers und ehemalige Lehrerin Eva Fischer eine chronologische Biographie Nonnenmachers (vgl. ebd.: S. 17 ff.), die zugleich die Episoden seines Wirkens herausstellt und welche Fischer anekdotisch untermalt: Angefangen von einer nachkriegsgeprägten Kindheit sowie den Folgen der Zeit des Nationalsozialismus (NS) über die Studienjahre und die Zeit Nonnenmachers als aktiver Politiklehrer bis hin zu seiner Zeit an der Hochschule. Im letzten Teil wird sein Engagement der letzten Jahre verdeutlicht und mit den dazugehörigen gesellschaftlichen Debatten verknüpft. Fischer geht in dieser erzählenden Biografie auch auf Kampagnen und Proteste ein, an denen ihr Ehemann teilnahm und zeigt Verknüpfungen zu anderen Biografien auf – bspw. zu der von Konstantin Wecker. Die nachfolgenden Beiträge im Kapitel greifen bestimmte historische Abschnitte nochmals genauer heraus und beziehen diese mal mehr oder mal weniger auf das Wirken Nonnenmachers.
So geht der zweite Beitrag (ebd.: S. 27 ff.) von Marcel Studt auf die Lage von Lehrer*innen in der Zeit nach 1968 ein und arbeitet heraus, welche Wirkung das Berufsverbot für Lehrkräfte in den 1970er Jahren hatte. Die Biografie Nonnenmacher gerät hier etwas mehr in den Hintergrund, denn Studt rückt den Politikdidaktiker Rolf Schmieders in den Vordergrund – mit dessen Werdegang sich wiederum auch Nonnenmacher auseinandersetzte. Im Zuge dessen erläutert Studt nicht nur das Zustandekommen des „Beutelsbacher Konsens“, sondern macht auch deutlich, wie sich Nonnenmacher dazu positionierte und wie er die Rolle Schmieders sah. Studt beendet seinen Beitrag mit der Darlegung der Notwendigkeit einer anderen Geschichtsschreibung der Politischen Bildung, die anerkennt, dass im Zuge des Wirkungsverbotes für Lehrer*innen „Tausende […] mit regressiven Mitteln auf Grund ihrer politischen Positionierung aus den Institutionen und […] Diskursen herausgedrängt“ (ebd.: S. 34) wurden.
Der dritte Beitrag (vgl. ebd.: S. 36 ff.) von Gerd Steffens beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis junger Lehrkräfte in den 1970er Jahren. Ausgehend von der Aufarbeitung des NS und den Einflüssen von 1968 arbeitet Steffens heraus, wie sich in Schulen zunehmend eine „kritische Alltagspraxis des Hinterfragens“ (ebd.: S. 41) etablierte. Dabei werden Bezüge zur Frankfurter Schule und ihrer kritischen Gesellschaftstheorie hergestellt. Steffens vollzieht nach, wie die Mündigkeit der Schüler*innen (wieder) mehr in den Mittelpunkt rückte und Autonomie das Bildungsziel wurde. Die Schüler*innen sollten zur Wissensaneignung mit dem Ziel der „selbstbewussten Beherrschung des gesellschaftlichen Lebensprozesses“ (ebd.: S. 49) befähigt werden. Steffens zieht die Verbindung zu Nonnenmacher, indem er eine Lehrer*innengruppe vorstellt, die diese Ziele verfolgte sowie weiterentwickelte und der sowohl Steffens als auch Nonnenmacher angehörten.
Benedikt Widmaier vollzieht im vierten Beitrag (vgl. ebd.: S. 53 ff.) nach, welche Rolle Gruppendynamik und -pädagogik für die Entwicklung der Politischen Bildung spiel(t)en. Der Bezug zu Nonnenmacher wird über die entsprechenden Fortbildungen hergestellt, an denen Nonnenmacher als junger Lehrer teilnahm und über die er reflektierte. Widmaier nimmt dies zum Anlass aufzuzeigen, wie die Gruppenpädagogik über das „Reeducation“-Programm der Amerikaner*innen nach Deutschland kam. Ausgehend von Gruppenpädagogik und -dynamik als „Instrumente der Kritik und Emanzipation“ (ebd.: S. 60) reflektiert Widmaier deren heutige Bedeutung für die politische Bildung.
Der fünfte Beitrag (vgl. ebd.: S. 67 ff.) von Sylvia Heitz geht wieder expliziter auf Nonnenmachers Wirken ein und rückt seine Zeit an der Universität Frankfurt in den Fokus. Heitz beschäftigt sich damit, wie Nonnenmacher unter dem Credo „Das Ganze sehen“ (ebd.: S. 67) Theorie und Praxis an der Hochschule verknüpfte. Dabei zeigt Heitz auf, wie er auf der einen Seite unter dem Prinzip der Subjektorientierung eine partizipatorische Lehre organisierte und auf der anderen Seite Forschung kritisierte, der es um die Bloßstellung von Defiziten bei Lehrkräften ging. Heitz erläutert anschließend, wie Nonnenmacher selbst demokratisch geplante Forschungen durchführte, bei der „die Beobachteten in die Planung und Reflexion der Ergebnisse und die Theoriegenerierung miteinbezogen wurden“ (ebd.: S. 73).
Dagmar Lieske schließt mit dem sechsten Beitrag dieses Kapitel ab und rückt den politisch aktiven Nonnenmacher in den Mittelpunkt. Dieser engagierte sich für die Anerkennung der sogenannten „Kriminellen und Asozialen“ als Verfolgte des NS-Regimes. Lieske fasst im Zuge dessen zusammen, wie die Verfolgung dieser Gruppen organisiert wurde und wie sie nach der Befreiung Deutschlands sowohl in der Erinnerungskultur als auch der Entschädigungspraxis marginalisiert wurden. Lieske führt anschließend anhand ihrer Berührungspunkte mit Nonnenmacher aus, welche Erfolge in diesem politischen Kampf auf ihn zurückgehen.
2. Kapitel: Das Werk Frank Nonnenmachers: Theorie – Praxis – Lehrer*innenbildung
Das zweite Kapitel umfasst ebenfalls sechs Aufsätze und fokussiert auf die wissenschaftlichen Beiträge Nonnenmachers, die dabei nicht nur eingeordnet, sondern auch weiterentwickelt werden.
Den Aufschlag macht Andreas Eis mit einem Beitrag (vgl. ebd.: S. 87 ff.), der die gesellschafts- und bildungstheoretischen Bezüge in Nonnenmachers Gesamtwerk verdeutlicht und in ein Verhältnis zu den wissenschaftlichen Diskursen über kritische politische Bildung an Schule setzt. Anschließend leitet Eis – nicht nur aus dem Werk Nonnenmachers – einen Entwurf für ein Schulfach ab, das er als „integriertes Fach Gesellschaftswissenschaften“ (ebd.: S. 99) konzipiert. Den Weg dahin nimmt er über eine Kritik des Ist-Zustandes der politischen Bildung an Schule und folgert anhand seines Entwurfes, wie sich die (Aus-)Bildung der Lehrkräfte ändern müsste.
Klaus Moegling greift im zweiten Beitrag die Frage nach Theorie und Praxis aus dem ersten Kapitel wieder auf und leitet nach einer generellen Einordnung des Verhältnisses von beiden zum Werk Nonnenmachers über. Anschließend wird die Bedeutung dieses Verhältnisses von Theorie und Praxis in Verbindung mit der Politiklehrer*innenausbildung gebracht und dargelegt, mit welchen Argumenten Nonnenmacher für alle Lehrkräfte in diesem Bereich „vor dem Hintergrund seines gesellschaftstheoretischen Zugangs eine gesellschaftspolitische Grundbildung ein[fordert]“ (ebd.: S. 113).
Im dritten Beitrag, verfasst von Christoph Bauer, wird sowohl anhand von Teilen des Werkes von Nonnenmacher als auch der Erfahrungen Bauers an Nonnenmachers Lehrstuhl der von Nonnenmacher verwendete Subjektbegriff in seiner Entwicklung nachvollzogen. Ausgangspunkt der Entwicklung seines Subjektbegriff ist laut Bauer seine antiautoritäre Kritik der Pädagogik, welcher mit der „Forderung nach Autonomie, Selbstständigkeit und Emanzipation“ (ebd.: S. 120) einhergeht und somit politische Bildung letztendlich als Bildung zur kritischen Gestaltung der Gesellschaft konzipiert.
Ralph Blasche nimmt sich im vierten Beitrag der Konfliktorientierung in der Politikdidaktik bei Nonnenmacher an und setzt sie in ein Verhältnis zu den Konzeptionen von Giesecke, Schmiederer und Wohnig. Anschließend erläutert Blasche seine eigene Weiterentwicklung einer kritischen Konfliktorientierung. Im nächsten Schritt führt Blasche unter Bezug auf Kant, Marx und Adorno Mündigkeit als „zentrale Zielperspektive politischer Bildungsprozesse“ (ebd.: S. 123) ein und begründet danach den Zusammenhang zur kritischen Konfliktorientierung. Zum Ende leitet er daraus bildungspraktische Implikationen ab und zieht ein Fazit.
Juliane Hammermeister legt in ihrem, dem fünften, Beitrag Überlegungen zu einer handlungsorientierten Politikdidaktik dar und schließt damit an Nonnenmachers auf Erfahrungen basierendes, konfliktorientiertes, politikdidaktisches Planungsmodell an und entwickelt dieses weiter. Auch Hammermeister greift das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis in der Politikdidaktik auf und rückt offene Aspekte bei Nonnenmachers Theorie in den Fokus, die sie mit Gramscis Theorie des Alltagsverstandes füllt, welche „dem politikdidaktischen Planungsmodell ein theoretisches Fundament zu geben vermag“ (ebd.: S. 143).
Im sechsten und letzten Beitrag setzt sich Alexander Wohnig mit dem Stellenwert der politischen Aktion in der politischen Bildung auseinander. Ausgehend von der Frage, ob politische Partizipation als Ziel der politischen Bildung auch politische Aktionen mit einbezieht, vollzieht Wohnig ihren Stellenwert seit den 1970er Jahren nach und zieht Parallelen von Nonnenmachers Standpunkten zu den politikdidaktischen Diskursen. Zum Abschluss diskutiert er die „[a]ktuelle[n] Entwicklungen zur Förderung von Aktionen von Schüler/-innen in der politischen Bildung“ (ebd.: S. 161).
3. Kapitel: Aktuelle schulpraktische Wirkung Frank Nonnenmachers
Das dritte und letzte Kapitel fragt in drei Beiträgen nach der schulpraktischen Wirkung Nonnenmachers und rückt die Praxisperspektive nach vorne.
Heiko Knoll reflektiert und würdigt aus seiner Sicht als Lehrer die konfliktorientierte politikdidaktische Konzeption Nonnenmachers. Im Fokus steht die Umsetzung dieser unter den aktuellen schulischen Gegebenheiten. Knoll entwickelt aus der Kritik der schulischen Heteronomie eine Ableitung zur Notwendigkeit einer materialistischen Bildungstheorie. Damit macht Knoll aber auch seine Differenzen zu Nonnenmacher deutlich, die in der „genaue[n] Bestimmung des Verhältnisses zwischen Bildung und Herrschaft“ (ebd.: S. 178) liegen. Somit zeigt Knoll auf, an welchen Stellen die Überlegungen Nonnenmachers theoretisch und praktisch weiterzuentwickeln sind.
Ralph Blasche beschreibt im zweiten Beitrag, wie er im eigenen Unterricht mit dem sogenannten „Brüder-Buch“ [2] Nonnenmachers arbeitet, in welchem dieser über die Leben seines Vaters und Onkels schreibt. Das Buch ist eng mit dem im Beitrag Lieskes beschriebenen anerkennungspolitischen Kampf Nonnenmachers verbunden. Blasche zeigt – von den Überlegungen ausgehend, welchen Platz das Politische im Fach Deutsch hat – auf, wie bei der Verwendung des Buches im Unterricht interdisziplinäre Perspektiven eingenommen werden können. Dazu stellt er das Buch genauer vor und verdeutlicht, wie es sich eignet, um „der Vielschichtigkeit und Multiperspektive […] [von] geistes- und sozialwissenschaftlichen Bildungsgegenständen […] gerecht zu werden“ (ebd.: S. 197).
Der kritische Essay von Jens Frowerk ist der dritte Beitrag im Kapitel und der letzte im Buch. Darin nimmt Frowerk als ehemaliger Student Nonnenmachers das heutige neoliberal geprägte Schulsystem in den pädagogischen Blick und bezieht sich dabei auf die kritische Haltung seines ehemaligen Hochschullehrers. Ausgehend von den Fragen: „Was ist Bildung – Was soll Bildung – ‚Was soll eine Erziehung nach Auschwitz?‘“ (ebd.: S. 200) macht sich Frowerk im Sinne Nonnenmachers auf die Suche nach einer Konzeption von Schule, der es gelingt, diese Fragen „im Dialog, diskursiv und aufklärerisch denkend“ (ebd.: S. 205) zu beantworten.
Diskussion
Im Kern ist der Sammelband eine Festschrift für Frank Nonnenmacher. Vor allem das erste, biografisch geprägte Kapitel rückt ihn als Person deutlich in den Vordergrund. Gleichzeitig sind die Beiträge des Buches jedoch an keiner Stelle zu eng auf Nonnenmacher fokussiert, sondern greifen, ganz im Gegenteil, aktuelle Debatten der Politikdidaktik der Schule auf. Das Wirken und Werk Nonnenmachers ist dabei – ganz in seinem Sinne – eine theoretische und praxisreflexive Folie, die den roten Faden des Buches ausmacht. Alle Beiträge kommen auf ganz unterschiedliche Weise und auch mal mehr oder weniger eng auf die Frage Nonnenmachers zurück, die Wohnig ganz zu Anfang aufzeigt: „Neutralität oder sich einmischen und Flagge zeigen?“ (ebd.: S. 5).
Den Bogen, den das Buch dabei aufspannt, könnte man dabei salopp als einen Praxis-Theorie-Praxis-Transfer bezeichnen – dieser Aufbau hat seinen Reiz. Zu Beginn wird gezeigt, wie man – also auch ganz konkret Nonnenmacher und seine Mitstreiter*innen – als Akteur*in der politischen Bildung Flagge zeigen, selbst politisch aktiv sein und sich in gesellschaftliche Debatten einmischen konnte und kann. Zentrales biografisches Motiv ist dabei die Aufarbeitung des NS und die Einnahme eines Gegenstandpunktes zu faschistischen und menschenverachtenden Ideologien – aber auch die eigene, progressive, linke Überzeugung Nonnenmachers. Damit steht er beispielhaft für eine Nachkriegsgeneration kritischer und Position beziehender Lehrer*innen, die sich später z.T. mit Berufsverboten und zeitgeschichtlichen Dokumenten sowie ihren Folgen, wie dem Beutelsbacher Konsens, konfrontiert sahen.
Der zweite Teil greift nun die Frage auf, wie man die von Nonnenmacher gezogenen theoretischen Ableitungen einordnen und weiterentwickeln sollte (vgl. dazu insb. den Beitrag von Hammermeister).
Der dritte Teil beschäftigt sich am Ende wieder damit, wie der didaktische Gebrauch der Darlegungen Nonnenmachers in der heutigen Schule gelingen kann, aber auch was es konzeptionell weiterzuentwickeln gilt (vgl. den Beitrag von Knoll).
Auf diese Art geht es dem Sammelband darum, seinen historisch-erzählenden und theoretisch-einordnenden Charakter um einen auf das Heutige bezogenen kritisch fragenden Blick zu erweitern. Zentral ist dabei immer wieder die Frage nach dem Erstarken der (neuen) Rechten und dem bildungspolitischen Engagement der AfD, welches vom einem Neutralitäts-Begriff geprägt ist, der sich vor allem gegen das antifaschistische Engagement von Schüler*innen und Lehrkräften richtet – beispielhaft seien hier nur die Angriffe dieser Partei auf Engagierte an der Hamburger Ida-Ehre-Schule genannt (vgl. ND 2019). Solche Vorkommnisse sind kein Einzelfall und so greift auch der 16. Kinder- und Jugendbericht vom November 2020 das Thema der politischen Bildung auf und unterstreicht die Problematik (neu-)rechter Zugriffe explizit, wenn es heißt, dass „[z]um ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik […] der Grundkonsens der politischen Bildung zur Disposition zu stehen [scheint,] […] die weltanschauliche und parteiliche Vielfalt der Gesellschaft wider[zu]spiegeln“ (BMFSFJ 2020: S. 69). Indikator dafür ist laut der Sachverständigenkommission des Berichtes die Zunahme der Infragestellungen seitens der AfD gegenüber „solche[n] Projekte[n] und Träger[n] […], die eine kritische Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Rassismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit leisten“ (ebd.). In ihrer Stellungnahme zum Bericht greift die Bundesregierung diese Feststellung auf und unterstreicht deutlich, dass politische Bildung nicht neutral sein kann, sondern gelten muss, dass sie „antidemokratische oder menschenfeindliche Aussagen klar benennt und Kinder und Jugendliche in ihrer Resilienz gegenüber entsprechenden Strömungen stärkt“ (ebd.: S. 9).
Dieser Aussage könnten Nonnenmacher und die Autor*innen des Sammelbandes wohl voll und ganz zustimmen und werden es an anderer Stelle wahrscheinlich sogar tun. Klar ist, dass das gesamte Buch sich gegen eine vermeintliche Neutralität der politischen Bildung richtet und damit für diese Debatte sowohl historische [...] (Kapitel 2) und praxisreflexive (Kapitel 3) Argumente liefert.
Fazit
Die Aktualität dieses Sammelbandes steht wohl außer Frage. Jede*r der Autor*innen hat in den einzelnen Beiträgen geleistet, was das Buch als Ganzes verspricht: einen Bogen von der Person Nonnenmachers hin zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten zu spannen. Wie in der Diskussion dargelegt, werden hier drei Fundgruben in einer geliefert. Es gibt eine historisch-biografische Einordnung der Wirkstationen Nonnenmachers mit den Bezügen zu den jeweiligen Diskursen, es gibt eine theoretische Einordung seines Werkes und am Ende gibt es eine Reflexion der Praxistauglichkeit seiner Konzeptionen. So leistet das Buch es, sowohl eine würdige Festschrift für Nonnenmacher zu sein, aber auch – und das macht es besonders reizvoll – eine Streitschrift gegen eine politische Bildung, der „Meinungslosigkeit, des Sich-Heraushaltens, des Nicht-Flagge-Zeigens“ (Wohnig 2020: S. 5).
Trotz dieser Leistung muss sich das Buch zwei Kritikpunkte gefallen lassen. Zum einen kommt es unter den einzelnen Beiträgen zu einigen Doppelungen, was die Bezüge und die Verweise auf Nonnenmachers Werk angeht. Wobei hier zur Verteidigung gesagt sein sollte, dass dies vielen Sammelbänden charakteristisch ist.
Eine doch wesentlichere Kritik bezieht sich auf die Limitationen des Buches. Vom Titel und Klappentext her verspricht es auch Bezüge zur außerschulischen politischen Bildung herzustellen. Das Versprechen wird jedoch nur am Rande eingelöst. Kern ist – gerade wegen des engen Bezugs zu Nonnenmacher als schulischer Fachdidaktiker – die starke Fokussierung auf die schulische politische Bildung und ihrer universitären Lehrkräfte(aus)bildung. Ausnahmen sind die Beiträge von Widmaier, Lieske und Wohnig.
Gerade vor den angesprochenen gesellschaftlichen Debatten rund um (neu-)rechte Zugriffe, die die schulische und außerschulische politische Bildung gleichermaßen treffen (vgl. bspw. Hafeneger et al. 2020), wären hier mehr Beiträge und mehr Bezüge ins Außerschulische wünschenswert gewesen. Nichtsdestotrotz lassen sich die Ableitung und Parallelen auch von der Leser*innenschaft selbst ziehen.
Somit gilt es abschließend, das Buch als kritischen Beitrag und Ermutigung zum Flagge zeigen zu würdigen und die Lektüre zu empfehlen: egal ob mensch Lehramtsstudierende*r, Jugendarbeiter*in, Fachdidaktiker*in, (Hochschul)-Lehrer*in oder einfach politisch interessiert ist.
Persönlicher Kommentar
Zum Ende sei mir noch eine Ergänzung erlaubt, die aus der eigenen Arbeit als Jugend(bildungs)arbeiter herrührt. Aktuell (also während der Entstehung dieser Rezension) wird in Hamburg durch die Sozialbehörde zu einer Fachtagung geladen, die sich mit linker Militanz und den Bedarfen und Möglichkeiten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt (vgl. dazu ausführlich TAZ 2021). Dazu wurde vorab eine Befragung zu den politischen Einstellungen von Besucher*innen von Jugendhäusern durchgeführt. Empörend ist dabei nicht nur, dass im Sinne der Hufeisentheorie in den Fragebögen linkes Engagement mit „rechtsradikaler, fundamentaler konfrontativer islamischer oder menschenfeindlicher Ausrichtung“ (ebd.: o. S.) auf eine Ebene gesetzt wurde, sondern dass die gewonnenen Informationen auch der Innenbehörde und dem Verfassungsschutz mitgeteilt werden. Das widerspricht nicht nur dem Leitgedanken der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit von Parteilichkeit und Beziehungsarbeit und ist vor dem aktuellen Hintergrund rechten und islamistischen Terrors allemal aus der Zeit gefallen, sondern birgt auch die Gefahr, dass sich junge Menschen in ihrem progressiven politischen Engagement verunsichert fühlen und vor Aktionen zurückschrecken könnten.
Die parallele Lektüre des Sammelbandes und die Beteiligung an der kritischen Fachdebatte rund um diese Strategie der Sozialbehörde verdeutlichte mir nochmals die Aktualität des Buches und ließ mich zugleich frustriert einige Parallelen zu den beschriebenen Debatten der 1970er Jahre erkennen. Sicherlich wäre ein direkter Vergleich unangebracht, aber solche Strategien zeigen deutlich, wie die (neu-)rechten Zugriffe die Debatten immer wieder verschieben können. Daher sind die Anregungen aus dem Buch mehr als willkommen, denn so lässt sich deutlich fundierter fragen, wie nun Flagge gezeigt und sich eingemischt werden kann (vgl. Vorwort von Wohnig). Mit dem Buch kann auch gefragt werden, wie bspw. im Fall von rechtsradikalen Überzeugungen auch in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit konfliktorientiert gearbeitet (vgl. Beitrag von Blasche) und wie mit dem Zulassen von politischen Aktionen auch politische Bildung ermöglicht werden kann (vgl. Beitrag von Wohnig). Und zu guter Letzt sollte aus einer antifaschistisch ausgerichteten politischen Bildung im Sinne Nonnenmachers heraus auch bedacht werden, dass – wie Lieske es formuliert – „eine kritische Positionierung gegenüber aktuellen autoritären Konzepten von Kriminalitätsbekämpfung gewinnbringend“ (Wohnig 2020: S. 82) für die eigene pädagogische Arbeit ist.
Literatur
BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. (https://www.bmfsfj.de/blob/jump/162232/16-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf. Zuletzt aufgerufen am 21.12.2020).
Hafeneger, Benno/Jestädt, Hannah/Schwerthelm, Moritz/Schuhmacher, Nils/Zimmermann, Gillian (2020): Die AfD und die Jugend. Wie die Rechtsaußenpartei die Jugend- und Bildungspolitik verändern will. Frankfurt/M: Wochenschau.
ND – Neues Deutschland (2019): Ida-Ehre-Schule. Eine Schule gegen die AfD. (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1117567.ida-ehre-schule-eine-schule-gegen-die-afd.html. Zuletzt aufgerufen am 23.1.2021).
TAZ – Die Tageszeitung (2021): Umstrittene Prävention in Hamburg. Sozialarbeit gegen links. (https://taz.de/Umstrittene-Praevention-in-Hamburg/!5737867/. Zuletzt aufgerufen am 25.1.2021).
Wohnig, Alexander (Hrsg.) (2020): Politische Bildung als politisches Engagement. Überzeugungen entwickeln, sich einmischen, Flagge zeigen. Frankfurt/M: Wochenschau.
[1] Die im Folgenden genannten Quellenangaben beziehen sich auf den gesamten Sammelband. Die einzelne Autor:innenbeiträge ergeben sich jeweils aus dem Kontext und werden daher nicht einzeln benannt. Abweichende Quellen werden als solche benannt.
[2] Nonnenmacher, Frank (2014): „Du hattest es besser als ich“. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Bad Homburg: VAS – Verlag für Akademische Schriften.
Rezension von
Fabian Fritz
MA Erziehungs- und Bildungswissenschaft: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg, Department Soziale Arbeit & Pädagogische Leitung der politischen Jugendbildung beim Museum für den FC St. Pauli
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Es gibt 2 Rezensionen von Fabian Fritz.
Zitiervorschlag
Fabian Fritz. Rezension vom 17.02.2021 zu:
Alexander Wohnig: Politische Bildung als politisches Engagement. Überzeugungen entwickeln, sich einmischen, Flagge zeigen. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2020.
ISBN 978-3-7344-1133-5.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27578.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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