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Max Liedtke: Das Fräulein Lehrerin

Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 18.11.2020

Cover Max Liedtke: Das Fräulein Lehrerin ISBN 978-3-7815-2305-0

Max Liedtke: Das Fräulein Lehrerin. Beispiel: Fräulein Helene Käferlein (1901-1975), ihre Erniedrigungen, ihre Leistungen. Eigentlich denkmalwürdig. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2019. 154 Seiten. ISBN 978-3-7815-2305-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Autor

Prof. Dr. Max Liedtke hatte von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1999 den Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät Nürnberg der Universität Erlangen-Nürnberg inne. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Integration der Naturwissenschaften (v.a. Evolutionsbiologie) in die Erziehungswissenschaft und in der historischen Bildungsforschung. Zu seinen bekanntesten Werken gehören „Evolution und Erziehung“ (1971, 4. Aufl. 1997), „Kulturethologie“ (Hg. 1994) und das von ihm herausgegebene vierbändige „Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens“ (1991 – 1997).

Aufbau und Inhalt

Nach einem einleitenden Verweis auf das Forschungsdesiderat im Hinblick auf „Das Fräulein Lehrerin“ in der Historiographie der Erziehung skizziert Max Liedtke die „Rechtsgeschichte“ des „Fräulein“ zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert und wendet sich anschließend den bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichenden rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der unverheirateten Lehrerin zu. Das von ihm herangezogene Beispiel „Fräulein Helene Käferlein“ veranschaulicht einerseits die Unfähigkeit und Unwilligkeit der Schuladministration und der männlichen Berufsgenossen, an der Marginalisierung der Berufsrolle dieser Personengruppe etwas zu ändern (selbst als die rechtlichem Möglichkeiten bestanden hätten). Andererseits belegt die Berufsbiografie der Genannten für ihn, dass es möglich war, sich mit einer entsprechenden Charakterstärke den gegebenen Umständen (insbesondere im Nationalsozialismus) nicht einfach zu fügen, sondern sich eine gewisse Unabhängigkeit im Denken und Handeln zu bewahren. „Eigentlich denkmalwürdig“ (139) bewertet der Autor Helene Käferleins Lebensleistung.

Zu den Details der Untersuchung: Der Blick des Autors in die Rechtsgeschichte fördert zutage, dass der Titel „Fräulein“ – ursprünglich ein „Adelstitel“ (9) – seit der Aufklärung nicht nur seine Aura verloren hat, sondern dass die so Apostrophierten in rechtlicher Hinsicht sogar noch eine ungünstigere Position einnehmen als verheirateten Frauen. Dass sie „Fräulein“ genannt wurden, hält Liedtke für ein „freundliches Kompliment, mit dem die vielfältig subalterne Positionierung […] nur verschleiert wurde“ (15). Die faktische Geringschätzung hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Erst 1972 wurde durch die Deutsche Bundesregierung rechtlich festgelegt, dass „im behördlichen Sprachgebrauch“ (15) jede erwachsene weibliche Person als „Frau“ zu bezeichnen sei.

Die diskriminierende gesellschaftliche Praxis findet ihren speziellen Niederschlag auch in der Geschichte der Lehrerin. Als weltliche Lehrerinnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Schulbühne betreten, ist der Beruf für sie an die Voraussetzung der Ehelosigkeit gebunden. Für den von ihnen geforderten „Zölibat“ (15) sieht Liedtke zwei Ursprünge: die „geschichtliche Herkunft der beruflichen Lehrerin“ (16) aus dem Kloster, vor allem aus den weiblichen Schulorden – 1865/66 gab es etwa in Bayern nur 11 % weltliche Lehrerinnen – und die verbreitete Annahme in der Gesellschaft wie in der männlichen Lehrerschaft, die eigentliche Aufgabe der Frau sei die der Ehegattin und Mutter. Von verheirateten Frauen sei daher nicht die gleiche Hingabe an den Beruf zu erwarten wie von den Männern. Was die beiden Stränge eint, ist die Auffassung, dass die Frau öffentlich unsichtbar zu sein hat. Ihre Mitwirkung an der öffentlichen Bildungsarbeit entspringt nach der Erweiterung des Volksschulwesens und dem Rückzug der Kirchen aus dem öffentlichen Bildungswesen weder einer Gerechtigkeitsidee noch einem Emanzipationsgedanken, sondern einem eklatanten Lehrermangel, dem mit männlichen Lehrern allein nicht abgeholfen werden kann. Aber das „Fräulein“ bekommt zu spüren, dass es eigentlich nicht erwünscht ist. Nicht einmal in den nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Lehrer- und Lehrerinnenvereinen findet die unverheiratete Lehrerin wirksamen Rückhalt. Rechtliche Revisionen wie zum Beispiel die Weimarer Verfassung von 1919 oder die bayerische Ministerialentschließung von 1921 bleiben in der Praxis meist folgenlos: Die unverheiratete Lehrerin kann bei Eheschließung und erst recht bei unehelicher Schwangerschaft nach wie vor entlassen werden; sie hat häufig eine weniger qualifizierte Ausbildung; sie wird schlechter bezahlt (die Angleichung erfolgt erst 1948); sie besitzt an ihrem Dienstort im Gegensatz zum männlichen Lehrer „kein Heimatrecht“ (29) und hat geringere Aufstiegschancen – ganz abgesehen von der sozialen Überwachung durch Kirche, Gemeinde und männliche Kollegenschaft. Max Liedtkes Resümee: „Die Frauen – eben zu ihnen gehörte das ‚Fräulein Lehrerin’ – blieben in der Geschichte der Lehrer bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich zum Lehrer in durchgängig abgewerteter, zweitrangiger Position“ (43).

Obwohl Helene Käferleins aktive Lehrerinnenzeit (1920–1967) in den Ausgang der beschriebenen Epoche fällt, trägt ihre Geschichte noch die Spuren traditioneller Benachteiligungen, nur dass sie in ihrem Fall weniger struktureller als ideologischer Art sind. Aus einem gehobenen städtisch-bürgerlichen Milieu stammend, stößt die Berufsanfängerin in den 20er Jahren in einer mittelfränkischen Landgemeinde mit der Art, wie sie sich in der Öffentlichkeit gibt, auf Ablehnung: Sie kleidet sich modisch, schminkt sich, raucht exzessiv auch außerhalb des Hauses, geht ohne Begleitung ins Gasthaus, lässt sich von einem männlichen Bekannten im Auto mitnehmen, feiert nachts mit Freunden in ihrer Wohnung, nimmt nur sporadisch an den örtlichen Gottesdiensten teil – und gerät damit in Konflikt mit dem Gemeindepfarrer, die in ihr eine Bedrohung der Moral, zumindest aber kein Vorbild für die Jugend sieht und der sie am liebsten aus dem Schuldienst entlassen, zumindest aber versetzt sehen möchte. Das gelingt ihm nicht, wobei es Helene Käferlein zugute kommt, dass ihre Berufsausübung als untadelig beurteilt wird. Max Liedtke dokumentiert die Konfliktlage anhand von Beschwerdeschreiben, Gesprächs- und Vernehmungsprotokollen und Briefen der Beschuldigten und lässt dabei das Bild einer Unangepassten entstehen, der jeder Subalternitätsgestus fremd zu sein scheint.

Anhand von Dokumenten verfolgt der Autor den weiteren beruflichen Weg von Helene Käferlein – nun an einer städtischen Schule tätig – durch die Zeit des Nationalsozialismus. Er findet Nachweise für die Ableistung des gesetzlich vorgeschriebenen Eides auf den „Führer“, zu ihrer Mitgliedschaft im Nationalsozialistischen Deutschen Lehrerbund (der nach der Gleichschaltung die früheren Berufsorganisationen wie etwa den Bayerischen Lehrerverein, dem Helene Käferlein angehört hatte, aufsog) und zur Bestätigung ihrer arischen Abstammung. Der NSDAP war sie – im Gegensatz zur Mehrheit der Lehrerschaft – nicht beigetreten. Was sie vor Vielen ihres Berufsstandes auszeichnet: Sie unterhält ganz offen, trotz Ermahnungen und Drohungen seitens der Partei, freundschaftliche Beziehungen zu einer Familie jüdischer Abstammung. Nach dem Krieg wird sie nicht nur als „unbetroffen“ eingestuft (womit sie wieder in den Schuldienst eintreten kann), sondern ihr wird bereits 1947 der Vorsitz einer Spruchkammer anvertraut. Diese Aufgabe erfüllt sie, wie ihr bestätigt wird, sachkundig und mit Gerechtigkeitssinn, aber verständlicherweise häufig nicht zur Zufriedenheit jener, die sie als „belastet“ erkannt hat. Das veranlasst einige Betroffene, sie öffentlich anzufeinden und in Misskredit zu bringen.

Mit einer Befragung von Zeitzeugen aus der Lehrer- und Schülerschaft zeichnet Max Liedtke zum Schluss seiner Untersuchung das Bild einer attraktiven, zugewandten, originellen, intellektuellen, selbstbewussten Frau, von der gesagt wurde, dass sich an ihr„die Geister scheiden“ (126), und deren Beitrag zur „Emanzipation des Fräuleins“ (130 f.), zu Loslösung der Schule von der geistlichen Schulaufsicht und zum „demokratischen Aufbruch“ (133 f.) nach 1945 nicht vergessen werden sollte.

Diskussion

Das „Fräulein Lehrerin“ ist in bildungshistorischer Hinsicht eine bisher weitgehend übersehene Facette, obwohl der Aufbau des Grundschulwesens ohne weibliche Lehrkräfte kaum möglich gewesen wäre und das Volksschulwesen immer wieder, besonders in Kriegszeiten, auf eine billige „Arbeitskraftreserve“ (Sandfuchs 2004, 26) angewiesen war (vgl. Huerkamp 1999; Jacobi 1997; Kleinau 1993). Max Liedtke hat seit dem von ihm edierten Tagungsband „Der weite Schulweg der Mädchen“ (1990) die Rolle der Frau in der Geschichte der Erziehung und Bildung nicht mehr aus dem Auge verloren. Dass er dem „Fräulein Lehrerin“ am Beispiel der „Helene Käferlein“ nachgeht, hängt mit der Erforschung der Geschichte des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenvereins zusammen und mit dessen Rolle bei der Emanzipation der Lehrerin an Volksschulen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Protagonistin ist für ihn insofern ein Glücksfall, als er über ihre Geschichte den Blick auf die teilweise entwürdigenden Zuschreibungen an ihre Berufs-, Geschlechts- und Standesrolle durch Kirche und Gesellschaft lenken kann. Erleichtert wird ihm die Aufgabe dadurch, dass Helene Käferlein durch ihre Versuche, der sozialen Kontrolle zum Trotz ein selbstbestimmtes Leben zu führen, aktenkundig wird.

Wie der Autor dokumentierend und analysierend verfährt, ist beispielhaft hinsichtlich Informationsdichte und ausgewogenem Urteil. Aus der spürbaren Sympathie für eine Frau, die in schwierigsten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen sich nicht verbiegen lässt, wird dennoch keine Verehrung. Die von Max Liedtke am Ende seiner Untersuchung angemahnte Denkmalwürdigkeit zielt auf einen Menschen, an dessen Gerechtigkeitssinn und Charakterstärke die Nachwelt sich erinnern sollte.

Fazit

In ihrem Vorwort dankt Frau Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, dem Autor dafür, dass er mit seiner „Recherche über Helene Käferlein […] einen wichtigen Aspekt der Bildungsgeschichte und der Lehrerbewegung in Bayern zum Gegenstand seiner Studien gemacht“ (8) hat. Der Rezensent ergänzt: Die Untersuchung von Max Liedtke zeigt, wie fruchtbar es nicht nur für die historische Forschung, sondern auch für deren Vermittlung sein kann, gesellschaftliche Strukturen und geschichtliche Verläufe über die Biografien jener zu beleuchten, die ihnen ausgesetzt sind und sich darin behaupten müssen.

Literatur

Huerkamp, U. (1999). Die Lehrerin. In: U. Frevert (Hg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Frankfurt: Campus: 176–200.

Jacobi, J. (1997). Modernisierung durch Feminisierung? Zur Geschichte des Lehrerinnenberufs. In: Zeitschrift für Pädagogik 6: 929–946.

Kleinau, E. (1993). Nur ein Beruf für „höhere Töchter“? Lebensläufe und Bildungsgänge von Lehrerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: E. Glumpler (Hg.), Erträge der Frauenforschung für die Lehrerinnenbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt: 149–164.

Liedtke, M. (1990). Der weite Schulweg der Mädchen. Historische und systematische Aspekte einer Benachteiligung. In: J. G. v. Hohenzollern, M. Liedtke (Hg.), Der weite Schulweg der Mädchen. Die Geschichte der Mädchenbildung als Beispiel anthropologischer Vorurteile. Bad Heilbrunn: Klinkhardt: 25–37.

Sandfuchs, U. (2004). Geschichte der Lehrerbildung in Deutschland. In: S. Blömeke, P. Reinhold, G. Tulodziecki, J. Wildt (Hg.), Handbuch Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Westermann-Klinkhardt: 14–37.

Rezension von
Helmwart Hierdeis
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Es gibt 21 Rezensionen von Helmwart Hierdeis.

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ISSN 2190-9245