Urs Münch: Anhaltende Trauer
Rezensiert von Dr. Tanja M. Brinkmann, Ulrike Backhaus, 07.12.2020
Urs Münch: Anhaltende Trauer. Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
125 Seiten.
ISBN 978-3-525-40691-5.
D: 17,00 EUR,
A: 18,00 EUR.
Reihe: Edition Leidfaden.
Thema
Im Mai 2019 wurde die Überarbeitung der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, die ICD-11, von der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet. Erstmalig wurde die Diagnose „Prolonged Grief Disorder“ (übersetzt auf Deutsch voraussichtlich mit „Anhaltende Trauerstörung“) aufgenommen. Noch steht nicht fest, wann die Neuauflage dieses auch hierzulande standardmäßig verwendeten Werkes in Deutschland eingeführt wird. Bereits im Vorfeld ist jedoch unter Fachleuten kontrovers und häufig ablehnend über die Diagnose „Anhaltende Trauerstörung“ diskutiert worden.
Der Autor möchte mit seinem Band dazu beitragen, „die Diskussion über die Diagnose auf eine sachlichere Ebene zu heben und praktische Aspekte im Umgang mit der Anhaltenden Trauerstörung zu beleuchten.“ (14).
Autor
Urs Münch ist Dipl.-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und Psychoonkologe. Er arbeitet im Viszeralonkologischen Zentrum Westend und im Palliativteam der DRK Kliniken Berlin/​Westend. Er ist Dozent in den Bereichen Palliative Care, Palliativpsychologie und Psychoonkologie sowie Lehrbeauftragter der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist zudem Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Aufbau und Inhalt
Neben dem Vorwort von Heidi Müller, einer Einführung und dem Ausblick und Dank umfasst die Publikation sechs Kapitel.
Das erste Kapitel befasst sich mit Begriffsklärungen zum Thema. Münch stellt die Bezeichnung normale Trauer für die Mehrzahl aller Trauerprozesse vor, bei denen Betroffene keiner professionellen Hilfe bedürfen. Davon unterscheidet er die nicht normale Trauer als Überbegriff für alle Trauerverläufe, die als traumatisch, kompliziert, komplex oder pathologisch eingestuft werden oder von einer anderen psychischen Störung, wie z.B. Depression, begleitet werden und bei denen Menschen von psychotherapeutischer Unterstützung profitieren. Schließlich gibt er einen Überblick über die teilweise divergierenden wissenschaftlichen Konzepte „Komplizierte Trauer“, „Störung durch eine anhaltende komplexe Trauerreaktion“ und „Anhaltende Trauerstörung“, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch verschiedene internationale Forschergruppen veröffentlicht wurden.
Im zweiten Kapitel erläutert Münch die diagnostischen Kriterien bzw. Symptome einer Anhaltenden Trauerstörung in der ICD-11. Er geht auf die Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Komorbidität von Anhaltender Trauerstörung und anderen psychischen Störungen ein (zum Beispiel Posttraumatische Belastungsstörung, Depression). Zudem stellt er den aktuellen Stand der Diagnostik mittels Fragebögen zur Anhaltenden Trauerstörung vor.
Das dritte Kapitel widmet sich psychologischen Modellen, die als Verständnisgrundlage für die Anhaltende Trauerstörung dienen können. Hier führt Münch das in Fachkreisen weit verbreitete Duale Prozessmodell der Trauerverarbeitung an. Eine gesunde Trauer zeichnet sich danach durch ein Pendeln zwischen den beiden Polen der Verlustorientierung einerseits (unter anderem Ausdruck von Trauergefühlen, Gedenkaktivitäten) und der Wiederherstellungsorientierung andererseits (unter anderem Aufnahme neuer Aktivitäten) aus. Der Autor setzt dies in Beziehung u.a. zur Bindungstheorie und zum Konzept der Intoleranz von Unsicherheit (IU), um anhaltende Trauerverläufe zu verstehen und therapeutische Interventionsziele abzuleiten.
In Kapitel vier werden verschiedene wissenschaftlich evaluierte Therapieansätze der Anhaltenden Trauerstörung vorgestellt und bewertet. Münch rekurriert hier auf gruppenbezogene Therapieinterventionen aus der kognitiven Verhaltenstherapie wie etwa Exposition oder Umstrukturieren, die sinnbasierte Trauertherapie, die metakognitive Therapie und andere. Er erläutert hier auch die Nicht-Wirksamkeit von medikamentöser Behandlung bei einer Anhaltenden Trauerstörung, die nicht von anderen Störungen flankiert ist.
Kapitel fünf widmet sich dem Umgang mit der neuen Diagnose ‚Anhaltende Trauerstörung‘ in Deutschland. Der Autor setzt sich kritisch mit Positionen des Bundesverbands Trauerbegleitung und des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands auseinander. Er führt wissenschaftliche Untersuchungen an, die nicht in Deutschland durchgeführt wurden, nach denen die Wirksamkeit von Trauergruppen und Trauerbegleitung umstritten ist. Münch regt an, das in der Palliativmedizin entwickelte Konzept der Würde nach Chochinov stärker in die Trauerberatung einzubeziehen. Er erläutert seine sozialpolitische Vision einer Versorgungslandschaft für Trauernde in Deutschland, die von einer koordinierten, transparenten, professionellen und interdisziplinären Unterstützung profitieren können. Schließlich benennt er Risikofaktoren für eine Anhaltende Trauerstörung als Orientierung für Trauerbegleitende.
Das sechste Kapitel enthält praktische Tipps für Trauerberatende. Der Autor spannt hier den Bogen vom Erkennen der Anhaltenden Trauerstörung, dem Weiterverweisen an psychotherapeutische Fachkräfte bis hin zum Umgang mit Suizidalität und Selbstfürsorge.
Diskussion
Die große Stärke des Buches ist, dass der Autor aktuelle Forschungsergebnisse zum Thema, die meist in englischer Sprache publiziert wurden, einer deutschen Öffentlichkeit zugänglich macht. In einer bewundernswerten Fleißarbeit hat er hier sorgfältig verschiedene Forschungsergebnisse zusammengetragen.
Positiv ist auch, dass jedes Kapitel mit einer verständlichen Zusammenfassung endet.
Es stellt sich allerdings die Frage, welche Zielgruppe Münch mit seiner Schrift erreichen will. Dies wird leider an keiner Stelle transparent gemacht. Von den ersten vier Kapiteln könnten durchaus Psychotherapeut/​innen profitieren, die durch die neue Diagnose erstmalig mit dem Thema konfrontiert werden. Allerdings sind die vorgestellten psychotherapeutischen Interventionen sehr kurz beschrieben, sodass hier ohne eine weitere Lektüre die Anwendung nicht möglich ist.
Die letzten beiden Kapitel scheinen sich eher an haupt- und ehrenamtliche Trauerbegleitende (im Rahmen der Hospizbewegung) zu richten. Für diese aber dürften die ersten Kapitel zu spezifisch und nicht ganz leicht zu lesen sein. Münch verlässt im letzten Teil des Buches stellenweise den neutralen Stil seiner vorherigen Ausführungen und damit seinen eigenen Anspruch der Sachlichkeit. Er lässt sich zu einer ihn selbst diskreditierenden Kritik am Bundesverband Trauerbegleitung hinreißen. Neben seiner aus unserer Sicht teilweise berechtigten Kritik behauptet er beispielsweise, im Wort „Begleiten“ stecke das Wort „Leiten“ und konstruiert einen Gegensatz zu einer partnerschaftlichen Beziehung, wie sie in der Palliativmedizin postuliert wird (86-92). Dies erscheint uns etwas weit hergeholt.
Dagegen wird die eigene Profession des Autors – die Psychologie und Psychotherapie – erstaunlich unkritisch in den Blick genommen. Fast alle vorgestellten und wissenschaftlich belegten Therapieansätze zur Anhaltenden Trauerstörung kommen aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Eher nebenbei erwähnt der Autor, dass Studien zur Wirksamkeit von tiefenpsychologischer und analytischer Psychotherapie bei anhaltender Trauer nicht vorhanden sind (65). Der psychologische Theoretiker Carl Rogers, dessen Gesprächshaltungen der Kern dessen sind, was trauernde Menschen in Untersuchungen als hilfreich empfanden (89), bleibt ebenso unerwähnt wie der zeitgenössische Trauertheoretiker Robert Neimeyer im Zusammenhang mit der sinnbasierten Trauertherapie (71 f.) oder der Hypnosystemiker Roland Kachler, der sich intensiv mit Bindung im Trauerprozess beschäftigt hat.
Wir stimmen sehr mit Münch überein, dass die Forschungslage zur normalen Trauer und zur Anhaltenden Trauerstörung sowie der Evaluation von trauerberaterischen oder trauertherapeutischen Interventionen in diesem Bereich deutlich ausbaufähig ist, insbesondere im deutschsprachigen Raum.
Es überrascht nicht zuletzt der Titel des Buchs: „Anhaltende Trauer“, denn im Buch geht es fast ausschließlich um die neue ICD-11-Diagnose der Anhaltenden Trauerstörung in Abgrenzung zur normalen Trauer. Münch erläutert leider nicht, welchen Mehrwert der Begriff Anhaltende Trauer gegenüber der Anhaltenden Trauerstörung hat bzw. er diesen Buchtitel wählt.
Die Reihe Edition Leidfaden richtet sich laut Verlagsbeschreibung an (semi-)professionelle Trauerbegleitende. Sie enthält in der Regel neben theoretischen Erläuterungen Fallbeispiele und praktisches Methodenwissen. Das Buch enthält lediglich ein Fallbeispiel. Mit seinem Aufbau passt der vorliegende Band nicht in die Reihe. So dürfte er die Erwartungen der eigentlichen Zielgruppe der Reihe enttäuschen.
Fazit
Der Band ist als Einführung für Psychotherapeut/​innen ins Thema teilweise geeignet. Er stellt wichtige wissenschaftliche Begriffe, Fragebögen und Studienergebnisse auf Deutsch vor und beschreibt sie knapp und sachlich. Als praxisorientiertes Werk für (semi-)professionelle Trauerbegleitende, die mit der Edition Leidfaden eigentlich angesprochen werden sollen, kann die Schrift eher nicht dienen. Seinem Anspruch, die Diskussion um die Diagnose Anhaltende Trauerstörung zu versachlichen, wird der Band nur teilweise gerecht.
Rezension von
Dr. Tanja M. Brinkmann
Dr.in der Philosophie, Soziologin M.A., Dipl.-Soz.päd., Krankenschwester, Trauerberaterin, Trainerin in den Bereichen Palliativversorgung und Trauer, Fachautorin
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Ulrike Backhaus
Dipl.-Soz.Päd., personzentrierte Therapeutin, Fort- und Weiterbildnerin im Bereich Trauer, Fachautorin
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Es gibt 2 Rezensionen von Tanja M. Brinkmann.
Es gibt 1 Rezension von Ulrike Backhaus.
Zitiervorschlag
Tanja M. Brinkmann, Ulrike Backhaus. Rezension vom 07.12.2020 zu:
Urs Münch: Anhaltende Trauer. Wenn Verluste auf Dauer zur Belastung werden. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
ISBN 978-3-525-40691-5.
Reihe: Edition Leidfaden.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27618.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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