Tillmann Löhr (Hrsg.): Kommunale Integrationspolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Eckardt, 14.01.2021

Tillmann Löhr (Hrsg.): Kommunale Integrationspolitik. Strukturen, Akteure, Praxiserfahrungen. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2020. 160 Seiten. ISBN 978-3-7841-3265-5. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.
Thema
Das Buch behandelt den aktuellen Stand der kommunalen Integrationspolitik.
Herausgeber
Dr. Tilmann Löhr ist Wissenschaftlicher Referent im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin.
Entstehungshintergrund
Die Veröffentlichung wurde durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert.
Aufbau
Das Buch ist in 12 Kapiteln eingeteilt, die von 23 Autor*innen verfasst wurden.
Inhalt
Die kommunale Integrationspolitik hat insbesondere nach dem kurzen Sommer der Willkommenskultur im Jahr 2015 eine bleibende Bedeutung in der politischen Debatte gefunden. Handelt es sich hierbei um eine Renaissance der Integrationsdebatte der Jahrzehnte davor, als man noch von „Ausländerpolitik“ redete oder um ein Revival späterer Jahre, als vielerorts zwar anspruchsvolle Pläne erstellt wurden, aber vieles doch auf der Strecke blieb? Wo stehen wir heute, nachdem das innenpolitische Klima eines erstarkten gewaltsamen Rechtsextremismus und der, um Normalisierung bestrebten Rechtspopulisten den Einzug in den Bundestag erhalten haben?
In dem vorgelegten Sammelband werden eindrucksvolle Beispiele davon gegeben, in welcher Weise vor Ort Integration hart erarbeitet wird und welche Herausforderungen sich jenseits der schrillen Töne von Rechts stellen. Das Buch stellt, wie der Herausgeber Tilmann Löhr, seinen Eingangsbeitrag überschreibt, ein Zwischenfazit dar. Er rekapituliert sehr anschaulich und fokussiert die Entwicklung der lokalen Integrationspolitik seit den 1970iger Jahren und stellt Strukturen und Akteure in den Mittelpunkt seiner Betrachtung der gegenwärtigen Situation. Die Vielfalt der unterschiedlichen Ansätze in den einzelnen Kommunen betonend, verweist er zunächst auf die Situation der Kommunen im föderalen System. Unter den Stichworten „Verwaltungsorganisation als Querschnittsaufgabe“, „interkulturelle Öffnung“, „Integrationsbeiräte“, „Verwaltung im Dialog“, „Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen“, „Zusammenarbeit mit muslimischen Verbänden und Moscheegemeinden“ und „Freiwillig Engagierte in der Flüchtlingsarbeit“ leitet der Herausgeber die aufgenommenen Beiträge dieses Sammelbandes ein und liefert damit zugleich eine Aufzählung der relevanten Aspekte der kommunalen Integrationspolitik. Er schließt diese Übersicht mit einem „Blick nach vorne“, wobei er erstens die finanzielle Seite der Integrationspolitik, insbesondere in Zeiten von Corona, mit Sorge betrachtet und zweitens konstatiert er, dass die hier aufgezeigten Politiken vor Ort zwar im Grunde von niemanden ernsthaft in Frage gestellt werden können, doch dass die Ressentiment geladenen Debatten in der Öffentlichkeit diese pragmatischen Ansätze erschweren.
Im zweiten Beitrag des Bandes werden die Ergebnisse der Studie „Zwei Welten? Integrationspolitik in Stadt und Land“, die in 92 Kommen aus zwölf Bundesländern durchgeführt wurde, von Petra Bendel und Hannes Schammann zusammengefasst. Die durchgeführte Studie wird hier auf den Punkt gebracht und hinsichtlich der gezogenen Schlussfolgerungen dargestellt. Wesentliche Erkenntnis ist, dass die lokale Integrationspolitik und lokale Narrative wesentlich entscheidender sein können für das Gelingen der Integration als andere, oftmals hervorgehobene Strukturmerkmale wie Urbanität oder Größe der Stadt: „Die gute Nachricht lautet, dass sich selbst schlechte strukturelle Startbedingungen durch das Engagement von Schlüsselpersonen vor Ort und das aktive Framing von Integrationsdiskursen vor Ort ausgleichen lassen.“ (S. 30).
Klaus Ritgen, im nächsten Kapitel, schildert die konkrete Situation aus der Sicht des Deutschen Landkreistages und führt als wichtigste Handlungsfelder „Unterbringung und Wohnen“, „Sprache“ und „Bildung und Arbeitsmarkt“ auf, wobei die Notwendigkeit der Unterstützung von Flüchtlingen in allen Bereichen deutlich wird.
Einen sehr informativen Blick in die Dortmunder Nordstadt erlaubt der folgende Text von Birgit Zoerner und Christiane Certa. Die Autor*innen zeigen eindringlich auf, dass das Umfeld für die Zugewanderten eine erhebliche Rolle spielt, wenn die Integration ermöglicht werden soll. Das Ausschöpfen ordnungsrechtlicher Möglichkeiten wird dabei kritisch abgewogen, da es zwar einerseits gilt, ausbeuterische Strukturen aufzubrechen, es aber andererseits Armut und Ausgrenzung in der gesamten Komplexität, auch auf europäischer Ebene (etwa in Rumänien) entgegenzuwirken. Im Vergleich zu Dortmund würde man in Dülmen eher eine beschauliche Situation erwarten, die der geringeren Einwohnerzahl (47.000) entspricht. Im Grunde aber lautet das Fazit aber auch hier: Integration ist kein Selbstläufer und erfordert viel Arbeit und Langfrisitigkeit. „Geduld und Durchhaltevermögen“ (S. 69) sind vonnöten. Gewarnt wird davor, die finanzielle Förderung von Bund und Land zurückzufahren.
In Krefeld galt es, so der Beitrag von Regina van den Bergh und Viktoria Postels, konzertiertes Handeln in der Integrationsarbeit durch eine Innovation der Organisationsform sicherzustellen. Das anspruchsvoll durchgeführte Projekt, mit dem dies geleistet werden sollte, führte zur Gründung des Fachbereichs „Migration und Integration“. Gelitten hat es unter einer Führungskrise und dem Mangel an Kapazitäten, wodurch die Gesamtstrategie nicht umgesetzt werden konnte. Das Krefelder Vorhaben, das immerhin 200 Menschen zusammenbinden sollte, kann als anspruchsvoll gelten und unterstreicht die Bedeutung der organisatorischen Ebene der Integrationspolitik, bei der etwa „Teambuilding“ eine wichtige Komponente ist, die es neben den Ressourcen zu gewährleisten gilt. Der Artikel dokumentiert einen Lernprozess, bei dem dennoch viele Ziele des Projektauftrags realisiert werden konnten. Das Engagement der Beteiligten trägt das Projekt und wirkt sich somit auch positiv auf die Stadtgesellschaft aus.
Auch Gari Pakovic widemt sich der organisatorischen Seite der lokalen Integration, fokussiert aber auf das Thema interkulturelle Öffnung. Aufbauend auf grundsätzlichen Überlegungen, einer Bertelsmann-Studie und positiven Beispielen aus Stuttgart, Essen und München kommt er zu dem Schluss, dass es vor allem wichtig ist, dass Führungspersonal das Thema pro-aktiv und nach außen kommunizieren, um bei diesem Thema Fortschritt zu erzielen. Die Rolle der kommunalen Integrationsbeiräte wiederum beleuchtet der Beitrag von Deniz Nergiz. In der Essenz argumentiert das Kapitel für eine Fortsetzung der vorhandenen Beiräte, auch wenn diese durch mangelnde Wahlbeteiligung nur erschwert arbeiten können. Vorgeschlagen werden Maßnahmen, mit denen die Sichtbarkeit der Arbeit der Räte verbessert werden können. Dies würde zum Beispiel erreicht werden, wenn Fort- und Weiterbildung sowie politische Bildung gefördert werden könnten. Ganz offensichtlich benötigen die Mitglieder solcher Räte eine Hilfe für die Steigerung ihrer Effizienz und Kompetenz, um eine aktive Rolle in der Lokalpolitik und etwa auch bei der interkulturellen Öffnung der Verwaltung spielen zu können.
Kommunale Flüchtlingsdialoge, so Gisela Erler, benötigen vor allem Gespräche auf Augenhöhe. Aufbauend auf ihren Erfahrungen als Stadträtin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im Staatsministerium Baden-Württemberg schildert sie, wie solche Gesprächsformate in Städten wie Pforzheim, Freiburg und Mannheim mit einem „aufsuchendem Konzept“ realisiert wurden. Im Sinne der Citizen's Assembly wurde dabei auf die Auswahl von „Zufallsbürgern“ gebaut, damit vorgegebene Diskussionsstrukturen aufgebrochen werden können und ansonsten eher „stille“ Bürger*innen integriert werden konnten. Das Format soll nun verstetigt werden und für die Diskussion um die Folgen der Corona-Pandemie neuaufgelegt werden. Projektmitarbeitende des Landesnetzwerks Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt haben in ihrem Beitrag schon ihr wesentliches Statement in der Kapitelüberschrift zum Ausdruck gebracht: Migrantenorganisationen sind unverzichtbare Partner im Integrationsprozess. Geschildert werden die Erfahrungen mit dem Landesnetzwerk Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt (LAMISA) und deren Arbeit in den Projekten zur interkulturellen Bildung und Beratung (die Projekte NEMSA und IKL), die Lücken in der vorhandenen Beratungsangeboten vor Ort schließen. Gleiches gilt für das Ausbildungs- und Arbeitsmarktprojekt „MiiDU“, das Demokratie-Projekt „ENT_KNOTEN_PUNKT“ und das „DiV“. Trotz der eindrucksvollen Vielfalt des Engagements von LAMISA ist die politische Einbindung auf Landes- und kommunaler Ebene aber nicht optimal. Ressourcen fehlen und die Anerkennung der Kompetenzen des Netzwerks ist zu gering. Ein ähnliches Fazit lässt sich aus den beiden letzten Beiträgen zur Islamberatung in Bayern und dem freiwilligen Engagement für und von Geflüchteten ziehen.
Diskussion
Die aufgenommenen Beiträge beleuchten in der Tat wichtige Aspekte der kommunalen Integrationspolitik und obwohl sie aus der Perspektive einzelner Akteur*innen und auf dem Hintergrund spezifischer lokaler Kontexte geschrieben wurden, stellt sich insgesamt ein Bild der heutigen Lage in den Kommunen ein, das sowohl ernüchtert, als auch Mut macht.
Von der Willkommenskultur, die vor knapp fünf Jahren in Deutschland euphorisch und mit teilweise überzogenen Vorstellungen diskutiert wurde, ist heute nicht mehr viel die Rede. Die Festung Europa hält stand, auch wenn es dreckiger Deals mit afrikanischen Diktatoren und dem Erdogan-Regime dafür bedarf. Aufgabe ist es nun, um die schon Angekommenen zu integrieren. Die Situation ist lokal also aus einem Notfall-Zustand in eine langfristige Perspektive transformiert worden. Integration als Daueraufgabe, so das Fazit aller Beiträge, ist nun wieder das Kerngeschäft der Integrationspolitik – wie es vor 2015 auch der Fall gewesen ist. Positiv ist zu beobachten, dass dies tatsächlich in zahllosen Kommunen in Deutschland geschieht und dabei durchaus mehr getan wird, mehr Sensibilität und Empathie, mehr organisatorische Innovation und mehr Ressourcen im Spiel sind.
Das ist alles hoffnungsgebend und doch ahnt man an manchen Stellen, dass die Luft dünn werden könnte. Corona treibt die Abhängigkeit von den knapper werdenden öffentlichen Finanzen deutlich vor Augen. Aber auch Geduld und langer Atem sind nicht unendlich und die ehrenamtlichen Hilfen noch viel weniger. Solidarität systematisch und nachhaltig zu sichern, das wird die große Herausforderung werden, von der man zwischen den Zeilen hier lesen kann.
Fazit
Mit diesem Buch wird ein eindrucksvoller Einblick in die kommunale Integrationspolitik möglich, der dringend in der aktuellen Debatte und für die zukünftige Gestaltung der Zuwanderung benötigt wird. Diese Rückspiegelungen der Erfahrung von „vor Ort“ sind bedauerlicherweise in Deutschland nicht häufig vorhanden, sie sind von Publikationsinitiativen wie dieser abhängig. Eine vernünftige Politik müsste an einer regelmäßigen und systematischen Erkundung der lokalen Integration interessiert sein. Um so mehr ist dieser Band zu würdigen.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Eckardt
Professor für sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar
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Es gibt 9 Rezensionen von Frank Eckardt.
Zitiervorschlag
Frank Eckardt. Rezension vom 14.01.2021 zu:
Tillmann Löhr (Hrsg.): Kommunale Integrationspolitik. Strukturen, Akteure, Praxiserfahrungen. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2020.
ISBN 978-3-7841-3265-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27621.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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