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Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir?

Rezensiert von Peter Flick, 27.11.2020

Cover Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? ISBN 978-3-492-05988-6

Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst - Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper Verlag GmbH (München) 2020. 336 Seiten. ISBN 978-3-492-05988-6. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 24,50 sFr.

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Thema

Das Buch von Gerald Knaus richtet sich an Leserinnen und Leser, „die davon überzeugt sind, dass es möglich sein muss, an Europas Grenzen Kontrolle mit Respekt für Menschenwürde zu verbinden.“ (S. 9). Die EU sei dazu verpflichtet an ihren Außengrenzen „den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention“ zu verteidigen: das Gebot der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden. (S. 9). Da nach Meinung des Autors die menschliche Fähigkeit zur Empathie nicht unbegrenzt ist, spielen neben sachlichen Informationen und normativen Überlegungen ermutigende „Narrative“ eine zentrale Rolle. Einige Geschichten, die das Buch aufgreift, handeln deshalb von mutigen Politiker*innen in Regierungsverantwortung und von Initiativen zivilgesellschaftlicher Akteure, die zeigten, dass sich die Verantwortung für eine kontrollierte Zuwanderung und eine menschliche Behandlung der Geflüchteten nicht ausschließen müssen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssten die Verantwortlichen in der EU endlich drei Aufgaben anpacken:

  • Erstens, schnellere und qualitativ bessere Asylverfahren an den Außengrenzen der EU.
  • Zweitens, Vereinbarungen mit Transit- und Herkunftsländern, um Abschiebungen möglich zu machen. Allerdings muss man deren Regierungen Angebote machen, damit sie kooperieren (etwa Visa für Studenten, Ausbildungshilfen etc.).
  • Drittens, weitere Initiativen für einer direkte Übernahme von „Patenschaften“ Schutzbedürftiger, wie sie verschiedene europäische Städte und Regionen bereits angeboten haben.

Autor und Entstehungshintergrund

Der Migrationsforscher Gerald Knaus wurde 1970 in Salzburg geboren. Wie er in seinem Buch schreibt, werden die Balkankriege der 1990er Jahre zu einer Erfahrung, die seine weitere berufliche Laufbahn prägen sollte. Mitten in Europa wurde wieder um Grenzen gekämpft, finden Massenvertreibungen und ein Genozid (Srebrenica) statt. Knaus verfolgt die Entwicklung auf dem Balkan 1993 zunächst aus dem ukrainischen Czernowitz, wo er als Dozent für Volkswirtschaft arbeitet, später aus Sofia. 1996 ging er nach Sarajevo und arbeitet fünf Jahre lang für verschiedene NGOs und internationale Organisationen in Bosnien. Er wurde dort Mitbegründer der European Stability Initiative (ESI), einer liberalen „Denkfabrik“ in Sarajevo, die er noch heute leitet.

Von 2001 bis 2004 war er Direktor einer EU-Abteilung von UNMIK in Kosovo. 2004 zieht er für sieben Jahre nach Istanbul und geht dann in die USA, wo er fünf Jahre lang an der Harvard Kennedy School of Governance in den USA unterrichtet.

Knaus lebt heute als anerkannter Migrationsexperte in Berlin und gilt als Mitinitiator des sogenannten „Türkei – Deals“ der EU mit dem türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der die Balkanroute für die Flüchtlinge schließen sollte. Die Vereinbarung mit der EU wurde von Erdogan im Februar 2020 aufgekündigt. Der Rückblick auf die Entstehung und das Scheitern dieser Vereinbarung bildet ein zentrales Kapitel des Buches.

Aufbau und Inhalt

  • Warum dieses Buch? (S. 7 ff.). Nach Knaus' Diagnose schwankt das Urteil der liberalen Öffentlichkeit zwischen „Empathie und Angst“, zwischen Heribert Prantls Appell an die Generosität (Heribert Prantl: Im Namen der Menschlichkeit – Rettet die Flüchtlinge!, Berlin 2015) und der utilitaristischen Haltung eines Boris Palmer (Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen, München 2018). In seiner Einleitung grenzt sich der Autor sowohl von Positionen der Nichtregierungsorganisationen ab, die die Rechte von Geflüchteten vertreten, aber angesichts realistischer Lösungsvorschläge auf ihn eher „ratlos“ (vgl. S. 8) wirken. Umgekehrt leiden für ihn verantwortliche Politiker und Beamte an einem Mangel an Empathie und konkreten Informationen zur Lage der Geflüchteten an den Grenzen der EU. Mit seinem Buch möchte er einen Beitrag zu einer „lösungsorientierten Debatte“ (S. 12) leisten. Es geht Knaus dabei nicht darum, die Notwendigkeit von Grenzziehungen und Grenzkontrollen generell in Frage zu stellen. Nur durch sie kann ein Staat den Schutz der Bürger- und Menschenrechte garantieren. Ohne Kontrolle über seine Grenzen kann der Staat weder seinen Bürger*innen, noch den Geflüchteten auf seinem Territorium Schutz gewähren. Auf der andern Seite wird der der öffentlichen Diskurs über europäische Migrationspolitik nach Knaus immer noch stark von den suggestiven Schreckbildern einer entgrenzten Welt und einer angeblich drohenden Überfremdung durch eine massenhafte Einwanderung beherrscht.
  • Europas Grenzrevolution (S. 16 ff.). Die spektakulären Veränderungen an den europäischen Grenzen nach 1989 erzählen eine andere, ermutigende Geschichte der Freiheit. Das Grenzregime hängt vom politischen Willen der beteiligten Staaten ab: „Sie (die Grenzen, d. Verf.) sind durchlässig, können am Ende sogar unsichtbar werden, solange Staaten eng kooperieren, gemeinsame Entscheidungen treffen und Vertrauen zwischen Gesellschaften wächst.“ (S. 19). Wo das nicht zutrifft und die Kooperationsbereitschaft nachlässt, wie das derzeit der Fall sei, schwinde auch die Freizügigkeit wieder.
  • Unmenschliche Grenzen (S. 23 ff.). Anhand geschichtlicher Beispiele aus den 1930er Jahren erläutert Knaus den Begriff „unmenschliche Grenzen“. Er erinnert daran, wie sich in der oberrheinischen Grenzregion durch die Schweizer Politik des „Refoulements“ (S. 19 f. und S. 39 ff.) unzählige menschliche Tragödien unter den verzweifelten deutschen Juden abspielten, die von der Schweiz ins nationalsozialistische Deutschland zurückgeschickt wurden. Nicht nur die Schweizer Geschichte zeigt, dass auch Demokratien in der Lage sind, jede Form der Schutzverpflichtung gegenüber Geflüchteten von sich zu weisen. Auch die europäischen Demokratien tun das heute, wie Knaus in seiner Darstellung der jüngsten Wendungen zur Seenotrettung im Mittelmeer und der Unterbringung auf den ägäischen Inseln aufzeigt (S. 23 ff.). Wenn die jetzige „ Gestaltung der Grenzen“ etwas über „unsere Gesellschaft und ihre Werte“ aussagt und zeigt, „wer wir sein wollen.“ (S. 23), dann steht es schlecht um die „Wertegemeinschaft“ der Europäische Union. Nach den Erfahrungen mit dem DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Grenze sollte es selbstverständlich sein, dass auch an „Staatsgrenzen das Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Achtung vor dem Leben“ (S. 64) gelten muss. In dem vorliegende Kapitel beschäftigt sich Knaus dann mit dem australischen Modell einer Abschreckungspolitik. Zwar ist das Internierungslager für Boatpeople auf der pazifischen Insel Manus Ende 2017 nach einem Gerichtsurteil offiziell geschlossen worden, aber das berüchtigte Lager auf Nauru besteht in kleinerem Umfang fort. Dort werden Asylsuchende nicht nur isoliert, sondern gezielt einer demütigenden Behandlung ausgesetzt. Wenn Bundeskanzler Kurz in einem Interview mit „Spiegel online“, das Knaus zitiert, diesen Umgang der australischen Regierung mit Geflüchteten als Vorbild künftiger Politik anpreist, wird deutlich, dass auch Teile der EU heute die Grundrechtscharta der EU sowie die gültigen Konventionen und Gerichtsurteile des EuGH offensichtlich für eine vernachlässigenswerte Größe halten (vgl. S. 83 f.).
  • „Wer ist unser Nächster?“ (S. 85 ff.). Wie Knaus immer wieder betont, ist Empathie ein knappes Gut. Darum muss die Fähigkeit, sich in das Leid anderer hineinzuversetzen, weiterentwickelt werden. Knaus folgt hier dem aufgeklärten Ethnozentrismus Richard Rortys, dass sich der Kreis derer, die zu „unserem Stamm“ gehören, durch Empathie schrittweise erweitern lässt, sodass sich die Solidarität am Ende auch auf den „Stamm am anderen Ufer“ erstreckt. Mit Hilfe von „Geschichten über Helfer, mit denen man sich identifizieren kann“ (S. 89) oder, wie es an anderer Stelle heißt, mit Geschichten „über Gut und Böse“ kann auch in Europa mehr Empathie für Geflüchtete erzeugt werden (vgl. dazu auch S. 283). Narrative, in denen sich „mutige Männer und Frauen“ für Geflüchtete einsetzen, haben in diesem Zusammenhang auch für Knaus eine nicht zu unterschätzende Wirkung, denn ihr Beispiel könne uns alle ermutigen, „weniger grausam zu sein“ (Rorty) (S. 89). Knaus erinnert in seinem Buch an zwei solcher Geschichten aus jüngster Zeit. Zum einen die erfolgreiche Rettungsaktion der vietnamesischen Boat-People Ende 1970er Jahre, in der der couragierte Seenotretter und Journalist Rupert Neudeck und der CDU-Politiker Ernst Albrecht bei der Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge erfolgreich zusammengearbeitet haben. Eine andere vielleicht weniger bekannte „Heldengeschichte“ ist für Knaus die des „guten Australiers“ Malcolm Frazer (S. 108 ff.). Der konservative Premierminister vermied 1978 eine unkontrollierte Einwanderung vietnamesischer Boatpeople, indem er mit den Transitländern, den Regierungen Malaysias und Indonesiens kooperierte, ihnen Hilfe bei der Neuansiedlung von Geflüchteten anbot und auch selbst bereit war, große Kontingente der Flüchtlinge in Australien aufzunehmen (eine erfolgreiche Politik, die auch in der australischen Öffentlichkeit breite Unterstützung fand).
  • Der Sinn von Asyl (S. 129 ff.). Asylverfahren, so die These des Kapitels, werden zu einer Farce, wenn kein qualifiziertes Personal vorhanden ist, das sich mit den einschlägigen Bestimmung des UNHCR und den Anforderungen der europäische Flüchtlingskonvention auskennt. In Griechenland aber wurden die von der EU zur Verfügung gestellten Ressourcen weder für die Neuanstellung und Ausbildung eines qualifizierten Personals noch für eine menschenwürdige Unterbringung genutzt. Schnelle Verfahren und eine differenzierte Einzelfallentscheidung auch bei Fällen aus den angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“ sind für Knaus durchaus möglich. Das sei eine Frage der eingesetzten Personalkapazitäten. Das vielgeschmähte Bundesamt für Migration (BAMF) in Nürnberg hat hier nach Meinung von Knaus Vorbildcharakter.
  • Unser Plan für die Ägäis (S. 161 ff.). Der sog. „Merkel Plan“ und das Abkommen der EU mit der Türkei zur Schließung der sog. Balkanroute, an der Gerald Knaus und die Europäischen Stabilitätsinitiative als Berater entscheidend mitwirkten, war ein guter Plan, seine praktische Umsetzung aber miserabel, so die These des Autors. Das EU – Türkei – Abkommens (offiziell „Erklärung EU-Türkei“) ging davon aus, dass sich die türkische Republik durch entsprechende Angebote (EU-Gelder für die Versorgung der syrischen Geflüchteten in der Türkei, Aufhebung der Visumspflicht zur Einreise von türkischen Bürger*innen in die EU, direkte Übernahme von Kontingenten Geflüchteter aus der Türkei) für eine längerfristige Kooperation mit der EU gewinnen lasse. Das Abkommen scheiterte nach Meinung von Knaus daran, dass von Anfang an weder auf seiten der verantwortlichen Akteure der EU noch der griechischen Asylbehörde eine Bereitschaft erkennbar war, die notwendigen Strukturen für die Umsetzung des Abkommens zu schaffen. So gab es nach Abschluss des Abkommens „in der Europäischen Kommission, in Athen, aber auch in Berlin“ (S. 191) „wenig konkret Vorbereitungen“ die notwendigen Ressourcen für die Beschleunigung der Asylverfahren auf den ägäischen Inseln bereitzustellen. Auch die anderen Elemente der Vereinbarung wurden von der EU-Kommission nicht zu einer „europäischen Priorität“ (S. 199) gemacht. Zwar sei das Versprechen einer finanziellen Unterstützung der Türkei für die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten in der Türkei eingehalten worden, nicht aber die Zusage, Kontingente von Flüchtlingen aus der Türkei zu übernehmen und auf die „willigen“ europäischen Staaten zu verteilen. Das „tragische Scheitern“ (Knaus) des sog. Türkei – Deals, der Anfang diesen Jahres von Erdogan aufgekündigt wurde, hat Folgen: für Knaus gerät die Lage auf den ostägäischen Inseln zunehmend außer Kontrolle und ,wenn nichts geschieht, könnte das griechische Grenzregime als „europäisches Nauru“ in die Geschichte eingehen (so Knaus in seiner Anspielung auf die berüchtigten Internierungslager der australischen Regierung auf einer pazifischen Insel außerhalb des australischen Hoheitsgebiets).
  • Afrikanische Lösungen (S. 200 ff.). Gegenüber den „apokalyptische Migrationsmythen“, die, wie etwa Zygmunt Bauman, das Schreckbild einer unaufhaltsamen Migration verbreiten und so (ungewollt) eine konservativer Sicht bestärken, dass eine Abschreckungspolitik an den EU-Außengrenzen unausweichlich sei, versucht Knaus in diesem Kapitel die realen Ausmaße und Gründe für die Fluchtwelle aus Afrika darzulegen und Handlungsalternativen aufzuzeigen. Knaus fordert einen neuen „Abschieberealismus“ in der Asylpolitik, der nur in der Kooperation mit afrikanischen Staaten verwirklicht werden kann. Am Beispiel Marokkos (Marokko als Partner) skizziert er mögliche Angebote an Ausbildungshilfen und legalen Einreiseerleichterungen, die mittels Kooperationsverträge afrikanische Staaten dazu bewegen sollen, abgelehnte Asylbewerber wiederaufzunehmen.
  • Europa als Leuchtturm (S. 250 ff.). Die Interessen einer humanitären Supermacht (S. 284 ff.). Zum Schluss erinnert der Autor an die Motive der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Die humanitären Verpflichtungen, die dort formuliert wurden, entstanden „unter dem Endruck der katastrophalen Behandlung von Flüchtlingen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg“ (S. 287). Knaus wünscht sich, dass Europa auch heute weiter daran arbeitet, „ein Leuchtturm für eine humanitäre Flüchtlingspolitik“ (S. 287) zu werden, die mit „schnellen, fairen Asylverfahren“ und einer auf Kooperation angelegten „Migrationsdiplomatie“ anderen Weltregionen als Vorbild dienen könnte.

 

  • Epilog: Meine Welt von gestern (S. 288 ff.). In seinem „Epilog“ dem Titel „Meine Welt von gestern“ beschreibt der Autor zentrale lebensgeschichtliche Motive, die sein Engagement für eine humanitäre Flüchtlingspolitik erklären. Er erinnert an die Spuren von Vertreibung und Gewalt in der eigenen Familiengeschichte. Die Mutter des Autors wird 1944 in Berlin als staatenlosen Kind einer Sowjetbürgerin geboren. Seine Großmutter wird kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs von Rotarmisten in Berlin erschossen. Die Mutter kommt als Waise bei österreichischen Bergbauern in Vorarlberg unter, die das Kind später adoptieren. Knaus selbst ist 1970 in Salzburg geboren und im friedlichen Wien des Kalten Krieges aufgewachsen. Die Ereignisse des Epochenjahrs 1989 lösen nach eigenem Bekunden bei ihm zunächst euphorisches Gefühle aus: er teilt die Hoffnung vieler, dass Europa nach der Überwindung des „Eisernen Vorhangs“zu einem „Kontinent der Menschenrechte“ (S. 293) wird. Mit der „romantische(n) Idee von Mitteleuropa im Kopf und berauscht von der sanften Revolution“ (S. 290) in Prag reist er 1989 als Student nach Bratislava und dann weiter ins ehemalige Jugoslawien. Dort erlebt er, wie aus dem Traum ein Albtraum wird: Mit dem Krieg, der allein in Bosnien und Herzegowina 100 000 Tote forderte, verbreitet sich auf dem Balkan der Virus des völkischen Nationalismus.

Diskussion

  • In seinem Rückblick auf die Umsetzung des von ihm initiierten „Merkel-Plans“ kritisiert Knaus die fehlende Bereitschaft der Regierung in Berlin, aber auch der griechischen Behörden und der EU – Kommission“ (S. 191), die praktische Umsetzung in der Vereinbarungen mit der Türkei voranzutreiben. Vielleicht hat das auch tieferliegende Gründe, denn es gab und gibt größere Vorbehalte gegenüber seinem migrationspolitischen Ansatz einer „humanen Grenze“, als er sich das selbst in diesem Buch eingestehen möchte. Er unterschätzt möglicherweise die verbreitete Befürchtungen in Berlin und innerhalb der „Koalition der Willigen“ in der EU, dass die Anwendung humanitärer Prinzipien der Genfer Konvention erst recht Wanderungsbewegungen nach Europa und insbesondere nach Deutschland auslösen könnten; von der Angst kulturkonservativer Kreise vor unerwünschten Langzeitfolgen durch eine „erzwungene“ interkulturelle Öffnung der Gesellschaft einmal ganz abgesehen (siehe dazu auch das jüngst erschienene Buch des Berliner Historikers Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart, Berlin 2020). Das fortdauernde Regime der Abschreckung auf den ägäischen Inseln, das Knaus zu recht kritisiert, wird von der Regierung in Berlin deshalb weiterhin billigend hingenommen.
  • Was die Vorschläge für eine „Neuansiedlungen und Patenschaft“ für Geflüchtete angeht, fehlen tiefergehende Überlegungen zur Ausgestaltung der Staatsbürgerschaft. Das betrifft sowohl die Ausgestaltung der doppelten Staatsbürgerschaft, wie auch konkrete Überlegungen zur Erleichterungen der Einbürgerung, wie sie von Knaus gefordert werden.
  • Knaus kritisiert verschiedentlich die Haltung von Nichtregierungsorganisationen (NGO's) wie „Pro Asyl“ (etwa zur EU – Türkei – Erklärung S. 197), weil sie das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ generell ablehnen, das mit der Grundgesetzänderung von 1993 eingeführt wurde. Dass „Pro Asyl“ 2016 auch den Vorschlag kritisiert hat, Staaten auf dem Westbalkan wie Albanien und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten anzuerkennen, hält er für falsch (siehe zu diesen Meinungsdifferenzen in der Westbalkan – Frage S. 152 f.). Knaus fragt in seinem Buch, ob eine solche Position der Menschenrechtsorganisation nicht kontraproduktiv sei, wenn man doch mit der Zustimmung für Menschen aus Montenegro Visaerleichterungen und einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt erreicht habe (vgl. S. 152). Umgekehrt könnte man zurückfragen, warum Organisationen wie „Pro Asyl“ ihre Politik an den Zwänge eines Regierungshandelns ausrichten und sich zweifelhaften politischen Kompromissen anschließen sollten, die ihre Glaubwürdigkeit beschädigen.

Fazit

Das Buch ist ein eindringlicher Appell an die verantwortlichen Akteure der deutschen Politik den „permanenten Gesetzesbruch“ (S. 8) an den EU-Außengrenzen zu beenden und eine humane Behandlung der Geflüchteten durchzusetzen. Knaus ist optimistisch, dass sich ein Großteil der Bürger*innen überzeugen lässt, geflüchteten Menschen in Not zu helfen und Grenzen durchlässig zu machen, wenn sie das Gefühl haben, dass der Staat die Kontrolle über die Regeln der Zuwanderung behält. Mit einer mutigen Politik, die die humanitären Schutzverpflichtungen Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die Sicherheitsbedürfnisse der einheimischen Bevölkerung ernst nimmt, könnte das nach Ansicht des Autors auch an den Außengrenzen der EU gelingen.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 32 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 27.11.2020 zu: Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst - Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper Verlag GmbH (München) 2020. ISBN 978-3-492-05988-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27622.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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