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Alexander Demandt: Grenzen

Rezensiert von Peter Flick, 15.12.2020

Cover Alexander Demandt: Grenzen ISBN 978-3-549-07498-5

Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart. Propyläen Verlag (Berlin) 2020. 656 Seiten. ISBN 978-3-549-07498-5. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 27,50 sFr.

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Thema

Der Traum von einer Zeitenwende, die uns ein friedliches und prosperierendes Europa in einer „grenzenlose Welt“ (Demandt, S. 547) bescheren sollte, ist ausgeträumt. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ kehrt in Ost und West die Sehnsucht nach klaren Grenzen und festen Identitäten zurück. In seinem neuen Buch „Grenzen. Geschichte und Gegenwart“ will der Berliner Althistoriker Alexander Demandt zeigen, dass das Bedürfnis nach stabilen territorialen Grenzen die Selbstbehauptung durch Machtausdehnung zur Conditio humana gehören. Der Wille zur Machtexpansion und damit zu Grenzveränderungen sei schlicht eine „Konstante, wie in der Biologie, so in der Politik und in der Wirtschaft“ (vgl. S. 375). Von den Hochkulturen des Alten Orient bis in die Gegenwart haben sich die Grenzregime den veränderten Machtkonstellationen angepasst. Das beginnt in den frühesten Kulturen der Menschheit, die das Eigene vor dem Fremden schützen, und geht dann weiter mit den Machtexpansionen der Reiche im Mittelalter bis zum modernen Imperialismus und zur totalitären Großraumpolitik des Nationalsozialismus, der unser Denken über Grenzen und Grenzüberschreitungen in besonderer Weise geprägt hat.

Autor und Entstehungshintergrund

Der 1937 in Marburg geborene Alexander Demandt ist ein anerkannter Historiker auf dem Gebiet der Spätantike. Er lehrte von 1974 bis 2005 an der Freien Universität in Berlin und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Der Emeritus Demandt gehört zum Präsidium der 2017 gegründeten internationalen „Oswald Spengler Society“. Aus der Reihe seiner zahlreichen Buchveröffentlichungen seien nur drei der zuletzt erschienenen Werke genannt: „Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt“ (2018), „Magistra Vitae. Essays zum Lehrgehalt der Geschichte“ (2020) und „Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike“ (2020). Das vorliegende Buch bezeichnet der Autor als „Alterswerk“ (S. 10). Es stützt sich auf Vorarbeiten zu Vorlesungen im Winter 1987/88 an der FU Berlin, eine Zeit, in der „eine große Grenzveränderung in der Luft lag“ (S. 10).

Aufbau und Inhalt

In der Vorrede hält Demandt das „Wesen“ der Grenze fest: „Alte Grenzen öffnen sich, neu Grenzen schließen sich. Grenzen garantieren Frieden und motivieren Kriege.“ (S. 9). Ihr ambivalenter Charakter (die fortlaufende Öffnung und Schließung) werde heute nicht mehr einfach nur hingenommen. Heute gehe es nicht mehr nur darum zu fragen „Wo liegen die Grenzen?“, heute lautet sie: „Wie sehen sie aus?“ (vgl. S. 9). Durch historische Vergleiche sollen „Urteilsmaßstäbe“(S. 9) für die Beantwortung der Frage gefunden werden.

Teil I „Grenze als Grundkategorie“ – Unterschiedlichen Perspektiven zum Thema.

Darin geht es zunächst um die semantischen Verschiebungen des Begriffs; der je nach dem sprachlichen Kontext „Raum- und Zeitgrenzen“, „kosmischen Grenzen“, wie sie in Mythen und den modernen Naturwissenschaften erörtert werden, oder „sachliche Grenzen“ meint, wie sie Moral- und Rechtstheorie oder auch die Wirtschafts-, Geschichts- und Naturwissenschaften definieren. Die politischen Theorie lehrt seit Aristoteles und Platon „Selbstbeschränkung“ als Anleitung zu einem sinnvollen Leben. Das „rechte Maß“ soll nicht überschritten werden (vgl. S. 130). Diese Einsicht gelte auch in der „moderne Gesellschaft“, die das „rechte Maß“ zwischen „fortschreitender Liberalisierung“ (S. 134) und ausufernder „Staatsfürsorge“ finden müsse („Muss der mündige Bürger immer bemuttert werden?“, S. 135). Insgesamt äußert der Autor seine generelle Skepsis gegenüber Versuchen, das „Verhalten in der Gesellschaft nach dem Ideal der Gerechtigkeit“ (S. 136) auszurichten. Es gebe „seit Platon, Cicero und dem Corpus Juris“ (S. 136) zwar das Prinzip „Jedem das Seine“, aber was das jeweils Seine ist, das müsse ausgehandelt oder erkämpft werden. Das Recht könne es dabei „nicht jedem recht machen“ (S. 136), d.h. der im Rechtsstreit Unterlegene hat das geltende Recht zu akzeptieren, „ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist.“ (S. 136). Wo Juristen und politische Theoretiker im Rahmen des Völkerrechts über gerechte und ungerechte Grenzen oder gar die Legitimität von Systemen, Staaten oder Grenzregimen streiten, da bescheiden sich Historiker*innen mit der Einsicht, dass gerechte Grenzen „eine Frage der Macht, der Zeit, der Gewohnheit“ (vgl. S. 140) bleiben. Sie beschränken sich auf die Feststellung von Asymmetrien von Macht und damit verbundenen „unterschiedlichen Werturteil(e), historischen oder philosophischen Menschenbild(er) und politischen und ökonomischen Interessenlage(n).“ (S. 143).

Teil II „Der alte Orient“ – Gott ist der Erfinder der Grenze.

Die Geschichte der Grenzbildungen geht im Längsschnitt durch die Zeiten und Epochen des „alten Orients“. Es beginnt mit dem antiken Judentum (A.Die Juden) und dem biblischen Schöpfungsbericht aus der Zeit nach dem Babylonischen Exil (um 500 n.Chr.). Der biblische Mythos verkündet, dass „Gott selbst (..) der Erfinder der Grenze“ (S. 167) sei. Die Cherubim schützen als „bewaffnete Wächter“ (S. 168) bekanntlich die Grenzen des Paradieses. Sie tragen Schwerter in ihren Händen und keine Palmwedel, um Adam und Eva der Rückweg zu versperren. Demandt betont sodann die Bedeutung der Landnahmen, die in den Erzählungen des Alten Testaments einen großen Raum einnehmen (u.a. die biblischen Legenden der Patriarchenzeit, die Schilderung des Auszugs aus Ägypten und nicht zuletzt die Eroberungen Davids). Die Grenzen hat Gott bestimmt, aber auf Geheiß dieses strafenden Gottes werden sie oft gewaltsam wieder verändert. Danach folgt ein Kapitel „B. Babylonien und Syrien“, in dem es über die Grenzen der Großreiche und frühen Stadtkulturen geht. Es folgen weitere Kapitel über die persischen Großreiche (C. Die Perser) und ihre wechselvolle Kriegsgeschichte, über „D. Karthago“ (die Stadtgründung und ihre Grenzen an den Küsten). Im Kapitel „E. China“ wird die Geschichte der Chinesische Mauer, des „größten Bauwerks der Menschheit“ (S. 198 ff.), beschrieben, vom Baubeginn als Erdwall im Jahre 214 v.Chr. über den Ausbau in der Ming-Zeit bis hin zu ihrem Verfall. Zum andern erinnert Demandt an die Geografen Sven Hedin und Ferdinand von Richthofen die den Ausbau der Handelswege nach Europa zuerst propagiert hätten (sie sollten eine Art„Blaupause“ für das 2013 verkündete Großprojekt der chinesischen Regierung „One Belt, One Road“ darstellen). Demandt erinnert dann an die Figur des Laotse, neben Konfuzius derzweite großen Denker Chinas im 6. Jahrhundert v.Chr., und seinen Appell an die Bereitschaft zur „Einfachheit und Genügsamkeit, kurz Selbstbegrenzung“ (S. 203).

Teil III „Die Griechen“ – Die Suche nach den Grenzen der Welt.

Alles, was wir über Macht (und Ohnmacht) in der Politik wissen, so der Autor, verdanken wir den Griechen. Demandt streift in „A. Grenzen in der Dichtung“ (S. 208 ff.) zunächst das etatistische Denken Platons, insbesondere in seinem Spätwerk „Nomoi“ (es geht um die ideale Stadt der Magneten auf Kreta mit genau definierten Eigentumsgrenzen, S. 211 ff.) und die Einsichten des antiken Dichtung in den tragischen Charakter der Geschichte. Er sondiert anschließend die Grenzen des privaten und öffentlichen Raums („B. Privat-und Stadtgrenzen“), auch die „sakralen Grenzen“, die Tempelareale und geschützten Bezirke des Asyls („C. Sakrale Grenzen“). Beide Gebiete sind strikt von den profanen Lebensbereichen abgetrennt (S. 217 ff.). Was die territorialen Grenzen angeht, waren die Griechen durchaus flexibel. Als sie im Krieg gegen die Perser zurückweichen mussten, verfrachteten die Athener im Jahr 480 einen Großteil der Stadtbevölkerung kurzerhand „auf ihre Schiffe“ (vgl. S. 212). In den Grenzkonflikten während des Peloponnesischen Krieges versuchte man zwar Kämpfe durch „Schiedsgerichte“ und „Friedensverträge“ zu beenden (siehe „D. Landesgrenzen“, vgl. S. 217). Aber eine Hegemonialmacht wie Sparta wäre ebenso wenig wie später die Römer auf die Idee gekommen, sich dabei einem Urteil neutraler Schlichter zu beugen, zumal wenn sie keine gleichberechtigte Macht darstellt: „Der Starke bestimmt selbst, was Recht ist, und unterwirft sich fremdem Urteil nicht.“ (S. 228).Den Griechen verdanken wie erste Karten von den damals bekannten Erdteilen, den Ozeanen und den Grenzvölkern am Rande der bewohnten Welt („E. Erdteile“). Den Abschluss bildet das Kapitel „F. Alexander und die Grenzen der Welt“ (S. 239 ff.). Alexander der Große, den sein militärischen Expeditionen in alle Himmelsrichtungen der damals bekannten Welt führte, erkundete sogar den Meeresboden, um danach ernüchtert festzustellen, dass es „dort (..) im Meer“ genauso zugehe „wie auf der Erde: die großen Fische fräßen die kleinen.“ (S. 250).

Teil IV „Rom- Der Untergang Roms.

Teil IV ist in Kapitel „A. Die Reichsgrenze“ und „B. Die römischen Binnengrenzen“ unterteilt. Für das antike Rom wird der mit dem Territorialprinzip verbundene Begriff der Grenze grundlegend. Das zeige sich schon darin, dass „die legitime Herrschaft (..) an den Besitz der Hauptstadt gebunden“ war (S. 319). Den Römern verdanken wir juristische Begriffe, die begrenzte Gebiete (res publica“ und „imperium“, „provincia“ und „status) definieren, und eine Jurisprudenz, die über die daran geknüpften Rechte reflektiert. Kapitel A ist eine detaillierte Schilderung der Außen- oder Reichsgrenzen, insbesondere der Rheingrenze und des Limes, aber auch der Donaugrenze, der Hadriansmauer, der Grenzen im Nahen Osten und in Nordafrika. Insbesondere der Limes, der als geschlossene Grenze eine „Wohlstands und Zivilisationsbarriere“ des römischen Vielvölkerstaates markierte, war „etwas Neues“( vgl. S. 253). Er wird nach Demandt zur „Schicksalsgrenze“. Denn solange diese neue Grenze halbwegs funktionierte, hatte das Römische Reich Bestand. Die „Barbaren“ übten Druck auf die Grenzen aus, aber entscheidend für den Untergang Roms war die eigene Selbstüberschätzung. Die aus der Machtexpansion resultierenden lang gedehnten Grenzen waren schwer zu kontrollieren. Die fortlaufende Expansion Roms während der republikanischen Zeit und darüber hinaus nährte Vergils Vorstellung eines „imperium sine fine“ (S. 261), „einer unbegrenzten Weltherrschaft Roms, ohne räumliche und zeitliche Grenzen“ (S. 262). Dagegen wendeten sich dann Seneca und Augustinus (vgl. S. 260). Augustinus stellte nüchtern fest, dass es neben den Zeiten der Expansion immer schon Zeiten gab, in denen die römische Herrscher mehrfach Grenzen zurücknehmen mussten. Er sollte Recht behalten: „Als das Reich im 5. Jahrhundert keine sicheren räumlichen Grenzen mehr hatte, war seine zeitliche Grenze erreicht.“ (S. 261). Als man die Reichsgrenzen nicht mehr überall effektiv verteidigen konnte und die aus germanischen Völkern rekrutierten Offiziere und ihre Grenztruppen nicht mehr an den Fortbestand des römischen Systems glaubten, war es dann um das Reich geschehen. Kapitel „B. Die römischen Binnengrenzen“ (S. 291 ff.) zeigt, wie im Inneren Stadtregionen, Zoll- und Rechtsbezirken und Provinzen fortbestehen und sich römische Rechtsvorstellungen auch in der Zeit der Völkerwanderung behaupten.

Teil V „Germanen und Mittelalter“ (S. 320) – Die Entstehung der mittelalterlichen Reiche und seine Länder.

Die frühen Germanen, insbesondere die ostgermanischen Stämme, die durch den „Gefolgschaftsgedanken“ zusammengehalten wurden, fanden feste Formen ihres Gemeinwesens „erst auf römischen Boden in römischer Tradition.“ (S. 319). Kapitel „A. Frühe Germanen“ (S. 320 ff.) schildert die Grenz- und Eigentumsbegriffe der Germanen bis in die Zeit der Völkerwanderung hinein und ihre spätere Idealisierung als Formen des „Urkommunismus“ (Friedrich Engels). Nachdem die Außengrenzen durch die Völkerwanderung ihre Bedeutung verloren hatten, „blieben die Provinzen, >civitates<, und Privatgüter wenigstens teilweise in Geltung. Erstere bildeten die Grundlagen der Kirchenorganisation, letztere wechselten nur die Besitzer.“ (S. 331). Kapitel „B. Mitteleuropa“ schildert den Aufstieg der Merowinger und der Langobarden und die Entstehung des Reichs Karls des Großen. Nach dessen Zerfall entwickeln sich entlang der Reiche neue nationale und regionale Identitäten (vgl. dazu die Abschnitte „Deutsch – französische Grenze“, S. 343, und „Sprachgrenzen“, S. 346 ff., sowie „Das Reich und die Länder“, S. 348 ff.). Des weiteren untersucht der Autor auch die neuen europäischen „Stadtgrenzen“ (S. 367 ff.). Eine eigene Geschichte der Ausgrenzung stellt die „Ghettobildung“ dar, die die jüdische Wohnbevölkerung der Städte diskriminierenden Bestimmungen unterwarf (S. 370 f.).

Teil VI „Die Neuzeit“ (S. 375 ff.) – Der Nationalstaat und seine imperiale Ausbreitung.

Teil IV „Neuzeit“ erstreckt sich in zeitlicher Hinsicht von der der Entdeckung der Seewege im 15. Jahrhundert über die weitere Ausbildung der territorialen Nationalstaaten in Europa bis hin zum europäischen Kolonialismus im späten 19. Jahrhundert. Die von ihm beschriebenen Phänomene der Machtausdehnung insbesondere der europäischen Staaten (Kapitel A „Gesamteuropa“) erklärt Demandt mit dem Hinweis darauf, dass der „Expansionsdrang“ eine „Konstante wie in der Biologie, so in der Politik und in der Wirtschaft.“ (S. 375) sei. Sie ist schlicht Ausdruck eines „allgemeinmenschlichen »Mehrhabenwollen«“ (Paulus) oder einer „pleonaxia“, wie Thukydides den Machttrieb nannte (S. 375). Und so beschränken sich dann auch die folgenden Kapitel auf eine lakonische Nacherzählung des Expansionsdrangs der europäischen Staaten: die Geschichte der nationalen Einigungskriege Deutschlands und Italiens in „Mitteleuropa“ (Kapitel B), die Gebietserweiterungen des russischen Zarismus nach Osten sowie gleichzeitig stattfindenden Staatenbildungen in Osteuropa von 1815 bis 1915 (Kapitel C) sowie die Geschichte des europäischen Kolonialismus in „Asien“ (Kapitel D) und in „E. Übersee“ (Lateinamerika, Nordamerika, Afrika, Antarktis). Insbesondere die Machtexpansionen auf der südlichen Welthalbkugel werden mit kühler Objektivität als „flächige Kolonialisierung Afrikas“ (S. 451) geschildert, in der sich die europäischen Kolonialmächte „die besten Batzen sicherten“ (S. 453). Was die englische, deutsche, französische Kolonialpolitik miteinander gemeinsam haben, war ein zivilisatorisches Missionsbewusstsein. Demandt zitiert dazuein Ausspruch König Leopolds II. von Belgien, der 1876 im Blick auf die belgische Kolonialpolitik von einem „Kreuzzug im Namen des Jahrhunderts des Fortschritts“ sprach (S. 499). Für Demandt sind die in Afrika entstandenen Staatsgrenzen Produkte moralisch fragwürdiger Landnahmen (vgl. S. 449). Auch die deutschen Kolonialerwerbungen eines Dr. Carl Peters, der die „ungleichen Abtretungsverträge mit örtlichen Häuptlingen geschlossen“ (S. 455) und mit „Blutsbrüderschaft“ besiegelt hat. Aber die Verbrechen der deutsche Kolonialmacht in Deutsch-Südwest (der Genozid an den Herero und Nama) finden ebenso wenig Erwähnung wie die Tatsache, dass in Belgisch – Kongo, das sich zwischen 1885 bis 1908 im Privatbesitz des Königs befand, schätzungsweise bis zu 10 Millionen Kongolesen ermordet wurden oder an den Folgen der brutalen Ausbeutung durch die belgischen Kolonialherren starben. Die Aufteilung der Welt greift auch auf „Meer und Luftraum“ über (Kapitel F, S. 460 ff.). Der Wettlauf der Kolonialmächte, der im 17. Jahrhundert begann, war dann vor dem 1. Weltkrieg bereits im Wesentlichen abgeschlossen.

Teil VII „Kriegs-und Nachkriegszeit“ (S. 473 ff.)

In diesem Teil geht es um die Ziele und das Scheitern der totalitären Großraumpolitik im Zweiten Weltkrieg („A. Die Kriegsmächte“, S. 474 ff.) und speziell um Hitlers europäische und weltpolitische Ziele („B. Hitlers Großraumvision“, S. 475 ff.). Nach einer kurzen Darstellung der japanischen Kriegspolitik, die auf die Schaffung einer „ostasiatischen Wohlstandssphäre“ (S. 474 f.) zielte, folgt eine in Wortwahl und Inhalt befremdliche Beschreibung der „Annexion der Tschechei“ (S. 475) und des „Kriegs gegen die Sowjets“ (S. 476) mit dem Ziel neuen „Lebensraum im Osten“ zu schaffen (S. 476). Die Darstellung bagatellisiert die neue Dimension dieses „Vernichtungskriegs“, der 12 Millionen tote sowjetische Soldatinnen und Soldaten forderte. Es bleibt rätselhaft, wie man von den ethnischen Umsiedlungen des NS-Regimes sprechen kann, ohne die Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung deutlich zu machen, die in der Vernichtung des europäischen Judentums gipfelten. Dagegen werden die ideologischen Ziele der neuen NS-Großraumpolitik von Demandt ausführlich im Rekurs auf die geopolitische Theorie Carl Schmitt dargelegt, dessen genuin faschistische Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung“ von 1941 mit dem Blick auf die Expansion des Deutschen Reichs nach Osteuropa geschrieben wurde. Für Demandt nennt Schmitts „Großraumtheorie“ (das kann sich eigentlich nur auf die nach dem Krieg eilig entnazifiziert Version dieser Theorie beziehen) eine Theorie „vom begrenzen Imperialismus“ (S. 479). Demandt bewertet das Konzept Schmitts als eine Mischung aus „Hellsicht, Größenwahn und Zynismus“ (S. 479). Die „Hellsicht“ betrifft (im Blick auf die Gegenwart) die weiterhin „im Gang befindliche Aufteilung der Erde durch die epochale und globale Tendenz zur grenzübergreifenden Raumkontrolle.“(S. 479). In der Vergangenheit erstreckte sich das auf „Landgewinn“. Im klassischen Imperialismus des bürgerlichen Zeitalters war das Ziel die Annexion der Herkunftsländer „begehrter Kolonialwaren“, während es im 20. Jahrhundert um „Rohstoffquellen“ ging. Heute richte sich dagegen der politische Kampf auf die Aufteilung von „Einflusszonen“, wobei die neuen Hegemonialmächte mitsamt den „militärisch ein- und angebundenen Staaten“ (S. 479 f., vgl. auch S. 546) bestimmend seien. Schmitts „Größenwahn“ besteht für Demandt darin, dass er „Deutschland eine politische Führungsrolle in Großeuropa zutraute“ (S. 480). Zynisch nennt er Formulierungen Schmitts, die die „rücksichtslos selbstbestimmte Lebensinteressen“ bemänteln und damit Angriffskriege rechtfertigen wollen (S. 480).

Im Kapitel „B. Die Kriegsfolgen“ (S. 481 ff.) schreibt der Autor über die politischen Folgen des 2. Weltkriegs, die Teilung Europas in der Epoche des „Kalten Kriegs“ und die Berliner Mauer, wobei auch Fluchtgeschichten erzählt werden, u.a. vom „Kriechtunnel unter den Mauern“ (S. 504), für den Autor ein Beispiel einer erfolgreiche „Kaninchentaktik der Grenzüberwindung“ (S. 504), die der russische Anarchist Michail Bakunin erfunden haben soll. Aber auch Humoriges soll die Erzählung auflockern, wie der Witz über den „sächsischen Zöllner“, der den „Westler“ in seiner Mundart auffordert: „Gänsefleisch den Goffer mal aufmachen?“ (S. 505) (ohne Zweifel ein unfreiwilliges Beispiel für den berüchtigten „Wessi-Humor“). Nach einem Überblick über die Grenzprobleme im „Vorderen Orient und Fernen Osten geht es dann im Folgekapitel >C. Die Auflösung der Sowjetunion< (S. 525 ff.) um die neue Staatsbildung in Osteuropa und Nordasien mit ihren >ewigen Unruheherden< wie der Kaukasusregion“ (S. 527).

Im Kapitel „D. Paneuropa“ (S. 531 ff.) untersucht der Autor die Entstehung der Europa – Idee (der Begriff „Paneuropa“, als Vision eines „Europa der Vaterländer“, geht auf die 1923 von Graf Coudenhove-Kalergi initiierte Paneuropa – Bewegung zurück) und ihre Weiterentwicklung von der Gründung der EWG bis zur heutigen Gestalt der Europäischen Union (EU). Bei der Charakterisierung der Europäischen Kommission scheut Demandt nicht vor dem hinlänglich bekannten Stereotyp vom wuchernden „Moloch Brüssel“ (S. 533) zurück. Die „Vorschriften und Verordnungen“ Brüssels würden „die staatlichen Grenzen als Geltungsraum der internen Gesetze und der staatstragenden Verfassung“ (S. 533) in den Mitgliedstaaten herabstufen. Ähnliche Sorgen bereiten ihm die Veränderungen des EU-Grenzregimes durch die Übereinkommen von Schengen und Dublin. Die Außensicherung des Schengen-Raums wird zum Problem. So habe die deutsche Kanzlerin im Sommer der „Flüchtlingskrise“ 2015 die Dublinregelung außer Kraft gesetzt, was für den Autor unter Berufung auf das Urteil des Verfassungsrechtlers Josef Isensee einen klaren „Verstoß gegen Recht und Gesetz“ (S. 536) darstellt. Weiterhin bedrohe die „Ausweitung Unionseuropas nach Asien“ (S. 536) (wie jeder „Expansionismus“ sei er ein „Naturübel“, S. 536) die gemeinsame Handlungsfähigkeit der EU. Werden die Außengrenzen überdehnt,verliert der Staat die Kontrolle über die Sicherung von Staatshoheit, Staatsgebiet und Staatsvolk. Der Traum von „Paneuropa“ könne dann endgültig begraben werden (vgl. S. 537). Auch weltpolitisch betrachtet ist für ihn das „Grundproblem im Grenzdiskurs“ scheinbar unlösbar (S. 538). Angesichts eines ungleichen Wachstums und des „Bevölkerungsrucks“ aus den verarmten Regionen (vgl. auch S. 546) und der „wachsenden Spannungen zwischen Nord und Süd, zwischen armen Ländern und den Industrienationen, wo »Milch und Honig fließen«“ bleibe nur die entschlossene Grenzsicherung). Der Versuch, durch politische Kooperation mit den Nachbarstaaten „humane Grenzregelungen“ durchzusetzen, erscheinen ihm illusorisch (vgl. S. 546; eine Gegenposition dazu formuliert Gerald Knaus: „Welche Grenzen brauchen wir?“, München 2020).

Fazit“ (S. 539 ff.)

Das Machtstreben, so viel steht für den Autor fest, betrifft „Personen, Völker und namentlich Staaten. Sie resultieren aus Expansionsprozessen ursprünglich kleiner Machtzentren, wie wir es vielfältig in der belebten Natur finden.“ (S. 539). Eingedenk der mahnenden Worte Senecas über die „Grenzen der Sterblichen“ gilt es festzuhalten, dass politische Grenzen „Produkte von Geopolitik, von Realpolitik, von Machtpolitik“ bleiben (S. 540). Die liberalen Anhänger in ihrem idealistischen Glauben an „dauerhaft friedliche Grenzen“ vergessen, dass der „ Mensch (..) anders gestrickt“ ist: „Grenzen sind selten Erzeugnisse von Einsicht und Einvernehmen, meistens Ergebnisse von Gewalt, Gewöhnung und Geschäften zwischen Gewaltigen.“ (S. 541). Was nun die Ideale des Völkerrechts und „die der UNO zugrundeliegende Idee von der friedlichen Gemeinschaft gleichberechtigter und dauerhafter Staaten in unantastbaren Grenzen“ (S. 544) angeht, so werde diese Idee täglich „durch die Taktik der vollendeten Tatsachen seitens der »beati possidentes« offen verhöhnt.“ (S. 544). Gemeint sind die Hegemonialmächte USA, Russland und (mit wachsendem Einfluss) China: sie „gehen besitzergreifend voran.“ (S. 544) und führen die UNO am Nasenring durch die politische Arena (vgl. S. 544).Die übrigen Nationalstaaten, deren Zahl zunehme, stünden unter dem „Druck der grenzübergreifenden Verträge (..), der weltweiten Konzerne und Kartelle, der globalpolitischen militärischen Allianzen mit dem atomaren »Knüppel aus dem Sack«.“ (S. 545). Auf den globalen Migrationsdruck lautet die Antwort der Politik bislang nur: „neue Zäune, Gitter und Mauern in aller Welt“ (S. 546). Die bange Frage „Was soll werden?“ bleibt ohne Antwort. Denn da endet die Kompetenz des Berufshistorikers und er „übergibt den Stab dem Politiker“ (S. 546). Aber nicht ohne sie daran zu erinnern, dass in Ausnahmesituationen immer noch der vom Senat der späten römischen Republik ausgesprochene Beschluss Gültigkeit hat: „Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat“; was so viel heißt wie: die Konsuln (sprich die Regierenden) haben darauf zu achten, dass der Staat keinen Schaden nehme (S. 546). In seinem „Nachtrag aus gegebenem Anlass“ (S. 547 ff.) äußert der Autor seine Zweifel, ob die jetzige Regierung diesem Ausnahmesituationen gewachsen sei. Hatte die Regierung in der sog. „Flüchtlingskrise“ aus humanitären Rücksichten zu wenig getan, um Schaden von Staat und Volk abzuwenden, so gehe sie jetzt im Zeichen der Pandemiebekämpfung eindeutig zu weit. Es fehle das „rechte Maß“ und ein Bewusstsein für „die Grenze des Vernünftigen.“ (S. 547).

Diskussion

Bei meinen Einwände beschränke ich mich auf Demandts Version einer Theorie der Großräume und seine Darstellung der Rolle der Vereinten Nationen in der Nachkriegszeit.

Das Projekt einer Großraumordnung

In seinen Überlegungen zu den ethischer „Grenzen“ vertraut der Autor zunächst scheinbar ganz auf die Evidenz antiker Weisheitslehren von Aristoteles bis Seneca und Marc Aurel. Die Tugend von „Maß“ und „Mitte“ soll die politischer Vernunft anleiten. Die Wahrheit der Staatengeschichte aber, das entnimmt er der Weisheit der Griechen und der biblischen Propheten, laute schlicht: „»Gewalt geht vor Recht«, auch vor Völkerrecht.“ (S. 543). Die Neuansätze einer normativen politischen Theorie im 20. Jahrhundert zur Weiterentwicklung des Völkerrechts nach 1945 (John Rawls, Robert Nozick, Jürgen Habermas), die (in unterschiedlicher Weise) an den Gerechtigkeitsvorstellungen von Locke, Rousseau und Kant anknüpfen, spielen in seinen Überlegungen zum modernen Völkerrecht keine Rolle. Seine Position sucht Anschluss an das, was er die hellsichtigen Seite der staatsrechtlichen Analysen Carl Schmitts nennt. Schon in seinem Text „Begriff des Politischen“ von 1927 ergießt sich Schmitts ganzer Hohn über die liberalen Völkerrechtler, die „»keine andere Außenpolitik« ausgebildet haben »als Kritik an Übergriffen« und die verkennen, dass alle äußere Politik ihrem Begriff nach ein Übergreifen auf fremdes Terrain ist.“ (Carl Schmitt zitiert nach Patrick Bahners: Die Flugbahn der Monroedoktrin. Carl Schmitts kleine weltpolitische Schriften, „Merkur“ 03/2006). Demandt bevorzugt allerdings die nach dem Krieg von Schmitt vorgelegte entnazifizierte Fassung seiner „ Völkerrechtlichen Großraumordnung“ von 1941. Diese nimmt die Idee der Entstaatlichung des Politischen wieder auf, aber gibt ihr eine andere Wendung, um den verwilderten politischen Energien der Machtexpansion eine autoritäre Form zu geben. In Demandt Buch liest sich das so: „Die Versuche des Völkerrechts in der Nachkriegszeit weltweit eine dauerhafte, friedliche Grenzordnung zu schaffen, versagen gegenüber dem Willen zur Macht, den Nietzsche nicht propagieren musste, da er sich schon als anthropologische Konstante unübersehbar darstellt. Was Recht sein soll (oder nicht sein darf), lehren die Professoren. Was Recht bewirkt (oder nicht bewirkt), ist Sache der Politik.“ (S. 542). Seine weiteren Ausführungen zu dem Thema lassen keine Zweifel, dass Demandt eine kulturalistische Dimension der politischen Großraumtheorie vertritt, da die Dynamik der Macht und Herausbildung kultureller Großräume eine „Revitalisierung des Nationalen (Karl Acham)“ (S. 547) unumgänglich macht, um sich im Kampf um Einflusszonen zu behaupten.

Ohnmächtiges Völkerrecht

Dabei wird die Erinnerung an die „Menschheitsverbrechen“, die den Neuansatz eines Völkerrechts nach 1945 motiviert hat, systematisch ausgeblendet. Friedliche Grenzregelungen seien immer nur zwischen „gleich starken – oder kriegsmüden – Nachbarn zu erwarten“ (S. 543). Die Politik der UNO in der Nachkriegszeit dokumentiere dagegen nur eine Neuauflage und Fortsetzung der Politik der Völkerbundes in den zwanziger Jahren mit seiner „peinliche(n) Ohnmacht des juristischen Scharfsinns und des guten Willens der Völkerrechtler.“ (S. 544). Angesichts dieser Prämissen ist es nicht verwunderlich, dass Demandts Buch zur widersprüchlichen Geschichte des Völkerrechts nur wenig Erhellendes beisteuern kann. Auch wenn man zugesteht, dass der in der UN-Charta proklamierte Universalismus der Menschenrechte immer mit der Dynamik der Macht interferiert, kann man im Gegensatz zu Demandt der Kraft der in den UN-Charta verankerten Rechtsgrundsätze durchaus eine eigene Logik und Wirksamkeit zubilligen. So gibt es zunächst drei folgenreiche Innovationen des Völkerrechts von 1945 und 1948, die weit über den Stand von 1919 und 1928 hinweisen und eine Zäsur in der Geschichte des Völkerrechts darstellen: erstens, die in der Präambel der UN – Charta festgehaltene Bindung des politischen Ziels von Weltfrieden und innerer Sicherheit an die Achtung vor den Menschenrechten; zweitens, die Aufhebung des Prinzips der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten, wenn es zu Verstößen gegen das generelle Gewaltverbot kommt; drittens, die Internationalisierung des Strafrechts, die mit den Nürnberger und Tokioter Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher angestoßen wird. Trotz aller Rückschläge in der Zeit des „Kalten Krieges“ und insbesondere in den Kriegen der 90er Jahren und im Irak-Krieg von 2003 sowie der Reformbedürftigkeit der UNO stellen sie eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einem konstitutionellen Völkerrecht dar.

Fazit

Alexander Demandts legt mit seinem Buch eine enzyklopädisch angelegte Weltgeschichte der Staatengrenzen vor. Nur selten wechselt er dabei aus der Perspektive der „großen“ Staatengeschichte in die der Geflüchteten und Vertriebenen. Offensichtlich fasziniert den Autor die Geschichte der Hegemonialmächte mehr als die „kleinen“ Geschichte der „Grenzüberschreitungen in die Freiheit“ (Jürgen Osterhammel). Das Auf und Ab geopolitischer Machtausdehnungen gehört für Demandt zum undurchdringlichen, irrationalen Kern der Menschheitsgeschichte, an der sich auch in Zukunft die liberalen Theoretiker des Völkerrechts ihre Zähne ausbeißen werden. Angesichts der Tendenz zur Entstaatlichung der Politik und globaler Verteilungskämpfe um Wohlstand geht es für Demandt in Zukunft um die Sicherung kultureller Großräume. Dabei ist die demokratische Vertiefung der europäischen Staatlichkeit und die Weiterentwicklung zu einem konstitutionellen Völkerrecht für ihn keine realistische Option.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 31 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 15.12.2020 zu: Alexander Demandt: Grenzen. Geschichte und Gegenwart. Propyläen Verlag (Berlin) 2020. ISBN 978-3-549-07498-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27623.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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