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Sebastian Lemme: Visualität und Zugehörigkeit

Rezensiert von Dr. Antje Flade, 18.12.2020

Cover Sebastian Lemme: Visualität und Zugehörigkeit ISBN 978-3-8376-5208-6

Sebastian Lemme: Visualität und Zugehörigkeit. Deutsche Selbst- und Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration. transcript (Bielefeld) 2020. 298 Seiten. ISBN 978-3-8376-5208-6. D: 50,00 EUR, A: 50,00 EUR, CH: 61,00 sFr.
Reihe: Postcolonial studies - Band 41.

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Thema

Bilder in der medialen Berichterstattung haben einen erheblichen Einfluss auf die Meinungsbildung. Ausgehend davon untersucht der Autor in seiner Dissertation Bilder als Mittel der Bedeutungsproduktion. Seine Grundfragen sind: Wie werden in Bildern Bedeutungen artikuliert? Durch welche Darstellungsmodi werden Menschen als „Andere“ ins Bild gesetzt und wie werden Vorstellungen von einer Wir-Gemeinschaft erzeugt? In vier Fallstudien, in denen er die bildliche Berichterstattung über Asylanten im Zeitraum zwischen 2006 und 2015 analysiert, wird diesen Fragen nachgegangen.

Autor

Sebastian Lemme ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bild- und Medienanalysen im Zusammenhang mit Rassismus, Rechtextremismus und Migration. 

Inhalt

Das Buch besteht aus vier Teilen, die sich aus insgesamt neun Kapiteln sowie einer Einleitung und Schlussbetrachtung zusammensetzen. 

In der Einleitung nimmt Lemme auf die Situation im Sommer 2015 Bezug, als hunderttausende Flüchtlinge ohne bürokratische Hürden und Kontrollen nach Deutschland gelangen konnten. Es wurde darüber in den Medien ausführlich und insbesondere auch in bildlicher Form berichtet. Die Hilfsbereitschaft der Deutschen, wie sie in den Tages- und Wochenzeitungen dargestellt wurde, war sehr ausgeprägt. Das Anknüpfen an postkoloniale Studien über Selbst- und Fremdbilder ist, wie der Autor ausführt, ein geeigneter Ansatz, den Blick für wiederkehrende Darstellungsmuster und dominante Stereotypisierungen in der medialen Berichterstattung zu schärfen.

Im ersten Teil geht Lemme auf postkoloniale Studien, Critical Whiteness Studies und rassismuskritische Analyseansätze ein. Der zentrale Begriff ist dabei „Othering“, d.h. das Differentmachen. Gruppen werden voneinander abgegrenzt und dadurch Zugehörigkeiten geschaffen. Dem wird das Konzept der kulturellen Hybridität gegenüber gestellt, ein Nebeneinander mit sich ständig verschiebenden Grenzen. Die Kritische Weißseinsforschung in Deutschland macht sich nicht wie in den USA an der Hautfarbe fest; es geht hier nicht um einen schlichten Schwarz-Weiß-Dualismus sondern um Dominanzverhältnisse. Der europäischen bzw. deutschen Wir-Gruppe wird die Gruppe der orientalisierten Anderen gegenüber gestellt. Der auf dem Kolonialismus basierende europäische Rassismus hat sich im Zuge der postkolonialen Migration erneuert.

Im zweiten Teil steigt der Autor dann in das Thema „Visualität“ ein. Die Bildsemiotik fragt danach, was Bilder repräsentieren und welche Bedeutungen sie transportieren. Fotos sind insofern wirkmächtig, als sie als Abbildungen der Wirklichkeit wahrgenommen werden. Zu unterscheiden sind die denotative und die konnotative Bildebene: Die fotografische Botschaft ist konnotiert, wenn sie einen zusätzlichen Sinn einbringt. Konnotationen lassen sich z.B. durch Ausschnitte und Bildunterschriften herstellen. Verschiedene Verfahren der Bildanalyse werden vorgestellt, darunter die Analyse der Komposition der Bildelemente im Hinblick auf Inhalte, Salienz und Framing. Visuelle Informationen sind salienter als verbale Informationen. Lemme schildert dazu eine Reihe empirischer Studien zur Erforschung visueller Frames und Stereotypisierungen. Im Anschluss daran stellt er sein 2-stufiges methodisches Vorgehen dar. Die erste Stufe ist die Analyse von 1131 Fotografien aus verschiedenen Print- und Online Medien im Rahmen der Berichterstattung über Migration, Integration und Flucht zwischen 2006 und 2015. Die zweite Stufe ist eine auf 94 Fotos basierende Feinanalyse zu deutschen Selbst- und Fremdbildern. Im ersten Fallbeispiel geht es um die Diskussion der Integration in deutschen Schulen im Jahr 2006. Das zweite Fallbeispiel befasst mit einer Studie über Integrationsleistungen von Migranten und Migrantinnen aus verschiedenen Herkunftsregionen im Jahr 2009. Im dritten Fallbeispiel wird die sog. Sarrazin-Debatte im Jahr 2010 untersucht. Im vierten Fallbeispiel wird die visuelle Berichterstattung über Migration, Flucht und Asyl im Jahr 2015 betrachtet.

Lemme greift wiederholt auf die von Kress und van Leeuwen konzipierten Methoden zurück. Die dargestellten Personen können die Betrachtenden direkt anblicken, sie können näher oder weiter weg voneinander sein, was etwas über die Enge der sozialen Beziehung aussagt. Ferner kann der vertikale Blickwinkel variieren, von dem es abhängt, wie dominant die dargestellten Personen wirken. Gefragt wird, um welche Themen es geht und wer wie dargestellt wird. Zeichenspezifische Gestaltungsdimensionen sind der Bildaufbau, die Lichtführung, die Schärfeverteilung sowie die Beziehung zwischen Bild und betrachtender Person.

Im dritten Teil wird die fotografische Medienberichterstattung über Migration, Flucht und Integration aus den Jahren 2006, 2008, 2009 und 2015 untersucht. Der Autor greift dabei auf die Software MAXQDa zurück, was er nicht weiter erläutert. Analysiert werden die Art der Personendarstellung sowie die Zuordnung von Zugehörigkeit zu kulturell/​religiösen Gruppen, was sich oftmals an der Darstellung von Frauen mit Kopftuch festmacht. Die beiden Feinanalysen sind untergliedert in Bildinhalte und Darstellung der Personen, textliche Berichterstattung und bildsemiotische Analyse. Inhalte sind Alltagsszenen im öffentlichen Raum, der Bereich Schule und Bildung, der Ausbildungs- und Arbeitsbereich, Zugehörigkeitssymbole, der Islam sowie das Geschehen im Jahr 2015: der Ankunft und Aufnahme der Geflüchteten, Schule, Bildung und Arbeitsbereich sowie der Willkommenskultur.

Im vierten Teil werden die Ergebnisse synoptisch zusammengeführt. Ausgangspunkt sind die zu Beginn behandelten rassismus- und weißseinskritischen Ansätze mit der Leitfrage, wie sich Selbst- und Fremdbilder konstituieren bzw. wie der Dualismus zwischen einer Wir-Gruppe und den Anderen entsteht. Mit der „Musliminierung des Einwanderers“ in Form religiös codierter Kleidung wie Kopftuch und Schleier oder dicht nebeneinander kniender betender Männer wird das Anderssein hervor gehoben. Der Autor spricht vom Prozess des Different Machens. Ein zentrales Feld ist der Bildungs- und Arbeitsbereich. Hier sind die bildlichen Darstellungen weniger distanzierend, vielmehr wird Integration suggeriert. Auf der anderen Seite spricht Lemme aber auch von visuellen Darstellungsmustern, die den Unterschied zwischen den wissenden gebildeten Deutschen und den unwissenden ungebildeten Geflüchteten betonen.

Religiöse Zuschreibungen haben, wie er meint, eine entscheidende Funktion bei der Differenzproduktion inne.

Die Schlussbetrachtung liefert eine knapp gehaltene Zusammenfassung. Der Autor wiederholt, dass viele Bilder in der Berichterstattung eine symbolische Grenzziehung vornehmen, indem sie muslimische Menschen deutlich als die Anderen abbilden. Diese Anderen werden entpersonalisiert und vereinheitlicht. Man vermisst jedoch ein Resümee im Hinblick auf die Tauglichkeit des methodischen Vorgehens, um zu verlässlichen und validen Aussagen über deutsche Selbst- und Fremdbilder zu gelangen.

Diskussion

Das Buch befasst sich mit dem gesellschaftlich relevanten Thema der Migration. In der Berichterstattung darüber spielen Bilder eine wesentliche Rolle. Der Autor holt weit aus, indem er auf die Weisseinsforschung und den Rassismus in den USA verweist. Es fragt sich jedoch, inwieweit Flucht, Migration und Asyl damit vergleichbar sind, denn das Trennende ist die Religion und nicht ein äußeres Merkmal wie die Hautfarbe. 

Für seine 2-stufig angelegte Untersuchung hat der Autor insgesamt 1131 Fotos aus den Jahren 2006, 2009, 2010 und 2015 aus sieben Print- und vier Online Medien ausgewählt. Im zweiten Schritt werden 94 Abbildungen kommentiert. Die ausgewählten Medien teilt Lemme nach deren politischer Ausrichtung entweder als linksliberal oder bürgerlich-konservativ ein. In seiner Analyse kommt er darauf nicht zurück, obwohl es nahe gelegen hätte zu untersuchen, ob sich in der bildlichen Berichterstattung die politische Ausrichtung der Medien widerspiegelt.

Der Autor spricht vom Prozess des Different Machens und suggeriert damit, dass Differenzen grundsätzlich konstruiert werden. Dass es real vorhandene Unterschiede sein können, die das Konstruieren in gang setzen, wird nicht thematisiert.

Phänomene können unterschiedlich gedeutet werden, was je nach Deutungsrahmen zu unterschiedlichen Aussagen führt. So schreibt der Autor, dass die Fotos im Bildungs- und Arbeitsbereich weniger distanzierend sind als in anderen Bereichen, was auf Integration schließen lässt. Auf der anderen Seite spricht er von Bildern im Bildungsbereich, auf denen der Unterschied zwischen den wissenden gebildeten Deutschen und den unwissenden ungebildeten Geflüchteten hervor gehoben wird

Ein Gegenbild zur Kopftuch tragenden Muslimin liefert Abb. 80. Zu sehen ist eine sommerlich leicht gekleidete deutsche lächelnde junge Frau, die sich im Rahmen der Willkommenskultur für die Neuankömmlinge engagiert. Sie ist umgeben von jungen Migranten. Wie nehmen muslimische Männer solche ihren Körper keinesfalls verhüllende Frauen wahr? Diese Frage wird nicht gestellt. Lemme führt nur formale Aspekte an wie die von der Lichtführung und Fokussierung begünstigte zentrale Bildmitte, in der die „weiße“ Helferin platziert ist, was er als Zeichen für eine kollektivierende Grenzziehung zwischen deutsch und nicht deutsch interpretiert. Grenzziehungen werden jedoch von beiden Seiten aus vorgenommen. Spätestens bei Abb. 80 fällt auf, dass der Autor Selbst- und Fremdbilder nur aus der Perspektive der Dominanzgesellschaft untersucht. Das betreffende Foto fordert geradezu dazu auf, auch die Selbst- und Fremdbilder von Muslimen zu betrachten. 

Im neunten Kapitel geht es um die deutsche Dominanzgesellschaft, wobei den leistungsstarken deutschen die leistungsschwachen migrantischen Schulkinder gegenüber gestellt werden. Wie einseitig dieses Darstellung ist, zeigt der Bericht über die Rüthli-Schule in Berlin 2006 im fünften Kapitel, in der Gewalt und Chaos herrschen und die nicht-deutschen Kinder den Lehrerinnen respektlos begegnen, was mitnichten auf eine dominante Position schließen lässt. Diese Diskrepanz bleibt unkommentiert.

Wenn es im Zusammenhang mit den Critical Whiteness Studies heißt, dass den weißen Menschen ihr Weißsein unmarkiert und unsichtbar bleibt, dann kann das auch bedeuten, dass sie dieses Merkmal nicht für hervorhebenswert ansehen. Von Seiten des Autors wird es als color blindness oder Weißseins-Verleugnung bzw. als Abwehrstrategie gedeutet. Andererseits ist der Vorwurf, dass das Sichtbarmachen als Rassifizierung verstanden werden kann. Das Dilemma ist: Eine Hervorhebung von Vielfalt wird positiv konnotiert, doch zugleich wird die Unterscheidung zwischen einer Wir-Gruppe und den Anderen verurteilt.

Fazit

Das Buch ist wichtig. Es sensibilisiert, indem es die Bedeutung der bildlichen Berichterstattung für die Meinungsbildung sichtbar macht und indem es der Frage nachgeht, wie Flüchtlinge und Asylanten auf Fotos als „die Anderen“ dargestellt werden. Bilder können sowohl Zugehörigkeit als auch Grenzziehungen zwischen einer Wir-Gruppe und den anderen ausdrücken. Es werden bildsemiotische Ansätze vorgestellt und eine Fülle an Fotos über Migration, Flucht und Integration im Zeitraum 2006 bis 2015 präsentiert und analysiert. Das Buch regt zu vielen Fragen und damit auch zu weiterer Forschung an. Es ist für alle zu empfehlen, die in der Forschung und Praxis mit Fragen der Migration befasst sind, sowie für diejenigen, die sich für Bildsemiotik und visuelle Kommunikation interessieren. 

Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
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Es gibt 55 Rezensionen von Antje Flade.

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ISSN 2190-9245