Christiane Nevermann, Hannelore Reicher: Depressionen im Kindes- und Jugendalter
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 18.12.2020
Christiane Nevermann, Hannelore Reicher: Depressionen im Kindes- und Jugendalter. Erkennen, Verstehen, Helfen.
Verlag C.H. Beck
(München) 2020.
3., aktualisierte Auflage.
270 Seiten.
ISBN 978-3-406-75744-0.
14,95 EUR.
Reihe: C.H. Beck Paperback - 1440.
Autorinnen
Beide Autorinnen sind langjährig pädagogisch tätig und haben zudem einen klinisch-psychologischen oder heilpädagogischen Hintergrund. Frau Nevermann war viele Jahre Schulpsychologin in Berlin, Frau Reicher lehrt Sozialpädagogik an der Universität Graz.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist erstmalig 2001 erschienen. Für die dritte Auflage haben die Autorinnen eine Aktualisierung vorgenommen.
Inhalt
Das Buch ist in fünf Teilen aufgebaut. Im ersten Teil wird allgemein auf das Phänomen der Depression bei Kindern und Jugendlichen eingegangen. Im Zentrum steht hier die detaillierte Beschreibung in Bezug auf die verschiedenen Altersstufen. Im Einzelnen geht es um die anaklitische Depression, das Vorherrschen von Müdigkeit und Schuldgefühlen im Vorschulalter und die somatische Symptomatik, die sich mit dem zunehmenden Alter ins Psychische verschiebt. Bei den Jugendlichen kommt die Problematik der Abgrenzung zu Pubertätserscheinungen hinzu und die autonomiebetonte Ablehnung von Hilfe.
Teil zwei erläutert Depressionen als klassifizierte Krankheiten, besonders die Depressive Episode, die Dysthymie und die manisch-depressive Erkrankung. Die Depressive Episode ist besonders häufig mit komorbiden Störungen wie Angst, Hyperaktivität, Drogenmissbrauch u.a. verbunden und wird von diesen auch maskiert. Der Abschnitt ‚Zeitalter der Melancholie‘ geht auf die Befunde von Hans-Ullrich Wittchen aus den 1990er Jahren ein, die eine Epidemie depressiver Erkrankungen nahelegten. Die zweite Hälfte des Abschnitts ist dem Thema Suizidalität gewidmet. Risikogruppen werden charakterisiert, Alarmzeichen erläutert und Wege des konkreten Umgangs mit gefährdeten Kindern und Jugendlichen detailliert aufgezeigt. Der Abschluss dieses Teils behandelt dann den Verlauf depressiver Erkrankungen. Auch wenn Depressionen unbehandelt im Mittel nach etwa einem Jahr wieder abklingen, besteht doch ein hohes Risiko für eine Wiedererkrankung und Chronifizierung. Die Erkrankung muss ernstgenommen und behandelt werden, sie wächst sich nicht einfach aus wie die Pubertätsakne.
Teil drei behandelt die Zusammenhänge von Depression und Familie sowie Schule. Für die Familie werden Risikokonstellationen beschrieben. Als solche konnte die Forschung konfliktreiche Familien herausarbeiten, aber auch Familien mit einem niederen Grad an gemeinsamen Unternehmungen, solche, die mehr auf Anforderungen und Bestrafungen als auf Ermutigung und Anerkennung setzen, und solche, die keine warme unterstützende Atmosphäre ausbilden können. Ein sehr hohes Risiko birgt die depressive Erkrankung eines oder beider Elternteile. Die Autorinnen warnen hier aber, wie an vielen weiteren Stellen, davor, nicht zu direkt einen Bedingungsfaktor mit einer konkreten Depressiven Erkrankung zusammen zu schließen. Die Depression wird als multifaktoriell bedingte Erkrankung verstanden.
In der Schule sind Kinder mit depressiven Erkrankungen relativ häufig. Die Autorinnen zitieren Untersuchungen, die unter Regelschulkindern Raten von 4 bis 13 % Betroffene gefunden haben. Die sozialen Anforderungen der Schule stehen im Widerspruch zu den Rückzugstendenzen und sozialen Defiziten von Schüler*innen mit depressiver Symptomatik. Die Leistungssituation mit den in der Schule normalen Leistungsvergleichen wird von Erkrankten vermieden, eine negative Spiralentwicklung von Rückzug und Kompetenzdefiziten ist zu erwarten. Nevermann und Reicher zitieren Belege, nach denen die Mehrzahl Schüler*innen mit depressiver Symptomatik unbemerkt bleibt. Das Wissen von Lehrer*innen in diesem Bereich ist lückenhaft, sie konzentrieren sich verständlicherweise auf die Beobachtung von Störverhalten. Um hier Abhilfe zu schaffen, stellen die Autorinnen eine Liste von über 30 Merkmalen eines depressiven Zustandes zusammen. Sie fordern Lehrer*innen auf, bei der Arbeit mit dieser Liste auch Intensität, Häufigkeit und Dauer der Merkmale einzuschätzen. Sie beschreiben das Konzept der Schuldepression des Kinderpsychiaters Nissen und gehen auf Zusammenhänge mit Mobbing und die offene wie die verdeckte Schulverweigerung ein. Trotz der differenzierten Ausführungen zur Diagnostik sehen die Autorinnen prinzipiell nur eine begrenzte Möglichkeit, in der Schule „auf besondere psychische Befindlichkeiten von Schülerinnen und Schülern auch in besonderer Weise einzugehen“ (S. 142). Sie entwickeln aber eine Reihe von Empfehlungen, die hier helfen sollen. Im Mittelpunkt stehen vor allem eine schülerzentrierte Pädagogik und ein breiterer Wissensstand zum Thema der Depression.
In Teil 4 wird das Erklärungswissen zum Thema behandelt. Ein erster Abschnitt behandelt lebensweltliche Faktoren wie Gewalt gegen Kinder oder die Rolle des Medienkonsumverhaltens. Den Hauptteil bildet dann ein Überblick über die psychologischen Theorien der Depressionsentstehung. Der Schwerpunkt liegt bei den Lerntheorien. Hier werden die Verstärkerverlusthypothese Lewinsohns, die Theorie der Erlernten Hilflosigkeit von Seligman und die kognitive Theorie von Beck ausführlich erläutert. Andere Ansätze werden etwas knapper beleuchtet. Im Weiteren wird die Biologie der Depression behandelt. Hier ziehen die Autorinnen vor allem den Schluss, dass die biologischen Ansätze alleine nicht ausreichen, Depressionen zu erklären (und zu behandeln). Schließlich werden noch einmal besonders gefährdete Gruppen gekennzeichnet: Mädchen, Kinder in belasteten Lebensumständen, Kinder mit psychisch erkrankten Eltern.
Im abschließenden Teil geht es um die praktische Hilfe. Den Anfang macht – noch einmal – das Erkennen von Betroffenen. Hier heben Nevermann und Reicher die Entwicklung von Sensibilität, Mitfühlen und Verstehen als Grundlage für jede Hilfe hervor. Sie erläutern dann sieben Fehleinschätzungen, die ein Erkennen behindern. Ein Beispiel ist hier das Ausgehen der Beobachter*in von den eigenen Gefühlszuständen. Als zentralen Bestandteil jeder wirksamen Hilfe werden die kindlichen Grundbedürfnisse nach Zuwendung, Akzeptanz, Begleitung, Stabilität und Fürsorge vorgestellt. Ohne Befriedigung dieser Bedürfnisse kann kein Hilfeansatz langfristig Wirkung zeigen. Die Autorinnen empfehlen allgemein, besser eher und mehr professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie gehen auf die Wege zur ambulanten und stationären Behandlung ein sowie auch auf die nicht seltene Ablehnung einer Behandlung. Hier empfehlen sie ‚am Ball zu bleiben‘. Im Weiteren wird die Bandbreite der psychologischen Behandlungsansätze mit ihren Zielen und Therapieelementen vorgestellt, der Einbezug der Familie wird betont, Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Psychotherapie werden ergänzt. Die Indikation und Wirkungsweise einer pharmakologischen Behandlung wird ausgewogen dargelegt.
Was Eltern hilfreich tun können, wird mit einer Reihe konkreter Ratschläge berücksichtigt.
Schließlich wird die Frage nach einem präventiven Vorgehen gestellt. Hier stehen die konkreten Vorgehensweisen zur Förderung von emotionaler und sozialer Kompetenz im Vordergrund. Den Abschluss bildet dann ein Überblick über vorschulische und schulische Präventionsprogramme wie ‚papilo‘, ‚Freunde für Kinder‘, ‚Erwachsen werden‘ und einiges mehr.
Der Anhang informiert über Stellen für Beratung, Kontakt und Selbsthilfe.
Diskussion
Der Psychiater und Publizist Manfred Lütz vertritt die These, dass in der öffentlichen Diskussion zwar viel über Psychologisches gesprochen wird, aber unser Wissen über psychische Erkrankungen trotzdem auf einem dürftigen Stand sei. Die Öffentlichkeit interessiere sich für Burn-out, Stress und Achtsamkeit, aber die ernsten psychischen Erkrankungen seien nach wie vor eher Tabuthemen. Lütz zielt zwar vor allem auf das Wissen zu schizophrenen Erkrankungen, seine Einschätzung kann aber auch für Depressionen herangezogen werden. Auch hier tut Aufklärung Not, besonders auch bei Depressionen von Kindern und Jugendlichen. Die Erkrankung ist häufig, sie kostet die Betroffenen und ihre Familien viel Lebenskraft und Lebenszeit. Gegenüber psychischen Störungen wie ADHS oder einem Borderline-Syndrom fallen sie oft nicht deutlich auf. Depressionen bei Kindern und Jugendlichen werden darum häufig verkannt.
Umso verdienstvoller ist das Buch von Nevermann und Reicher. Sie führen mit einem vor allem schulpädagogischen Blick in das Thema ein. Neben der Familie ist die Schule der Ort, an dem Kinder die meiste Zeit verbringen. Hier besteht daher eine gute Chance, Depressionen zu erkennen, wenn die Beteiligten Bescheid wissen. Dafür sorgen die Autorinnen mit ihrem Buch. Es ermöglicht Eltern und Lehrer*innen eine geschärfte Beobachtung, es gibt Verhaltenssicherheit für den Umgang mit depressiv verstimmten Kindern und es enthält einen Überblick zu individuellen Präventionsmöglichkeiten wie zu den Präventionsprogrammen, die sich in der Schule einsetzen lassen.
Die Darstellung ist dabei sehr leserfreundlich, man kann das Buch gut neben den Alltagsverpflichtungen lesen. Es wird kaum etwas vorausgesetzt, Fachbegriffe wie Spontanremission, Schutzfaktoren oder auch Bindung werden sehr weitgehend erläutert. Der Aufbau ist mit vielen kleinen Kapiteln so gehalten, dass keine Studienzeiten für die Lektüre geplant werden müssen, die Leserführung ist sehr explizit und – das gefällt mir besonders – immer wieder werden Fallvignetten bis zur Länge einer Seite eingeschoben, die die Ausführungen veranschaulichen.
Bei diesen Vorzügen und der drängenden Problematik ist es kein Wunder, dass es nun zu einer dritten Auflage gekommen ist. Bei der Aktualisierung hätten die Autorinnen aber noch etwas gründlicher zu Werke gehen können. Die Befunde aus den 1990er Jahren, die vorvorvorletzten Schell-Studien – das hätte mit etwas Recherche aktueller aussehen können. Auch bei den Therapiemethoden ist zwar der Stand der Jahrtausendwende repräsentiert, neuere Stichworte wie ‚ACT‘, ‚Mentalisierung‘ und ‚feeling-seen‘ wären hier aber gut gewesen, um noch aktueller zu informieren. Manches aus der ersten Auflage ist inzwischen auch wirklich überholt. So spielt das Fernsehen eben nicht mehr die größte mediale Rolle bei den Kindern (S. 158). Der gesamte Absatz zur Medienwelt zeigt noch die Perspektive der beginnenden Omnipräsenz der Medien in der Kindheit – da sind wir heute allerdings weiter. Und schließlich hätte die Überarbeitung den Text auch etwas konzentrierter darbieten können, so finden sich doch mehr Wiederholungen (z.B. zum Thema ‚Erkennen einer depressiven Störung‘), als mir lieb sind, aber vielleicht ist das auch ein didaktischer Vorteil für Leser*innen, die dem Thema noch fernstehen.
Fazit
Profunde und sehr gut zu lesende Einführung zu Depressionen im Kindes- und Jugendalter für Eltern, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen, die noch wenig Kenntnisse dazu haben.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 18.12.2020 zu:
Christiane Nevermann, Hannelore Reicher: Depressionen im Kindes- und Jugendalter. Erkennen, Verstehen, Helfen. Verlag C.H. Beck
(München) 2020. 3., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-406-75744-0.
Reihe: C.H. Beck Paperback - 1440.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27668.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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