Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit et al.: Rechte Bedrohungsallianzen
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 05.01.2021
Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2020.
324 Seiten.
ISBN 978-3-518-12748-3.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR,
CH: 25,90 sFr.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2748. .
Thema
Die Entfaltung des rechten politischen Spektrums, seine Ausdifferenzierung, Intellektualisierung und Dynamisierung – Heitmeyer und seine Co-Autoren haben ein „konzentrisches Eskalationskontinuum“ ausgemacht.
Die Autoren
Heitmeyer kann als der Experte für Rechtsextremismus in der Bundesrepublik gelten. Seit seiner Studie über „Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen“ (1987) hat er über 30 Jahre zu dem Thema geforscht. Als langjähriger Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld hat er mit der von ihm herausgegebenen Reihe „Deutsche Zustände“ über Jahre die Entwicklung rechter Einstellungssyndrome in Deutschland dokumentiert. Als Grundlage seiner empirischen Forschungen diente das von ihm entwickelte Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Manuela Freiheit und Peter Sitzer waren als Mitarbeiter*innen an Forschungen des IKG beteiligt.
Entstehungshintergrund
Das Jahrzehnte zurückreichende Forschungsprogramm über rechte Positionierungen und Organisationsformen, das oben erwähnt wurde, umfasste Längsschnittstudien zur Entwicklung des rechten politischen Spektrums. Rechte Gewaltakte aus jüngster Zeit, nämlich die Ermordung von W. Lübcke, die Morde in Hanau und der Anschlag auf die Synagoge von Halle, aber auch die von Rechten genutzten „Corona-Proteste“ waren Anlass für die Publikation (14), die auch als Fortschreibung der „Signaturen der Bedrohung I“ von 2018 verstanden wird.
Inhalt und Aufbau
Die Verf. beschäftigt die Frage „Werden die Akteure des rechten politischen Spektrums von diesen erneuten Verunsicherungen und Kontrollverlusten profitieren…?“ (15)
In Kapitel 1 wird das Konzept der Studie vorgestellt. „Parzellierte Betrachtungen“ wollen die Verf. vermeiden und sich nicht auf das „parteipolitische Koordinatensystem“ beschränken (18), um das „Eskalationskontinuum“ von menschenfeindlichen Einstellungen über rechte Milieus bis hin zu konspirativ agierenden Gruppen und schließlich Terror zu erfassen. Das impliziert die Unterscheidung mehrerer Ebenen (der individuellen, institutionellen und gesellschaftlichen, 19). „Die Ideologie der Ungleichwertigkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, der alle Schichten des Eskalationskontinuums eint“ (20). Dazu kommt die Gewaltakzeptanz (ebd.).
Kapitel 2 über „Rechte Bedrohungs- und Zerstörungsaktivitäten“ liefert ein Bild der Lage. Die Verf. gehen unter Verweis auf die Funktion des Internet auf die zunehmende Hasskommunikation und die Bedrohung von Politiker*innen, Funktionsträger*innen etc. ein und zeichnen die Entwicklung rechtsextremistischer Straftaten, darunter Tötungsdelikte nach.
In Kapitel 3 skizzieren die Verf. ihren Forschungsansatz, bei dem sie von einem Zusammenwirken ökonomischer Prozesse, sozialer Desintegration und von „Demokratieentleerung“ ausgehen. Das präsentierte Analyseschema zeigt Rückkopplungsprozesse zwischen der gesellschaftlichen Strukturentwicklung (ökonomisch, sozial, politisch), individueller Verarbeitung und politischen Folgen (43). So kann z.B. Prekarisierung ein „Gefühl der Entsicherung“ und Ohnmacht entstehen lassen, was zur Zuflucht zu autoritären Politikkonzepten verleitet. Kapitalismuskritik, wenn auch nur angedeutet, ist ein implizites Element der Analyse. Auch der politische Umgang mit rechten Bedrohungen wird wegen der Beschränkung auf Kontrolle, anstatt an den Ursachen anzusetzen, kritisiert.
In Kapitel 4 wird das „konzentrische Eskalationskontinuum“ erläutert. Je mehr gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung, desto günstiger ist das Klima für ein „Milieu des autoritären Nationalradikalismus“ wie in der AFD. Eine weitere Stufe bilden z.B. neonazistische Kameradschaften, von denen zu konspirativ agierenden Gruppen gewechselt werden kann, die dann eventuell „terroristische Vernichtungsakteure“ hervorbringen. Heitmeyer will mit dem Bild der Zwiebel die quasi organische Einheit der Schichten verdeutlichen, wobei die äußere Schicht das Alltagsdenken repräsentiert (60). Es werden sowohl Differenzen als auch „Legitimationsbrücken“ zwischen den Schichten erörtert. Ein Unterkapitel behandelt die Funktionen des virtuellen und des realen öffentlichen Raums, ein anderes das Eindringen der Rechten in Sicherheitsinstitutionen.
Gegenstand der folgenden Kapitel sind nacheinander die verschiedenen Stufen des Eskalationskontinuums. In Kapitel 5 werden unter Rückgriff auf eigene Studien Daten über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung präsentiert und kommentiert.
In Kapitel 6 „Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus: Destabilisierung von Institutionen“ kennzeichnen die Verf. die Charakteristika dessen, was Heitmeyer als Nationalradikalismus bezeichnet, und interpretieren die Ideologie, die Ziele und Strategien von Pegida und AfD, wobei sie der Rolle von Intellektuellen einen eigenen Abschnitt widmen.
Kapitel 7 hat den „bewegungsförmigen Rechtsextremismus“ zum Thema, bei dem Gewalt als Mittel zum Umsturz nicht ausgeschlossen wird (145), also Autonome Nationalisten, Identitäre, neonazistische Kameradschaften etc. und deren Vernetzung. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Verf. der „Raumordnungsbewegung“. Sie warnen vor der Unterschätzung des ländlichen Raums.
In Kapitel 8 wird „das klandestine rechtsterroristische Planungs- und Unterstützungsmilieu“ beleuchtet mit den dort gehandelten Drehbüchern und Anleitungen für Terrorakte, oft übernommen von früheren Anschlägen und zugleich Orientierung für neue Terrorgruppen wie für Individualtäter.
Beide Kategorien, ihre Motive und Leitideen, werden in Kapitel 9 behandelt. Beachtung verdient das elaborierte Modell eines Handlungsmusters (227).
In Kapitel 10 analysieren die Verf. die Ereignisse von Chemnitz im Jahr 2018, zum einen weil sich dort ihre Erklärungsansätze bewähren können, zum anderen deshalb, weil damals ein Verschwimmen der Grenzen zwischen den Eskalationsstufen zu verzeichnen war.
Thema von Kapitel 11 sind Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit als permanente rechte Motive. In Kapitel 12 werden dagegen „Qualitätsveränderungen rechter Bedrohungsallianzen“ ausgeleuchtet, z.B. die Intellektualisierung der Ideologie, die Dynamisierung durch soziale Netzwerke, die neuen Aktionsformen.
In Kapitel 13 schreiben die Verf. einige Entwicklungstendenzen in die Zukunft fort. Die in der Überschrift ausgedrückte Erwartung „Entsicherte Unsicherheit“ wird im „Postskriptum“ aus Anlass der Corona-Pandemie noch verstärkt.
Diskussion
Heitmeyers jahrzehntelange Arbeit in dem Forschungsfeld macht die Publikation zu einer einzigartigen Orientierungshilfe im Kampf gegen den Rechtsextremismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen. Die Ausführungen stützen sich nicht nur explizit, sondern auch implizit auf reichhaltiges empirisches Material aus früheren Untersuchungen. Die von Heitmeyer entwickelten analytischen Modelle oder Schemata helfen, den dynamischen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sozialen Lebenslagen, Ideologieangeboten und subjektiven Orientierungen zu verstehen. Gerade das macht die Bedrohlichkeit der Situation deutlich.
Fazit
Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Rechtsextremismus oder Rechtsradikalismus. Eine gründliche Lektüre ist aber vor allem auch Politiker*innen zu empfehlen und allen, die sich praktisch mit „rechten Bedrohungsallianzen“ auseinandersetzen.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 05.01.2021 zu:
Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit, Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-518-12748-3.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2748. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27673.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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