Dieter Korczak (Hrsg.): Digitale Heilsversprechen
Rezensiert von Helmwart Hierdeis, 07.01.2021

Dieter Korczak (Hrsg.): Digitale Heilsversprechen. Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2020. 195 Seiten. ISBN 978-3-86321-544-6. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 37,50 sFr.
Herausgeber
Dr. Dieter Korczak, Soziologe, Diplom-Volkswirt, Publizist und Dozent, leitet seit 1985 die von ihm gegründete GP-Forschungsgruppe (Institut für Grundlagen- und Programmforschung). In dieser Eigenschaft verfasste er u.a. im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums und des Bundesverbraucherministeriums zahlreiche Gutachten. Neben zahlreichen Forschungsberichten und Fachartikeln liegen von ihm Einzelveröffentlichungen zu Wohngemeinschaften, Lebensqualität, Überschuldung und Gesundheit vor. Von 1997 – 2017 war er Vorsitzender der Interdisziplinären Studiengesellschaft und Herausgeber zahlreicher Tagungsbände. Gegenwärtig ist Korczak Leiter der Europäischen Covid-19 Debt Scientific Group (CoDeS) des European Consumer Debt Network (ECDN). Außerdem lehrt er als Dozent an der Hochschule DIPLOMA, gibt die Fachzeitschrift „Money Matters“ heraus und befasst sich mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Der vorliegende Band gibt, wie der Herausgeber in seinem „Editorial“ (7 – 9) schreibt, Positionen, Thesen und Forderungen wieder, die in der Studiengruppe „Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) entwickelt worden sind. Sie wurden erstmals auf der VDW – Jahrestagung 2019 „Die Ambivalenzen des Digitalen“ vorgestellt.
Aufbau
- Johann Behrens: „’Digitalisierung’ statt Gesundheit als selbstbestimmter Teilhabe“ (11 – 51)
- Theodor Dierk Petzold: „Braucht unsere gesunde Entwicklung Digitalisierung? – Systemische Reflexionen auf Mensch-Sein und Welt“ (53 – 89)
- Felix Tretter: „’Digital Health Technologies’: Wege zur kritisch-rationalen Bewertung“ (91 – 113)
- Dieter Korczak: „Digitale Selbstvermessung – Selbstoptimierung oder Produkt der Datenökonomie?“ (115 – 146)
- Sylvia Johnig: „Transformation auf Kosten der Gesundheit“ (147 – 169)
- Rolf Lankau: „Covid-19, Grundrechte und die Corona-App“ (171 – 182)
- Rolf Lankau: „Autonomie des Menschen vs. autonome Systeme. Einspruch gegen digitale Heilslehren – für einen humanen Einsatz von KI“ (183 – 191)
Inhalt
Johann Behrens eröffnet den Diskurs mit einer kritischen Positionierung gegenüber der Digitalisierung, die sich auch durch die folgenden Beiträge hindurchzieht: „Statt Selbstbestimmung zeigt die Entwicklung monopolistische Enteignung (a) und pädagogisch-wertende Bevormundung (b), statt Teilhabe am Leben der Gesellschaft Spaltung, Diskriminierung, Ausschluss (c), wachsende Ungleichheit (d) und Abkehr vom Humanen (e)“ (12). Das Grundproblem liegt für ihn darin, dass den Menschen vorgegaukelt wird, bei der „Technik“ handle es sich um ein „Subjekt“ (13). Diese „inhumane Subjektivierung von Maschinen“ (16) sieht er begleitet von einer Wahrnehmungsverengung: Von „Digitalisierung“ werde geredet, „ohne die gesellschaftliche Organisation zu thematisieren, in der sie Platz greift“ (26). Das gelte insbesondere von den Big-Data- Sammlern, deren Geschäftsmodell auf einem hohen Maß an Intransparenz beruhe.
Theodor Dierk Petzold greift auf Uexküll/Wesiacks „Theorie der Humanmedizin“ von 1991 und die dort erhobene Forderung nach einem Menschenbild der Humanmedizin zurück, das „biologische, psychosoziale und kulturelle Konzepte“ (53) miteinander verknüpft und damit „menschliche Wirklichkeit“ (ebd.) abbildet. Davon sei eine Medizin, die „Social Media“ an die Stelle „direkte[r] mitmenschlicher[r] Kontakte“ (55) setzt, weit entfernt. Die Spaltung wird für ihn durch eine Gesundheitspolitik verstärkt, die einseitig „Modellprojekte zur Anwendung digitaler Medien“ (56) fördert. Die Theorie der Salutogenese weist für Petzold einen entgegengesetzten Weg, weil sie auf die Fähigkeit „lebender Systeme zur Selbstorganisation und -regulation“ (58) und die Abhängigkeit der gesundheitlichen Entwicklung von „direkten mitmenschlichen Beziehungen“ (75) setzt. Bei der ausschließlichen Aufmerksamkeit auf die „Scheinwelt Big Data“ (80) drohe der einzelne Mensch verloren zu gehen. Petzolds Analyse mündet in die Forderung, Digitalisierungskonzepte auf allen relevanten Ebenen (Politik, Ökonomie, Krankenkassen) an ethischen Standards wie Autonomie und Menschenwürde zu orientieren, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse (z.B. aus den Sozial- und Neurowissenschaften) einzubeziehen und „ihre gesellschaftliche Rückkoppelung auf das individuelle, soziale, kulturelle und globale Leben“ (84) nicht aus dem Auge zu verlieren.
Auch Felix Tretter vertritt die Auffassung, dass „Gesundheit und Krankheit als Grade biopsychosozialen Funktionierens“ (99) anzusehen sind. Den „Prozess der Einwirkung der Digitalisierung auf den privaten und professionellen Gesundheitsbereich“ (91) möchte er unter einer „systemischen Perspektive“ (ebd.) analysieren, um der Komplexität der Zusammenhänge gerecht zu werden. Die forcierte Einführung der „Corona-App“ (92) sieht Tretter als ein Beispiel dafür an, wie ohne gesicherte Datenlage hinsichtlich Wirkungen und Kontrolle die Digitalisierung der Gesundheit vorangetrieben und eine „Machbarkeit von Gesundheit“ (95) suggeriert wird. Im Sinne eines „rationalen Diskurses“ (98) sieht er es als notwendig an, „die Vorteile und Nachteile, Nutzen und Risiken und letztlich auch die mittelfristigen Kosten der Digitalisierung in einen mehrdimensionalen Betrachtungsrahmen“ (ebd.) hereinzuholen, der dem gesellschaftlichen Kontext gerecht wird – dies alles nicht ohne eine „Ebene der Selbstreflexion“, die der Hersteller eingeschlossen. Anders ist eine humane Medizin nicht zu realisieren.
Dieter Korczak befasst sich mit den „Anwendungen, der Wirksamkeit und dem Nutzen von mobilen Gesundheits- und Selbstoptimierungsangeboten“ (115), insonderheit mit der Gesundheitsapplikations-Software für mobile Endgeräte („mHealth-Apps“) und Mikro-Computern mit Hautkontakt („Wearables“) (ebd.). Gestützt auf eine in der Datenbank PubMed von ihm selbst durchgeführte Analyse internationaler Studien, kritisiert er die Wirksamkeit der Geräte für die Gesundheit ihrer Anwender und äußert den Verdacht, sie dienten überwiegend den „Verwertungsinteressen der Anbieter“ (ebd.) – wovon diese durch „suggestive Heilsversprechen“ (127) abzulenken versuchten. Als besonders riskant sieht Korczak die fehlende Datensicherheit an. Dennoch gelinge es den Anbietern – unterstützt durch einen politisch geförderten Datenschutzabbau –, sich zu einer „externen Autorität“ (128) hochzustilisieren. An Kriterien zur Anbahnung einer gegenläufigen Entwicklung fehle es nicht. So verweist der Autor auf einen vom globalen Berufsverband der Ingenieurinnen und Ingenieure entwickelten „Katalog der Qualitätsdimensionen“ (138), der „Menschenrechte, Wohlbefinden, Datennutzung, Wirksamkeit, Transparenz, Rechenschaftspflicht, Bewusstsein für Missbrauch und Kompetenz“ (ebd.) einschließt, und ergänzt ihn durch einen „pragmatischen Katalog von Parametern zur Beurteilung von mHealth-Apps“ (139). Dessen Wirksamkeit sei aber auch abhängig von strengeren Gesetzen für die Verwendung persönlicher Daten und von einer „Prüfungspflicht hinsichtlich der Leistungen von Algorithmen“ (141).
Sylvia Johnigk kritisiert an den gegenwärtig in Gang gesetzten digitalen Transformationsprozessen, dass die im Gesundheitsbereich erhobenen Daten bei kommerziellen Dienstleistern gespeichert und verarbeitet werden, obwohl einer ihrer Hauptverantwortlichen (Bertelsmann) mehrfach wegen Datenlecks bzw. unbefugter Datenweitergabe auffällig geworden war. Hier sei wohl die Lobbyarbeit des Konzerns sehr wirksam gewesen. Auch das aktuelle IT-Sicherheitsgesetz biete kaum angemessenen Schutz. So verhindere es z.B. nicht den Abfluss von Gesundheitsdaten von der App in die „Cloud des App-Anbieters“ (163). Da „Gesundheitsdaten […] 10-mal so viel wert sind wie Kreditdaten“ (148), ist für die Autorin nicht verwunderlich, dass sie von den Anbietern zum eigenen Nutzen verwendet werden. Kritisch sieht sie auch die Sicherheitsstandards und die Zuverlässigkeit von KI-Konzepten: Sie könnten nur ein „valides Ergebnis liefern, wenn die Daten, die in das Modell einfließen, authentisch und integer sind“ (167). Außerdem sei die Frage bisher unbeantwortet geblieben, wer bei Versagen der KI und nachfolgenden ärztlichen Fehlentscheidungen die Haftung übernehme.
Ralf Lankau sieht durch die rasant fortschreitende Digitalisierung Grundrechte, Privatsphäre und Autonomie des Menschen bedroht, ebenso wie das „Vertrauen in politische Entscheidungen, wenn etwa die Digitalisierung zunehmend aller Lebensbereiche gar nicht mehr hinterfragt wird“ (172). Er verweist in diesem Zusammenhang auf die seit 2019 bestehende gesetzliche Regelung, dass die Patientenakten von 73 Millionen Versicherten ohne Widerspruchsrecht für Forschungszwecke freigegeben sind. Um einem „technologischen Totalitarismus“ (178) zu entgehen, fordert er „1. Datensparsamkeit und Zweckgebundenheit […]. 2. Transparenz und vollständige Dokumentation […]. 3. Maximale(n) Schutz der Privatsphäre und Befristung […]. 4. Freiwilligkeit und Löschungsoption […]“ (177). Die Erfüllung dieser Postulate ist für ihn umso dringlicher, als zur Bewältigung der Corona-Pandemie schon heute diverse Grundrechte teilweise außer Kraft gesetzt werden. Mit Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung sieht er die Gefahr heraufziehen, „’dass die allgemeine Angst vor dem Virus die sorgfältige Prüfung der Grundrechtseingriffe ersetzt. Das könnte auch dazu führen, dass scharfe Maßnahmen aufrechterhalten bleiben, wenn die Gefahr gebannt ist – nun zur Vorbeugung. Dann hätte das Virus den Rechtsstaat befallen. (Prantl, 2020, 6)’“ (179).
Die Programmatik seines vorangegangenen Beitrags setzt Ralf Lankau mit einer Reihe von Vorschlägen fort, die allesamt helfen sollen, zwei Fehlentwicklungen zu vermeiden: den Weg in den digitalen „Überwachungskapitalismus“ (185) bzw. in das „staatstotalitäre […] Überwachungsnetz“ (ebd.). Die erwünschte Gegensteuerung ist aber nur möglich, wenn Datenmengen verringert und die Algorithmen transparent gemacht werden. Lankaus Forderungen an die Datenwirtschaft: An die Stelle von Datenmaximierung haben Datenschutz, Datenvermeidung und Datenreduktion zu treten; Nutzung und Kommerzialisierung von personenbezogenen Daten sind „nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Nutzer“ (188) gestattet; die schulische Arbeit mit Digitaltechnik dient ausschließlich den Lernprozessen und darf zu keinem Datenabfluss führen. Seine leitende Intention legt der Autor am Ende seines Beitrags offen: „Technologische Systeme zur automatisierten (algorithmisch berechneten) Verhaltensmanipulation verstoßen gegen die Würde des Menschen, seine Grundrechte und Selbstbestimmung. Sie sind in demokratischen und humanen Rechtsstaaten untersagt“ (190).
Diskussion
Wie Dieter Korczak in seinem „Editorial“ (7 – 9) bemerkt, führt die gegenwärtige Pandemie in auffälliger Weise vor Augen, wie Datensammler und -verwerter die Digitalisierung im Gesundheitswesen als „Heilsweg“ (7) propagieren und die eigenen „Profitinteressen“ (ebd.) dabei unter den Tisch fallen lassen. Sie wollen vergessen machen, wie sehr die Erhaltung oder Wiedergewinnung der Gesundheit auf „sinnlich direkte mitmenschliche Kommunikation“ (8) angewiesen ist. Die Politik spielt dieses Spiel mit, indem sie in die Digitalisierung erheblich mehr Fördergelder steckt als in die Ermöglichung stressfreier Arzt-Patient-Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen einem humanen, biopsychosozialen Gesundheitsverständnis (unter Einschluss ethischer Standards) und einer ökonomisch-technizistischen Gesundheitsideologie durchzieht sämtliche Beiträge. Dass die im Untertitel des Buchs apostrophierte „Ambivalenz“ keine ausgewogene Darstellung erfährt, sondern dass die Beiträge vor allem die Schattenseiten der Entwicklung unter die Lupe nehmen, verwundert angesichts der Intentionen der Arbeitsgruppe „Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe“ nicht; denn sie sieht ihre Aufgabe vor allem darin, die Entmachtung des Einzelnen durch die Datenökonomie, die Probleme einer gesundheitlichen Selbstoptimierung und die Unwägbarkeiten der Datenflüsse zu beleuchten. Von den unstrittigen Leistungen der Digitalisierung sprechen außerdem deren ökonomische Protagonisten zur Genüge. Um der Öffentlichkeit ihre Nachteile bewusst zu machen, bedarf es neben den Proklamationen des Deutschen Ethikrats (2018) und der medizinischen Standesvertretungen eines erheblichen zivilgesellschaftlichen Aufwands.
Ich habe mich bei der Lektüre zunehmend gefragt, wer auf der Seite der Patienten als Datenlieferanten und auf der Seite der Datennutzer und -verarbeiter im Gesundheitswesen die Kompetenz hat, die komplexen inhaltlichen, technischen und praxeologischen Zusammenhänge zu durchschauen. Unter den Erstgenannten ist sie allenfalls bei jenen zu erwarten, die mit der Digitaltechnik als Theoretiker oder Praktiker ihr Brot verdienen. Die angehenden Ärzte müssen zwar gemäß dem Nationalen Lernzielkatalog Medizin (NKLM) ihr Wissen hinsichtlich Telemedizin, Internet, Kommunikationseinrichtungen, Datenbanken und Krankenhausinformationssystemen nachweisen und deren Vor- und Nachteile im Hinblick auf die Arzt-Patient-Beziehung abschätzen können. Aber einmal ist ein Großteil der Ärzteschaft ohne solche Qualifikationen in den Beruf gelangt, andererseits schreiten die technischen Neuerungen so rasch voran, dass auch bei den digitaltechnisch vorgebildeten Medizinern zwangsläufig Wissenslücken auftreten, vom technischen Know how ganz zu schweigen (in der Regel brauchen sie bei technischen Pannen professionelle Hilfe von außen). Insofern gehören die beiden Autoren Petzold und Tretter mit ihren Kompetenzen in beiden Bereichen eher zu einer Minderheit in ihrer Berufsgruppe.
Fazit
„Es gehört zur ethischen Verantwortung des Arztes, auf die Eigengesetzlichkeit leiblicher Prozesse zu achten, ohne die Einbettung dieser Prozesse im lebensweltlichen Kontext der Digitalisierung zu vernachlässigen“ (Capurro, 2018, 1426). Die Verpflichtung gegenüber einer solchen Maxime ist in allen Beiträgen spürbar. Es wäre Aufgabe der Gesundheitspolitik, das ökonomische Ungleichgewicht zwischen den beiden hier angesprochenen Bereichen ärztlicher Wahrnehmung und ärztlichen Handelns zugunsten der Arzt-Patient-Beziehung zu verschieben. Der vorliegende Band ist in diesem Kontext eine gewichtige zivilgesellschaftliche Stimme.
Literatur
Capurro, R. (2018). Digitalisierung in der Medizin: Skepsis gegenüber Hypes. Dtsch Ärztebl., 115 (31 – 32): A 1425 – 8.
Prantl, H. (2020). Verfallsdatum? Süddeutsche Zeitung vom 25./26. 04. 2020, 6.
Uexküll, T. v., Wesiack, W. (1991). Theorie der Humanmedizin. München: Urban & Schwarzenberg.
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