Eva von Redecker: Revolution für das Leben
Rezensiert von Christopher Grobys, 24.03.2021

Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2020. 315 Seiten. ISBN 978-3-10-397048-7. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Der Kapitalismus, bestehend aus Eigentumsfixierung und Profitmaximierung, verändert unser aller Zusammenleben auf existenzielle Weise. Er spaltet Gesellschaften, verstärkt autoritäre Tendenzen und verwüstet unseren Planeten. Kurz: Der Kapitalismus ist lebensgefährlich. Gegen diese Entwicklung und seine Folgen regt sich jedoch auch Widerstand. Die Aktivist:innen von Black Lives Matter, Ende Gelände oder NiUnaMenos und weiteren stellen sich dem entgegen. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Themenbereiche erkennt Eva von Redecker eine gemeinsame Logik ihres Protests. Eine neue Protestform einer jetzt beginnenden Revolution für das Leben, die mit dem Kapitalismus bricht und ein neues gesellschaftliches Verhältnis am Horizont sichtbar werden lässt.
Autor:in
Eva von Redecker ist Philosophin. Im Zeitraum zwischen 2009 und 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Humboldt-Universität. An der New School for Social Research in New York unterrichtete sie 2015 für ein Semester als Gastdozentin. Ende 2020 trat sie ein Marie-Sklodowska-Curie-Fellowship an der Universität Verona in Italien an. Aktuell arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zum autoritären Charakter und ist als freie Publizistin tätig.
Aufbau
Das Buch ist insgesamt in elf Teile untergliedert. Anfang und Ende bilden klassischerweise Einleitung und Schluss. Die übrigen neun Teile sind in Form einer dialektischen Spiegelung aufgebaut. In den ersten vier Kapitel entwickelt sie die grundlegenden Kategorien Eigentum, Güter, Arbeit und Leben. Dabei zeigt Eva von Redecker auf, wie der Kapitalismus diese Kategorien negativ gestaltet, sie beherrscht, verwertet, erschöpft und zerstört. Das fünfte Kapitel bildet eine Synthesekapitel, in dem die Autor:in darstellt, wie die destruktiven kapitalistischen Verhältnisse überwunden werden könnten. In den darauffolgenden vier Kapiteln entwickelt sie einen Ausblick eines postkapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnis, welches Leben rettet statt zerstört, Arbeit regeneriert statt erschöpft, Güter teilt statt verwertet und Eigentum pflegt statt beherrscht.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einer Einleitung (S. 9–18). Eva von Redecker verdeutlicht darin, dass der Kapitalismus das Leben zerstört. Sie schlussfolgert dementsprechend, dass Leben und dessen Erhaltung eine Emanzipation vom Kapitalismus voraussetzt. Diese Emanzipation versteht sie als Prozess, der auch jetzt schon von einem neuen Typus des Protests verkörpert wird. Die Autor:in erkennt, dass diese neuen Protestformen von einem anderen Antagonismus getragen werden als Vorherige: „als Aufstand der Lebenden gegen die Lebenszerstörung“ (S. 10). Die Proteste analysiert außerdem als Orte, in deren Praxis schon jetzt Konturen eines neuen, postkapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisses sichtbar werden. Das Buch erklärt sie als Versuch Auswege aus der kapitalistischen Moderne aufzuspüren.
Im ersten Kapitel (S. 19–41) beschäftigt sie Eva von Redecker mit der Genesis und Charakterisierung des Wesens des modernen Eigentums. Die heutige Form des Privateigentums beschreibt sie als historisch einmal und als ein neues „Verhältnis zum vereinnahmten Objekt in Form uneingeschränkter Verfügung“ (S. 22). Besonders sei daran, dass dieses Eigentumsverständnis auch Missbrauch und Zerstörung ermögliche. Als absolute Sachherrschaft bezeichnet sie dieses Eigentumsverhältnis, das die globalen gesellschaftlichen Verhältnisse hegemonial strukturiert.
Außerdem skizziert Eva von Redecker in diesem Kapitel holzschnittartig die Entstehungsgeschichte der absoluten Sachherrschaft und zeigt dessen Verbindung mit der Entstehung des Kapitalismus sowie dessen sozialen Subjekten auf. Die Autor:in argumentiert, dass mit der Entstehung dieses gesellschaftlichen Verhältnisses auch eine soziale Sachherrschaft, eine „Sachherrschaft unter Menschen“ (S. 27) einherging. Diese Ebene der Sachherrschaft fungiere nach der Autor:in als Kompensationseigentum, als soziale Kontrollmacht von durch den Kapitalismus enteigneten Subjekten. Sie formuliert: „Die Besitzlosen, so könnten man sagen, wurden auf Kosten der Machtlosen entschädigt“ (S. 28). Das Patriarchat und die Sklaverei seien für diese Ebene der Sachherrschaft beispielhaft. Soziale Sachherrschaft beschreibt sie deshalb als „die Verfügung über Aspekte lebendiger Gegenüber, als seien sie Eigentum“ (S. 32). Diese „eingewachsenen Mauern“ (S. ebd.) seien nach Eva von Redecker auch heute in postkolonialen Demokratien vorhanden. Der Phantombesitz, wie sie diese „amputierten Ansprüche“ (S. 37) bezeichnet, beschreibt sie als Grundbaustein moderner Identitäten, der zwar nicht mehr auf institutionell überschriebenen Eigentum beruht, aber dennoch Verfügungsansprüche durchsetzt. Sachherrschaft betrachtet sie insgesamt als eine Verfügbarmachung von Natur und Aspekten von Menschen.
Im zweiten Kapitel (S. 42–64) widmet sich die Autor:in dem Prozess der kapitalistischen Verwertung und charakterisiert im Anschluss an Polany zwei wesentliche Aspekte:
- Einfriedung
- Kommodifizierung von Land und Arbeitskraft
Eva von Redecker kritisiert den inhärenten Wachstumszwang der kapitalistischen Verwertung, der in natürliche Kreisläufe eingreift und diese zerstört, weil die absolute Sachherrschaft Güter als aus der Natur abgetrennte Objekte begreift. Sie bricht dabei auch mit der Marxschen These, dass die kapitalistische Verwertung gegen sich selbst arbeitet und zu deren Aufhebung beiträgt. „Dass sie aber dem Leben entgegenarbeitet, darüber besteht kein Zweifel. Es ist nur zu spät, als dass noch irgendwer triumphieren könnte, wenn dies vollends demonstriert wäre“ (S. 48 f.), formuliert sie darauf bezogen.
Sie erweitert den marxistischen Blickwinkel, welcher die Akkumulation von Mehrwert in der Produktionssphäre fokussiert und schlägt eine Perspektive vor, welche die Aufspaltung von Gütern in Waren und Ausschuss in den Mittelpunkt rückt. Genau dies sei nämlich charakteristisch für den auf Sachherrschaft beruhenden Kapitalismus: Die Trennung nach Verwertbarem und Nicht-Verwertbarem, die im Kapitalismus über den Markt reguliert werden.
Begrifflich fasst Eva von Redecker den Prozess der kapitalistischen Verwertung als sachliche Herrschaft. Sie beleuchtet auch in diesem Kapitel die subjektive Verwertung, die Selbstverwertung, die im Neoliberalismus nach ihrer Auffassung einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Die sachliche Herrschaft versteht sie als Erscheinung des Marxschen Fetischcharakters der Ware, der den Menschen der kapitalistischen Moderne unerkannt bleibt, „weil wir den Wert als dingliche Eigenschaft der Waren betrachten und nicht als Effekt des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs“ (S. 63).
Im dritten Kapitel (65-90) ist der Arbeitsbegriff zentral. Eva von Redecker betrachtet Arbeit dabei als „Zwischenglied, das aus Herrschaft Wirtschaft macht“ (S. 65). Dabei versteht sie Arbeit als eine grundlegende menschliche Tätigkeit, die sein zusammenleben und sein überleben strukturiert und sichert. Sie kritisiert in kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen, dass die vergegenständlichte Arbeit – die Ware – sichtbarer sei als die Arbeit selbst. Arbeit durchführende Subjekte seien im Kapitalismus nach der Autor:in doppelt gebrochen: Erstens, weil sie außer ihrer Arbeitskraft besitzlos seien. Und zweitens, seien sie gebrochen durch eine Disziplinierung, eine Zurichtung der Arbeitskraft. Diese beiden Brechungen stellen für die Autor:in den Klassencharakter des Phantombesitzes dar.
Die in den ersten beiden Kapiteln entwickelten Begriffe der Sachherrschaft – verstanden als Vereigentümlichung – und der sachlichen Herrschaft – verstanden als Prozess der Verwertung – verbindet Eva von Redecker in diesem Kapitel zum Begriff der sachlichen Sachherrschaft. Darunter versteht sie Folgendes: „Die Verkopplung von Eigentumsfixierung und Profitmaximierung, sachlicher Herrschaft und Sachherrschaft besteht fort, sogar nach dem ihre Knotenpunkte vermeintlich aufgelöst wurden. Postabolitionistischer Kapitalismus, also Wertschöpfung nach offizieller Abschaffung von Sklaverei und patriachalem Eherecht, baut weiterhin auf Verdinglichung und Spaltung der Arbeitenden. Die Sachherrschaft hat jenseits ihrer Ausgangsinstitutionen ein Nachleben als Phantombesitz – dass manche immer schon weniger sich selbst gehören und anderen immer schon Zusätzliches zusteht – zerrüttet weiterhin Lohnniveau und Klassenkampf“ (S. 80 f.). Mit dem Begriff der sachlichen Sachherrschaft versucht sie damit den Begriff des Kapitalismus neu zu fassen.
Die destruktive Tendenz des Kapitalismus verdeutlicht Eva von Redecker noch einmal im vierten Kapitel (S. 91–126) und beschreibt eine neue Kriseneinsicht, welche sie in den aktuellen Protestformen entdeckt. Die zentrale Protestform der Gegenwart beschreibt sie als Katastrophen-Vergegenwärtigung. Die Akteure dieser Protestformen drängen dafür nicht auf eine speziellere bessere Zukunft. „Vielmehr versuchen sie verzweifelt, dass allgemeine Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir kaum noch Aussichten auf eine Zukunft haben“ (S. 93), formuliert die Autor:in. Die Katastrophen-Vergegenwärtigung zielt nach ihr primär darauf ab, dass desaströse Ausmaß im Hierundjetzt klar zu machen. Ohne dies könnten nach ihr gar keine politisch erforderlichen Maßnahmen zur Veränderung getroffen werden.
Die Sachherrschaft nach der Autor:in auf subjektiver Ebeneeinen Narzismus, der nur den Besitz, das Eigentum fokussiert. Dies bezeichnet sie als Weltverlust, den sie folgendermaßen beschreibt:„Das Wesen des Weltverlustes ist ein Verlust der Zeit. Nicht nur in dem Sinne, dass uns die Zeit ausgeht, in der wir die Veränderungen noch aufhalten könnten. Sondern in dem Sinne, dass die Veränderungen die Zeitlichkeit selbst betreffen“ (S. 119 f.). Der Weltverlust ist also nach Eva von Redecker Zeitverlust auf zwei ineinandergreifende Ebenen. Erstens, der Verlust der Zeit für Veränderungen und zweitens, als Verlust von natürlichen Kreisläufen.
Unsere gegenwärtige Art zu erzählen – „uns also die Zeit zu vergegenwärtigen“ (S. 122) – erschwert nach der Autor:in zudem eine Kriseneinsicht. Sie schlägt deshalb in Anlehnung an Olga Torkarczuk eine Erzählperspektive vor – die zärtliche Erzähler:in – die sich einerseits der Katastrophen-Vergegenwärtigung widmet und andererseits gleichzeitig eine hoffnungslose Perspektive offenbart.
Im fünften Kapitel (S. 127–158) widmet sich Eva von Redecker der Suche nach Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Transformation, also wie eine Revolution für das Leben verwirklicht werden könnte. Ihre analytische Perspektive fundiert auf der Erkenntnis, dass Revolutionen immer aus handelnden Menschen hervorgingen, „die erkannten, dass ihre Lage kein bloßes Schicksal war, sondern das Ergebnis vergangener und gegenwärtiger Herrschaft“ (S. 131). Sie beschreibt deshalb Revolutionen als gesellschaftliche Tat von einer Fremd- zu einer Selbstregierung. Für diese Form der demokratischen Selbstregierung unterscheidet sie zwei antagonistische Impulse. Diese können, erstens, Regierungen der Teilenden oder, zweitens, besitzstandswahrende Regierungen sein. Zweiteres sei nach ihr in heutigen Demokratien der Fall, in der nur Subjekte der Sachherrschaft die Möglichkeit sich selbst zu regieren haben.
Die Demokratie der Teilenden beruht nach der Autor:in hingegen „auf einer wilden Verbundenheit, miteinander und mit der geteilten Welt“ (S. 136). Eine solche Form der Selbstregierung ist für Eva von Redecker beispielsweise die Pariser Kommune oder die Haitianische Revolution gewesen. Daran verdeutlicht sie auch die Relevanz von Rätestrukturen um eine Demokratie der Teilenden zu ermöglichen.
Außerdem widmet sich die Auto:in in diesem Kapitel der Frage, welche Funktion eine Revolution für das Leben einnehmen sollte: Aneignen oder Ausbremsen? Im Gegensatz zur klassischen Marxschen Aneignung der gesellschaftlichen Verhältnisse, plädiert sie im Benjaminschen Sinne für ein Ausbremsen der Verhältnisse. Jedoch kritisiert sie auch die Perspektive von Walter Benjamin, denn soziale Revolutionen müssten nicht nur den jetzigen Zustand anhalten, „sondern […], all das, was wir blind ausgerichtet haben, in selbstbestimmte Gestaltung zu überführen“ (S. 145 f.). Sie ergänzt diese beiden revolutionären Perspektiven, um das Aufgreifen des Zerstörten: die Weltwiederaufnahme. Damit meint sie, dass die Subjekte der Revolution für das Leben ein anderes Weltverhältnis benötigen, verstanden als bewusste Wahrnehmung und Einbettung in regenerative natürliche Kreisläufe. Um dies zu ermöglichen versteht sie die Revolution für das Leben nicht als einmaligen Bruch, sondern als Prozess, als „tägliche Übung“ (S. 147). Einen solchen revolutionären Prozess erkennt sie in den heutigen Protestformen. Die Autor:in versteht damit Revolution nicht nur als aneignen oder ausbremsen, sondern gleichfalls als Umbau zu einem neuen Weltverhältnis, das Leben erhält statt zerstört.
Zu Beginn des sechsten Kapitels (S. 159–193) formuliert Eva von Redecker folgendes: „Die Revolution für das Leben kämpft um das Leben Einzelner, und sie kämpft für ein insgesamt anderes Leben – jenseits der Logik von Tod und Zerstörung, verankert im Eigenleben all dessen, was die Sachherrschaft unterdrückt und die sachliche Herrschaft ausstößt“ (S. 159). Damit verdeutlicht sie ein dem Kapitalismus diametral entgegenstehendes Gesellschaftsverhältnis. Die Autor:in zeigt anhand der Black Lives Matter-Bewegung, dass die gegenwärtigen Verhältnisse und deren Institutionen (wie zum Beispiel die Polizei) für manche Personengruppen immer noch eine tödliche Dimension beinhalten. Stattdessen plädiert sie für ein lebensschützendes Verhältnis, welches nach ihrer Auffassung die Revolution für das Leben impliziert. Unter dem Lebensschutz versteht die Autor:in keinen Zustand, der notwendiger Weise vom Staat bewahrt werden muss. Leben umschreibt sie metaphorisch mit einem Pilzgeflecht, das in wilder Verbundenheit mit der Natur existiert. Strategisch betrachtet sie die Revolution für das Leben, die den jetzigen Zustand aufhebt, als eine sich dauerhaft Ausdehnende.
Damit die Revolution für das Leben dauerhaft ist, muss sich auch unsere Arbeit ändern, erklärt Eva von Redecker im siebten Kapitel (S. 194–234). Hierfür schlägt sieeine feministische Transformation der Arbeit vor. Alle Arbeit solle demnach „andere Arbeit“ (S. 194) sein. Den Begriff der anderen Arbeit entlehnt sich die Autor:in von Lea-Riccarda Prix. Der Begriff umfasst Arbeit, die im Kapitalismus schlecht oder gar nicht entlohnt wird, aber essentiell für das Leben ist, wie zum Beispiel Hausarbeit.
Darüber hinaus beschreibt sie anhand der feministischen Bewegung NiUnaMenos die charakteristischen Aspekte ihrer Proteste. Eine damit verbundene konkrete Protestform ist der feministische Streik. Die Autor:in erkennt darin eine Form des aktiven Streiks, der nicht nur blockiert, sondern auch neue solidarische Beziehungsweisen ausprobiert und damit praktisch werden lässt. Deshalb ist der feministische Streik für sie auch als ein Forschungsinstrument zu verstehen, welcher der Frage nach geht, wie vielseitig gestreikt werden könnte.
In Anlehnung dieser feministischen Protestpraxis plädiert die Autor:in für eine solidarische Entvereigentümlichung. Damit meint sie einerseits, dass die Produktionsmittel als auch die Reproduktionsmittel vergesellschaftet werden sollten und das die Arbeit eine auf Solidarität beruhende, bedürfnisorientierte Arbeit seien sollte.
Im achten Kapitel (S. 235–262) beschreibt Eva von Redecker am Beispiel der Kampagnen von Ende Gelände, wie arbeitsteilig, planvoll und demokratisch ihre Proteste vorbereitet sind. In dieser Praxis erkennt sie ebenfalls eine Vorwegnahme einer antikapitalistischen Zukunft. Sie betrachtet die teilende Organisation von Ende Gelände als eine Verwurzelung, verstanden als „einer realen, aktiven und natürlichen Teilhabe eines Menschen an der Gemeinschaft“ (S. 246). In der Organisierung sieht sie diesen Ansatz der Verwurzelung, der Aktivist:innen verbindet und Güter und Beziehungen in ein neues Gemeinwesen verwandelt.
Eine andere gesamtgesellschaftliche Organisation benötigt nach der Autor:in ebenfalls alternative Regulationsmechanismen anstatt des gegenwärtig herrschenden Marktes. Letzteres kritisiert die Autor:in aufgrund der Aufspaltung von Gütern in wertvolle und nicht-wertvolle Dinge. Sie schlägt stattdessen eine nicht-staatliche Planwirtschaft vor, in der es zwar noch Märkte gibt, diese aber nur eine Nebenrolle spielen. Die Planung der Verteilung beschreibt sie folgendermaßen: „Die Revolution für das Leben setzt dagegen auf eine Planung, die die Freiheit und Spontanität ihrer Elemente erhöht. Sie muss sich aus einer Demokratie der Teilenden heraus ergeben und das geteilte lebendig halten – frei von Sachherrschaft und Verwertung“ (S. 251). Eine solche Planung sei nach ihr auch nicht nur im Kleinen umsetzbar, sondern auch durch die Vergesellschaftung großer Plattformen, wie Google oder Amazon.
Als herausfordernd für eine solche Planwirtschaft beschreibt Eva von Redecker menschliche Bedürfnisse und Regenerationszeiten der Güter in Einklang zu bringen. Sie formuliert dazu: „Wir müssen viel weitreichenderes Wissen darüber gewinnen, in welche Gezeiten das, was wir verwenden und verbrauchen, eingebunden ist. Welche Kreisläufe wollen wir anzapfen, welche befüllen, was sollten wir weitgehend in Ruhe lassen? Die Frage, wie wir wurzeln wollen, stellt sich unablässig“ (S. 261). Außerdem müsste eine solche grüne und demokratische Planwirtschaft die Reproduktionsarbeit sichtbar machen und als lebenserhaltende Arbeitsform in den Mittelpunkt des Arbeitsbegriffs rücken.
Im neunten Kapitel (S. 263–287) plädiert Eva von Redecker für einen anderen gesellschaftlichen Umgang mit Gütern. Voraussetzung dafür sei die Weltwiederannahme auf zwei Ebenen notwendig. Erstens: Subjekte sind von Aspekten der Verfügung der Sachherrschaft emanzipiert. Zweitens: Eine neue Beziehungsweise zu den Dingen – Gütern – entsteht. Statt im kapitalistischen Sinne zu fragen, wer Güter verfügt und welchen Wert diese haben, müsste eine ökologisch-solidarische Lebensform fragen: „In welche Regenerationszyklen ist das Gut eingebunden? Und wem sollte es anvertraut werden“ (S. 263). Sie beschreibt damit, dass Eigentum nicht abgeschafft, sondern umgeschafft werden sollte. Die Vergesellschaftung von Eigentum versteht sie eingebunden als Netzwerk mit der Natur: „Dieses Netzwerk ergibt eine andere Perspektive der Vergesellschaftung. Zumindest ein Teil der Güter müssten nicht in den Allgemeinbesitz überführt, sondern gänzlich von der Sachherrschaft befreit werden, um geteiltes, verbundenes Leben zu ermöglichen“ (S. 271). Um ein solches gesellschaftliches Verhältnis zu realisieren sei es nach der Autor:in notwendig die kommunistische Formel Omnia sunt communia – alle Güter sind gemein – zu transformieren zu Omnia communia sunt – alles existiert gemeinsam.
Das Buch endet mit einem resümierenden Schluss (S. 288–292). Eva von Redecker verdeutlicht darin, dass der Kapitalismus, selbst wenn er nicht das Klima zerstören würde, trotzdem überwunden werden sollte. Denn er basiert nach ihr auf zwei brachialen Gesten. Erstens: der Einkreisung, verstanden Sachherrschaft. Zweitens: als Aufwirbelung, womit sie den Prozess der sachlichen Herrschaft, den der Verwertungslogik und ihren inhärenten Kalkül zwischen wertvoll und wertlos zu trennen, meint. Diesen zwei brachialen Gesten stellt sie vier Gesten der Revolution für das Leben gegenüber, die nach ihr ein anderes Weltverhältnis ermöglichen. Die Gesten des Retten, des Regenerieren, des Teilen und des Pflegen.
Diskussion
Eva von Redeckers Buch entwirft eine neue revolutionäre Perspektive, nachdem eigentlich schon 1989 das Ende der Geschichte verkündet wurde. Diese revolutionäre Perspektive ist genau so kritisch und antikapitalistisch wie Vorherige, doch schafft es die Autor:in einen neuen Blick auf den Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse darzustellen. Dies gelingt ihr durch einen psychoanalytischen Materialismus, durch den sie die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse und die Bewusstseinsformen der Subjekte analysiert. Dabei bleibt Eva von Redecker jedoch nicht stehen. Ihre materialistische Perspektive erweitert sie, um ein Naturverständnis, dass diese als regenerative Zyklen versteht und untrennbar mit den gesellschaftlichen Verhältnissen begreift. Damit verbindet sie Natur- und Gesellschaftverhältnisse zu einem sich gegenseitig bedingendem Gesamtzusammenhang. Ihr Buch kann somit als ein neuer Versuch beschrieben werden, das Wesen der kapitalistischen Moderne zu fassen und einen Gegenentwurf aus einer Kritik der Darstellung zu entwickeln, der nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse transformiert, sondern auch das Verhältnis der Menschen zur Natur. Dieser Versuch erinnert stark an das Verständnis von Arbeit, Leben und Natur bei Marx. Dieser verstand Arbeit als Tätigkeit, als „ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln“ (2017: 56). Daran knüpft die Autor:in maßgeblich an und entwirft eine Perspektive, die eine „historisch neue organische Verbindung von Arbeitskraft, Natur und Produktionsmitteln“ (Nuss 2019: 93) entwickelt.
Hierfür bezieht sich Eva von Redecker auf klassische und moderne sozialwissenschaftliche Theorien und verbindet diese. Daraus generiert sie ein eigenes philosophisch-theoretisches Konzept der Revolution für das Leben. Dafür entwickelt die Autor:indie verschiedenen Kategorien Sachherrschaft, Phantombesitz, sachliche Herrschaft und sachliche Sachherrschaft. Die begriffliche Ähnlichkeit aller drei Kategorien verdeutlicht ihren inneren Zusammenhang zu einer ganzen Theorie, birgt jedoch gleichzeitig die Herausforderung die Begriffe im Einzelnen zu verwechseln. Dem entgegen wirkt jedoch, dass über das Buch verteilt immer wieder Metaphern und Umschreibungen der Kategorien verwendet werden, welche die Schwierigkeit der Differenzierung abmildert. Besonders hervorzuheben ist die konzeptionelle Einbindung der Kategorie Phantombesitz, in eine Kritik des Wesens der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Damit schafft sie einen epistemologischen Rahmen, um auch Diskriminierungsformen materialistisch und psychoanalytisch zu verstehen.
Für die strategische Frage der Umsetzung der Revolution für das Leben verwendet Eva von Redecker ein Revolutions- respektive Transformationsverständnis, welches an die Transformationslogik des Freiraums von Wright erinnert. Dieser verstand darunter, die Möglichkeit durch antikapitalistische Freiräume innerhalb des Kapitalismus Alternativen zu diesem aufzubauen, die durch eine sukzessive Ausdehnung zu dessen Überwindung beitragen könnten (vgl. Wright 2019: 125). Dabei verdeutlicht Eva von Redecker immer wieder, dass die materiellen Verhältnisse, die Beziehungsweisen der Menschen – die „eigentlichen Kraftzentren emanzipatorischer Macht“ (Zelik 2020: 317) – und ihre Beziehung zur Natur sich ändern müssten, um den Kapitalismus überwinden zu können. Diese dreifache Betonung ist eine Stärke ihres Ansatzes. Offen bleibt allerdings, inwiefern die Freiraumstrategie mit Widerständen umgehen könnte. Außerdem bleibt offen, wie solche „kleinen Wiederaneignungen“ (Nuss 2019: 121) sich in dem Widerspruch zwischen der Entstehung neuer antikapitalistischer Zusammenhänge und gleichzeitigem Eingebettetbleiben im Kapitalismus bewegen könnten, ohne von diesem wieder verdrängt zu werden (vgl. ebd.).
Wie im dialektischen Materialismus üblich, stellt auch Eva von Redecker die handelnden Menschen, unter den jeweils vorgefundenen materiellen Bedingungen, ins Zentrum ihrer Analyse und ihrer Praxis. Dabei entledigt sich die Autor:in jedoch dem klassischen marxistischen Klassenverständnis und entwickelt dieses weiter. Klasse versteht sie nicht mehr nur als objektive soziale Position, die aus der Stellung im Produktionsprozess resultiert, sondern leitet aus ihrer Sachherrschaftstheorie ein Verständnis ab, wodurch sie Klasse als „alles, was im Dienste der Wertschöpfung eingehegt und geplündert wird“ (S. 83) verstehen kann. Dadurch wird Klasse als ein dem Kapitalismus inhärenter Kausalmechanismus teilweise entsubjektiviert. Eine Stärke dieser Erweiterung ist, dass Veränderungen der Natur als Teil des Klassenkampfes verstanden werden können. Dadurch wiederum können Naturverhältnisse und deren Schutz mit der Lohnarbeit im Kapitalismus zusammen gedacht und in eine solidarische Beziehung gesetzt werden.
Der von der Autor:in empirisch festgestellte neue Antagonismus von leben und nicht-leben ist eine wichtige Erkenntnis für die Charakterisierung aktueller emanzipatorischer Protestformen. Gerade unter den Bedingungen der kulminierenden Klimakrise, der Corona-Pandemie und den tödlichen Dimensionen von Patriarchat und Rassismus ist diese Tendenz nachvollziehbar. Leider entsteht im Buch allerdings der Eindruck, dass der empirische Befund dieses neuen Antagonismus Klassenkämpfe überwunden hat oder diese unsichtbar macht. Jedoch sind die sozialen Positionen, mit ihren objektiven Interessensgegensätzen unauflösbar mit dem Kapitalismus verbunden (vgl. Marx 2017: 229 ff.). Die von der Autor:in aufgeführten sozialen und ökologischen Kämpfe – Kämpfe für das Leben – wären damit immer auch als Klassenkämpfe verstehbar. Demirovic formuliert darauf bezogen zutreffend: „Wenn die Klassen sich immer im Kampf befinden, dann müssen alle Existenzformen der Klassen als eine spezifische Form des Klassenkampfes verstanden werden (vgl. Demirovic 2020: 431). Eine solche Perspektive bleibt im Buch leider marginal, obwohl sie im Kontext einer transformativen Machtstrategie hilfreich sein könnte, da der Lohnarbeit die Machtposition innewohnt Kapitalkreisläufe zu stoppen (vgl. Marx 2017: 232).
Die Protestformen, in denen Eva von Redecker die Spuren eines neuen gesellschaftlichen Weltverhältnisses erkennt, sind ein wichtiger Ansatzpunkt für die Revolution für das Leben. Sie bieten Räume, in denen Menschen sich ausprobieren können nicht-kapitalistische Formen der Arbeitsteilung und Organisation zu entwickeln. Dieser „utopische Überschuss“ (Bloch 1985: 247) darf die Protestformen als Ansatzpunkte jedoch nicht überhöhen, weil dabei die Gefahr besteht, dass diese neuen Beziehungsweisen sich gesellschaftlich isolieren, anstatt sich sukzessiv auszudehnen. Dies kritisiert auch Paradise, eine Aktivist:in, die bei der Besetzung des Dannenröder Forsts 2020 aktiv war: „Natürlich lassen sich jede Menge Dinge aus dem Waldleben lernen, was Zwischenmenschliches, Eigentumsstrukturen und Ähnliches angeht. Aber ein »Modell« für ein besseres Leben finden wir dort nicht (vgl. Paradise 2020: 29). Dies begründet Paradise damit, dass es einerseits an Erfahrungen in der Produktionssphäre fehle. Die Aktivist:innen organisieren zwar zwischenmenschlich ein neues Zusammenleben, stellen aber keine Güter her. Paradise betont folgendes: „Denn die Gesellschaft – das ist ein Ort, an dem ein Kampf ausgetragen wird“ (vgl. ebd.)! Die neuen Protestformen sind deshalb als experimentelle revolutionäre Vehikel zu verstehen, die versuchen sollten konsequent in die Gesellschaft zu wirken und sich dahingehend auszudehnen. Ansonsten laufen sie Gefahr verkapselte Randphänomene zu bleiben und verlieren an gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit
Fazit
Insgesamt ist das Buch ein philosophisches und literarisches Feuerwerk, das eine konsistente Theorie der Revolution für das Leben entwickelt. Eva von Redecker überzeugt die Leser:innen mit einem Revolutionsverständnis, welches eine liebevolle, achtsame und zwischenmenschliche Revolution vorschlägt und damit ein Transformationsnarrativ entwirft, dass den Revolutionsbegriff entstaubt und ihm wieder eine anschlussfähige Aktualität verleiht. Dabei verliert sie sich jedoch nicht in einem romantischen Idealismus, sondern formuliert eine materialistische Kritik, die antikapitalistisch, feministisch, antirassistisch und ökologisch ist. Besonders hervorzuheben ist der dialektische Kapitelaufbau des Buches. Dieser ermöglicht den Leser:innen das Gesamtwerk besser nachzuvollziehen und Eva von Redeckers dialektisches Verständnis der grundlegenden Kategorien zu verstehen.
Trotz teilweiser komplexer philosophischer Gedankengänge und Darstellungen bleibt das Buch verständlich, auch für Leser:innen, die sich noch nicht mit verschiedensten sozialwissenschaftlichen und philosophischen Klassikern beschäftigt haben. Besonders lebhaft und spannungsreich gestaltet das Buch die Kombination aus theoretischer Dichte, empirischen Beispielen und biografischen Erzählungen. Dadurch schafft es die Autor:ineine abstrakte philosophische Gesellschaftsanalyse an aktuellen und persönlichen Beispielen nachzuvollziehen.
Literatur
Bloch, E. (1985): Geist der Utopie. München: Suhrkamp Verlag.
Demirovic, A. (2020): Undoing Class. Warum von Klasse, Klassenkampf und Klassenpolitik reden. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. 50. Jg. Nr. 3. S. 449–440.
Marx, K. (2017): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. ungekürzte Ausgabe nach der zweiten Auflage von 1872. 6. Auflage. Hamburg: Nikol Verlag.
Nuss, S. (2019): Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Die große Wiederaneignung und das vergiftete Versprechen des Privateigentums. Berlin: Karl Dietz Verlag.
Paradise, S. (2020): Gibt es schon Frühstück und wo ist die Polizei?. In: Analyse und Kritik. Zeitung für linke Kritik und Praxis. Nr. 665. S. 28–29.
Wright, E.-O. (2019): Mit realen Utopien den Kapitalismus überwinden. In: Dörre, K./Schickert, C. (Hrsg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. München: oekom. S. 113–128.
Zelik, R. (2020): Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Rezension von
Christopher Grobys
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