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Nejma Tamoudi, Simon Faets et al. (Hrsg.): Politik der Zukunft

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 27.08.2021

Cover Nejma Tamoudi, Simon Faets et al. (Hrsg.): Politik der Zukunft ISBN 978-3-8376-4987-1

Nejma Tamoudi, Simon Faets, Michael Reder (Hrsg.): Politik der Zukunft. Zukünftige Generationen als Leerstelle der Demokratie. transcript (Bielefeld) 2020. 240 Seiten. ISBN 978-3-8376-4987-1. D: 29,99 EUR, A: 29,99 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Edition Moderne Postmoderne.

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Thema

Spätestens seit der klimapolitischen Bewegung „Fridays for Future“ ist offensichtlich, dass im heutigen Politikbetrieb die Interessen junger Menschen und zukünftiger Generationen zu kurz kommen. Viele heute getroffene politische Entscheidungen haben für deren weiteres Leben gravierende Folgen, ohne dass diese Entscheidungen von den kurz- und langfristig Betroffenen beeinflusst werden können. Bezogen auf die heute lebenden jungen Menschen ist die Frage wichtig, wie ihre politische Partizipation erweitert werden kann. Für zukünftige Generationen müssen allerdings zusätzlich Lösungen gefunden werden, um auch ihre politische Repräsentation zu ermöglichen und somit intergenerationelle Gerechtigkeit zu erreichen. 

In Deutschland wird diese Frage unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ in der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“ angesprochen, die die Bundesregierung 2002 beschlossen und 2017 unter Bezug auf die in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen formulierten globalen Nachhaltigkeitsziele aktualisiert hat. Darin wird als „erste Grundsatzregel“ für Politik und Gesellschaft proklamiert: „Jede Generation muss ihre Aufgaben selbst lösen und darf sie nicht den kommenden Generationen aufbürden. Zugleich muss sie Vorsorge für absehbare zukünftige Belastungen treffen.“ Doch wie die Interessen kommender Generationen in der Politik berücksichtigt werden können, wird nicht näher ausgeführt und bleibt bis heute ungelöst. Der vorliegende Sammelband widmet sich der Frage, wie die Politik in Staaten mit demokratischem Anspruch zukunftstauglich werden kann.

Entstehungshintergrund

Der Band ist aus dem Forschungsprojekt „Zukünftige Generationen als Leerstelle der Demokratie – Repräsentation und Beteiligung angesichts ökologischer und institutioneller Herausforderungen“ hervorgegangen, das von 2016 bis 2018 an der Hochschule für Philosophie München angesiedelt war und von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wurde. Die Herausgeberin Nejma Tamoudi und die beiden Herausgeber Simon Faets und Michael Reder sind am Institut für Ethik und Sozialphilosophie dieser Hochschule tätig. Der Band umfasst sieben deutsch- und drei englischsprachige Beiträge.

Aufbau und Inhalt

Alle Beiträge des Bandes sind von der Annahme geleitet, dass die Interessen, Bedürfnisse und Rechte zukünftiger Generationen bisher eine Leerstelle der repräsentativen Demokratie darstellen. Ausgehend von normativen Überlegungen zu intergenerationeller Gerechtigkeit zeichnen die Herausgerber*innen im Eingangskapitel die gegenwärtige politikphilosophische Debatte zur Repräsentation zukünftiger Generationen nach. Neben verschiedenen demokratietheoretischen und menschenrechtspolitischen Argumentationen führen sie mit Verweis auf den Bildungsbegriff und das Utopische zwei neue Aspekte in den Diskurs ein. Damit geben sie den Fokus des Sammelbandes vor, der ältere und neuere Zugänge zur Problematik der politischen Repräsentation vereint.

Der erste Teil des Bandes widmet sich unter der Überschrift „Zeitbezüge und Zukunftsvisionen“ den Herausforderungen der Zukunft in einem soziohistorischen und zeitreflexiven Sinn. Matthias Lievens untersucht im Anschluss an bisher wenig rezipierte Werke von Jean-Paul Sartre, wie intergenerationelle Relationen im Sinne einer soziohistorischen Dialektik von Freiheit und Unterdrückung konzeptualisiert werden können. Dominic Roser setzt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Klimadebatte mit dem Begriff der Hoffnung auseinander und wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen diese konkretisiert werden kann. Aus gesellschaftskritischer Perspektive widmet sich Henrike Knappe der Verschränkung „gegenwärtiger Zukünfte“ und „zukünftiger Gegenwarten“ und veranschaulicht diese am Beispiel einer neuartigen Nachhaltigkeitsinitiative der Stadt Baltimore in den USA.

Im zweiten Teil erfolgt unter der Überschrift „Gesellschaftskritik und Horizontbildung“ eine kritische Heuristik der Zukunft, die zwei spezifische Leerstellen des Diskurses um zukünftige Generationen problematisiert. Nejma Tamudi arbeitet die „aporetischen Widersprüche“ heraus, die sich aufgrund der fehlenden Berücksichtigung intergenerationeller Aspekte aus dem gesteigerten Einfluss bei gleichzeitig fehlender Gestaltungskraft ergeben. Simon Faets lotet im Anschluss an Antonio Gramsci unter demokratietheoretischen Aspekten das gesellschaftskritische Potenzial einer politischen Konzeption von Bildung als intergenerationelle Kritik und demokratischer Widerstand aus.

Der dritte Teil widmet sich unter der Überschrift „Repräsentation und Intergenerationalität“ den Repräsentationsproblemen und seinen politikphilosophischen Herausforderungen. Stefan Einsiedel arbeitet auf der Basis der liberalen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls und vor dem Hintergrund bestehender gesellschaftlicher Institutionen mögliche praktische Perspektiven für nachhaltigere Verfahren und Strukturen heraus. Lukas Köhler wägt konkrete nationalstaatliche Repräsentationsmöglichkeiten ab und präsentiert Überlegungen zu Verfassungsänderungen und Klageberechtigungen zukünftiger Generationen. Peter Lawrence diskutiert wiederum das Potenzial globaler Institutionen mit Blick auf intergenerationelle Gerechtigkeit und Demokratie am Beispiel sogenannter „Global Guardians for Future Generations“.

Im Schlusskapitel erläutert Anna Braan das Positionspapier der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen für eine „zukunftsgerechte Demokratie“. Darin werden in sieben „Bausteinen“ verschiedene „Zukunftsinstitutionen“ vorgeschlagen. Mit ihnen soll das Problem der bisherigen Demokratien gelöst werden, gegenwartsorientiert ausgerichtet zu sein und fast nur in den Intervallen von Legislaturperioden zu denken. Den schleichenden und zukünftigen Problemen, die insbesondere durch den Klimawandel und die demografische Entwicklung entstehen, soll dadurch auch mehr öffentliche Beachtung zuteilwerden.

Diskussion

Die meisten Beiträge sind im Bereich der politischen Philosophie angesiedelt und geben einen differenzierten Einblick in deren verschiedene Konzeptionen und Denkweisen mit Blick auf die aktuellen Defizite und die zukunftsorientierte Ausgestaltung demokratischer politischer Systeme. Einige Beiträge bewegen sich auf einem sehr abstrakten Niveau und sind für Leser*innen, die nicht mit den Begriffen der politischen Philosophie vertraut sind, gewiss schwer zu verstehen. Mitunter verstricken sie sich unnötigerweise in einem abgehobenen akademischen Jargon. Gleichwohl werden die Leerstellen demokratischer Repräsentation gut sichtbar.

Der Band hat seine Stärken vor allem dort, wo Bezüge zu aktuellen Praxen hergestellt werden, wie z.B. zur Nachhaltigkeitsinitiative in Baltimore. Auch die Beiträge, die die Debatten um strukturelle und institutionelle Neuerungen mit Blick auf die schwierig zu lösende Repräsentation zukünftiger Generationen nachzeichnen, vermitteln wichtige Hinweise darauf, was versucht wird und was dringend getan werden müsste. Dazu gehören z.B. unabhängige „Ombudspersonen für zukünftige Generationen“, eigens zu wählende und eigenständige „Zukunftsabgeordnete“ oder besondere „Nachhaltigkeits- bzw. Zukunftskammern“ der Parlamente mit Vetorechten zur Aufschiebung von Entscheidungen.

In Deutschland wurde schon früher vorgeschlagen, die von der Regierung ernannten und wenig einflussreichen Beiräte zu Nachhaltigkeits- und Zukunftsfragen durch „Zukunftsräte“ auf allen politischen Ebenen zu ersetzen oder durch ein „Bürgerforum“ zu ergänzen. Diese sollen mittels Losverfahren aus einem Querschnitt der Bevölkerung ausgewählt werden, wobei auch jüngere Menschen (allerdings keine Kinder) berücksichtigt werden sollen. Dabei geht es im Sinne eines radikalpolitischen Verständnisses von Demokratie darum, unterrepräsentierte oder nicht hinreichend sichtbare Ansprüche und Bedürfnisse hörbar und sichtbar zu machen und auf diese Weise die „Responsivität politischer Strukturen“, so die Herausgeber*innen, intergenerationell zu stärken.

Manche dieser Vorschläge wie etwa Ombudspersonen für zukünftige Generationen wurden gelegentlich von Regierungen und Parlamenten aufgegriffen, ihre Umsetzung blieb jedoch auf sehr wenige Länder beschränkt und sie wurden oft schnell wieder abgesetzt oder in ihren Funktionen eingeschränkt (wie z.B. in Ungarn und Israel). Institutionen für nachhaltige Politik (wie z.B. im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie der deutschen Bundesregierung) sind mit wenig oder gar keiner Macht ausgestattet. Umwelt- und Klimaschutzabkommen erlangen keine rechtliche Verbindlichkeit und können nicht eingeklagt werden.

Erstaunlich finde ich, dass in dem Sammelband die schon seit drei Jahrzehnten vorliegenden Überlegungen der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Edith Brown Weiss zur möglichen Bestimmung der Interessen zukünftiger Generationen nicht aufgegriffen werden. Diese lassen sich in drei Prinzipien zusammenfassen:

  1. Bewahrung der Möglichkeiten: Jede Generation muss die Vielfalt der kulturellen und natürlichen Ressourcen bewahren, damit zukünftige Generationen vergleichbare Möglichkeiten haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihre eigenen Probleme zu lösen.
  2. Bewahrung der Qualität: Jede Generation muss die natürliche Umwelt mindestens in dem allgemeinen Zustand übergeben, in dem sie erhalten wurde.
  3. Bewahrung des Zugangs: Jede Generation muss den gleichberechtigten Zugang zu den vorhandenen natürlichen Ressourcen für alle ihre Mitglieder gewährleisten und diesen Zugang auch für künftige Generationen sicherstellen.

Eine offene Frage, die auch im Buch nicht beantwortet wird, sehe ich darin, warum über allgemeine Absichtserklärungen hinaus grundlegende Änderungen zur Durchsetzung solcher Prinzipien immer wieder blockiert werden. Diese Blockaden sind meines Erachtens nur zu überwinden, wenn die heute lebende junge Generation ihren Druck auf den Politikbetrieb aufrechterhält. Dass es vor allem die heute lebenden jungen Menschen sind, die sich für zukünftige Generationen verantwortlich empfinden, zeigt sich bei „Fridays for Future“ und in einer Reihe von Klagen, die Kinder und Jugendliche gegen Regierungen im eigenen und in anderen Ländern wegen der Verletzung ihrer Rechte auf eine gesunde Umwelt eingereicht haben. Ein Beispiel ist die Petition, die 16 Kinder aus verschiedenen Regionen der Welt am 21. September 2019 an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes gerichtet haben. Darin klagen die Kinder fünf Staaten, die zu den führenden Wirtschaftsmächten der Welt gehören, für ihre Untätigkeit in der Klimakrise an und machen sie dafür verantwortlich.

Ein Manko der im Buch geführten Debatte um die Leerstellen der Demokratie sehe ich auch darin, dass Kinder als mögliche Repräsentant*innen zukünftiger Generationen in keinem Beitrag vorgesehen sind. „Zukunftsinstitutionen“ lassen sich meines Erachtens auf glaubwürdige und nachhaltige Weise nur in Verbindung mit dem Wahlrecht von Kindern verwirklichen, und zwar ohne von Erwachsenen festgelegte Altersgrenzen. Ein solches Wahlrecht wurde schon vor über 20 Jahren von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen gefordert und seitdem liegen durchaus praktikable Modelle hierfür vor. Das Wahlrecht von Kindern muss auch deren Recht einschließen, als Abgeordnete und/oder Mitglieder von Zukunftsinstitutionen gewählt zu werden und bei gerichtlichen Entscheidungen auf diesen Gebieten mitwirken zu können.

Fazit

Der vorliegende Sammelband macht die Leerstellen demokratischer Repräsentation im Hinblick auf die Interessen zukünftiger Generationen sichtbar, nicht immer in wünschenswerter Verständlichkeit und ohne alle offenen Fragen zu beantworten, aber er regt zum Nachdenken über notwendige Änderungen in den Entscheidungsprozessen politischer Institutionen an.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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Zitiervorschlag
Manfred Liebel. Rezension vom 27.08.2021 zu: Nejma Tamoudi, Simon Faets, Michael Reder (Hrsg.): Politik der Zukunft. Zukünftige Generationen als Leerstelle der Demokratie. transcript (Bielefeld) 2020. ISBN 978-3-8376-4987-1. Reihe: Edition Moderne Postmoderne. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27724.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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