Andreas Tapken, Klaus Wübbelmann: Aufstellungsarbeit in Organisationen
Rezensiert von Peter Schröder, 14.09.2021

Andreas Tapken, Klaus Wübbelmann: Aufstellungsarbeit in Organisationen. Organisationen verstehen und entwickeln mit Systemaufstellungen. Verlag Franz Vahlen GmbH (München) 2021. 150 Seiten. ISBN 978-3-8006-6367-5. 19,80 EUR.
Thema
Das Thema „Aufstellungen“ verbinden die meisten Menschen, die mit Fachdiskursen nicht vertraut sind, mit dem „Familienstellen“, wie es vor allem von Bert Hellinger entwickelt worden ist. Die Methode bildet Familieninteraktionen, -dynamiken und -konstellationen ab, um sie einer hilfreichen, heilsamen Bearbeitung zu öffnen. In seinem Buch „Ordnungen der Liebe“ beschreibt Hellinger die Prinzipien, nach denen (soziale) Systeme wie Familien „funktionieren“. Wenn es sich um Funktionsprinzipien sozialer Systeme handelt, liegt der Gedanke nahe, dass sie auch die Dynamiken anderer sozialer Systeme als Familien bestimmen, dass die Prinzipien also auf Organisationen übertragbar sind. In der Tat sind viele Aspekte der Arbeit von Hellinger auch auf Organisationen anwendbar, gleichzeitig müssen die Unterschiede markiert werden, weil Organisationen einer anderen Logik folgen als Familien: „Diese Ordnungen können auf Organisationen nicht übertragen werden, da sie Systeme anderer Art sind.“ (S. 96) Wohl aber haben Aufstellungsformate ihre klärende Kraft mittlerweile auch in Organisationen erwiesen. Es geht also um beides: Zum einen darum, die Erkenntnisse systemischer Aufstellungen im Organisationskontext nutzbar zu machen, und zum anderen darum, dort nicht mit systemfremden Vorstellungen zu arbeiten.
Die Autoren
Dr. Andreas Tapken (www.andreas-tapken.de) hat Theologie und Psychologie studiert, ist ausgebildeter Psychotherapeut, Systemaufsteller und Change-Berater. Er hat eine Professur für Psychologie in Rom bekleidet, war Lehrbeauftragter für Wirtschaftspsychologie und verantwortlich für den Bereich Organisationsentwicklung in einem großen internationalen Industrieunternehmen.
Klaus Wübbelmann (www.managementaudit.de) hat ebenfalls Psychologie und Theologie studiert und ist Diplompsychologe, ausgebildeter Coach mit Weiterbildungen in Aufstellungsarbeit in Organisationen. Beide Autoren arbeiten mit weiteren Berater/​-innen im Team „Rise Consultants“.
Aufbau und Inhalt
Die Autoren entfalten ihr Thema in acht Kapiteln, von denen das erste eine „Einführung“ und die Beschreibung der Zielgruppe des Buches bietet: Berater, Trainer, Coaches, aber auch erfahrene Familienaufsteller. Topmanager, Personalentwickler und andere Führungskräfte.
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit: „Herkunft, Grundlagen und Methode der Aufstellungsarbeit in Organisationen“. Zwei Abschnitte, die jeweils in weitere Unterabschnitte gegliedert sind, entfalten das Thema. Der erste, 2.1., beschreibt den „Nährboden Familienaufstellung“, nämlich die Arbeit Bert Hellingers, die verbunden sind mit seinen leitenden Grundannahmen über Familien. Der zweite, 2.2., referiert die grundlegenden methodischen Elemente seiner Aufstellungsarbeit – nicht zufällig zuerst das Phänomen der „aktualisierenden Repräsentation“. Ein strukturierendes Element aller Kapitel sind groß gedruckte einzelne Sätze, die zusammenfassende, aber nicht selten auch abgrenzende Inhalte haben.
Das dritte Kapitel widmet sich dem „Wahrnehmen, Erkennen und Verstehen in der Aufstellungsarbeit“. Die Leitfragen sind: „Wie lassen sich die in Aufstellungen stattfindenden Wahrnehmungsprozesse beschreiben? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die Wahrnehmung und die darauf gründende Erkenntnis möglichst zutreffend sind. Welche Art von Erkenntnis wird überhaupt in Systemaufstellungen gewonnen“ (S. 56)? Um diese Fragen zu beantworten, werden die zugrundeliegenden Theoriekonzepte dargestellt: Konstruktivismus, Phänomenologie und Hermeneutik.
Im vierten Kapitel wird der „‘Gegenstand‘ Organisation“ dargestellt. Auch hier gibt es zu Beginn einen groß gedruckten Leitsatz: „Eine Theorie der Familie ist nicht geeignet, Organisationen und ihre Komplexität auch nur annähernd zu erfassen.“ (S. 68) Eine Tabelle stellt die grundlegenden Unterschiede von Organisations- und Familiensystemen zusammen. „Struktur und Prozesse“, „Führung und Macht“, „Kommunikation“, „Sinn und Bedeutung“ und „Kultur“ sind die Aspekte, unter denen das Verständnis von Organisationen entfaltet wird.
Das fünfte Kapitel heißt: „Zwischenbilanz“, sichert die Erkenntnisse bis zu dieser Stelle und zieht entsprechende Schlussfolgerungen für die Aufstellungsarbeit in Organisationen.
Das sechste Kapitel wendet sich unter der Überschrift „Organisationsaufstellungen leiten“ und in vier Unterabschnitten der Praxis zu. Ein erster Unterabschnitt thematisiert die Grundhaltungen in der Aufstellungsarbeit generell, ein zweiter die Grundhaltungen in Organisationsaufstellungen, ein dritter deren Rahmenbedingungen und ein vierter schließlich beschreibt die einzelnen Phasen einer Organisationsaufstellung.
Das siebte Kapitel stellt „Rahmenbedingungen und Formate der Aufstellungsarbeit in Organisationen“ dar, und das achte Kapitel schließlich die „Anwendungsfelder“: Zum einen, was durch Aufstellungen in Organisationen sichtbar werden kann, zum anderen, welche organisationsinternen Aufgaben durch die Aufstellungsarbeit unterstützt werden können: Organisationsdiagnostik und -entwicklung, Change Management, Konfliktbearbeitung, Personalentwicklung und Führung.
Ein Literaturverzeichnis und eine Kurzvorstellung der Autoren beenden den Band.
Diskussion
Das Strukturprinzip von Organisationen ist ein anderes als das von Familien: Im Organisationskontext herrscht eine zielgerichtete Rationalität vor, in Familien eher eine die Dynamik bestimmende Emotionalität, denn: „Organisationen dienen einem Zweck“, und „Familien sind Schicksalsgemeinschaften“ (S. 68). Auf dem Hintergrund rationaler Prozesse wird in Organisationskontexten sehr viel deutlicher die Frage gestellt, warum Aufstellungen „funktionieren“, d.h. relevante Informationen zutage fördern, und ob diese Phänomene sich auch wissenschaftlich begründen lassen. Anderenfalls wäre die Methode in Organisationen deutlich weniger anschlussfähig – bis hin zu „suspekt“. Obendrein sind die Vorannahmen und Wertsetzungen Bert Hellingers auch unter den Theoretikern und Praktikern der systemischen Aufstellungen nicht undiskutiert geteilt. Und nicht genug damit, dass die Landschaft der Aufstellungsarbeit sehr vielfältig ist, steht auch, wie die Autoren betonen, „keine einheitliche und umfassende Organisationstheorie zur Verfügung“ (S. 70).
Die in Aufstellungen wirksamen Dynamiken wie z.B. die „repräsentierende Wahrnehmung“ lassen sich gut beschreiben und begründen, ohne dass ein „Zauberverdacht“ entstehen muss. Einer der groß gedruckten Sätze im Buch lautet nicht umsonst: „In der Tat scheint es dringend erforderlich, die Fähigkeit der Repräsentation in Aufstellungen, das Dargestellte im Hier und Jetzt nicht nur abzubilden, sondern erlebbar zu vergegenwärtigen, auf nüchterne und nachvollziehbare Weisen zu erklären“ (S. 37). Und dankenswerterweise verweisen die Autoren auf eine empirische Überprüfung und Begründung der Aufstellungsarbeit, die Peter Schlötter als Dissertation vorgelegt hat. Der Titel des im Carl-Auer-Verlag veröffentlichten Buches lautet: „Vertraute Sprache und ihre Entdeckung: Systemaufstellungen sind kein Zufallsprodukt – der empirische Nachweis“. Fritz B. Simon schreibt – als Doktorvater – im Klappentext: „Schlötter weist in diesem Buch nach, dass die Wahrnehmung der Position im Raum tatsächlich einer allgemein verständlichen Semantik folgt, vergleichbar einer Sprache.“ (Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer sprechen von einer „transverbalen“ Sprache.)
Aufstellungen zu Familienthemen erfordern Kenntnisse über Familienatmosphären und -dynamiken, über Transgenerationalität und sinnvolle Heuristiken. Aufstellungen zu Organisationsthemen sind noch komplexer und erfordern ein Fachwissen über die in Organisationen wirksamen Strukturen und Prozesse, über typische Kommunikationsverläufe, über die Themen Führung und Macht, über Sinn und Bedeutung der Organisation – also kurz über ihre „Kultur“. Dazu kann man in dem Band wichtige Perspektiven gewinnen, die freilich eigene Organisationserfahrungen nicht ersetzen können. Die Autoren beschreiben kenntnisreich, detailliert und sehr strukturiert die Gemeinsamkeiten und die grundlegenden Unterschiede von Familien- und Organisationsaufstellungen. Wenn es überhaupt einen Aspekt gibt, der möglicherweise zu kurz kommt, dann ist es die Brücke zwischen beiden Aufstellungsformen, die darin besteht, dass die Familie die erste „Organisation“ ist, der ein Mensch in seinem Leben begegnet und die auch für weitere Organisationsbegegnungen bedeutsam ist.
Als jemand, der in Systemischen Strukturaufstellungen nach SySt® ausgebildet ist, habe ich das Buch mit großem Gewinn gelesen und den Einsatz von Aufstellungsformaten im Businesskontext noch einmal aus einer weiteren Perspektive reflektieren können. Längst ist die Aufstellungsarbeit in Wirtschaftsunternehmen eingeführt und gut akzeptiert. Sie wird sich dennoch immer kritische Nachfragen gefallen lassen müssen. Das Buch von Tapken und Wübbelmann hilft, begründete Antworten zu geben.
Fazit
Der Liste „Wer sollte dieses Buch lesen?“ (S. 9) ist nichts hinzuzufügen – außer der Empfehlung, es tatsächlich zu lesen, denn das wird für alle genannten Gruppen einen deutlichen Gewinn bedeuten. Und dann lädt ja auch das ausführliche Literaturverzeichnis zur Weiterarbeit ein. Aber noch einladender sind reale Erfahrungen mit Aufstellungen in den verschiedensten Kontexten. Ganz sicher ist das Buch appetitanregend für beides!
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Zitiervorschlag
Peter Schröder. Rezension vom 14.09.2021 zu:
Andreas Tapken, Klaus Wübbelmann: Aufstellungsarbeit in Organisationen. Organisationen verstehen und entwickeln mit Systemaufstellungen. Verlag Franz Vahlen GmbH
(München) 2021.
ISBN 978-3-8006-6367-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27728.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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