Herbert Winkens: Fallsupervision in der Intensivpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 04.01.2022
Herbert Winkens: Fallsupervision in der Intensivpädagogik. Arbeitsbelastungen, Supervision und Resilienz von PädagogInnen in Intensivgruppen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 334 Seiten. ISBN 978-3-7799-6391-2. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Das vorliegende Buch ist die Dissertation des Verfassers, die Anfang 2020 von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Sie wurde von der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) für den Deutschen Kinder- und Jugendhilfepreis 2022 nominiert.
Verfasser
Prof. Dr. Herbert Winkens ist Sozialpädagoge mit vielen therapeutischen Zusatzausbildungen (u.a. Gestalt-, Familien- und Systemtherapie, Psychotraumatologie) und langjähriger Erfahrung in Beratung, Coaching und Supervision in der Jugendhilfe. Er hat einen Master als Supervisor/​Coach (M.Sc.) und ist in eigener Praxis in Köln tätig (https://www.supervision-jugendhilfe.de/). Seit 2016 hat er Aufsätze in Fachorganen veröffentlicht. Außerdem ist er als Hochschullehrer tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch entspricht im Aufbau einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit und besteht aus neun Kapiteln. Tabellen- und Abkürzungsverzeichnis sind der „Einleitung, Übersicht und Danksagung“ (S. 13-18) vorangestellt. Das Quellenverzeichnis (S. 295-323) komplettiert die Arbeit. Im „Anhang“ (S. 324-334) sind die Interviewleitfäden, eine Übersicht über das Kategoriensystem und die Erklärung zum Forschungsdatenschutz enthalten.
1. Forschungsgegenstand Supervision (S. 19-41)
Winkens beginnt mit einer begrifflichen Herleitung, stellt Definitionen des Begriffs aus verschiedenen Disziplinen vor, zeichnet Unterschiede im nationalen und internationalen Verständnis ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nach und fokussiert auf den Einfluss, den auch Berufsverbände auf das Verständnis ausüben. Supervision als Beratungsformat im ausgewählten Handlungsfeld ist mit hohen Erwartungen verknüpft, sodass es an der Zeit sei, zu überprüfen, welche Aspekte für die Stärkung psychischer Resilienz in Frage kämen. Als zentrale Bestimmungsfaktoren, die mit Supervision in Verbindung gebracht werden, behandelt der Autor im Einzelnen die nachfolgenden: (1) Berufs-, Arbeits- und Organisationsbezogenheit, (2) Personen- und Kooperationsorientierung, (3) interdisziplinäre Mehrperspektivität, (4) Komplexitätsbewältigungskompetenz, (5) mäeutischer Dialog, (6) Reflexion, (7) alternative Problembearbeitung, (8) Kooperations- und Koproduktionscharakter, (9) Verständigungsorientierung, (10) Spezifikum eines zeitlich und räumlich exzentrischen Ortes, (11) Supervision als beratende Tätigkeit und (12) Beratungs- und Dreieckskontrakt. Nach der allgemeinen Merkmalsbestimmung spezifiziert der Autor die Zieldimensionen im „Anwendungsfeld der Sozialen Arbeit“ (S. 35): Obwohl Supervision mit einer „Qualifizierung der Praxis und Berufsausübung“ (S. 41) konnotiert ist, ihr eine große Nähe zum Wertekanon der Sozialen Arbeit und eine salutogene Wirkung attestiert werde, sei es nötig, sie bedarfs-, kontext- und auftragsabhängig zu adaptieren und zu akzeptieren, dass sie an Grenzen in der Anwendbarkeit und Anwendung stoße.
2. Allgemeine Beschreibung des Anwendungsfeldes und der Zielgruppe von Supervision (S. 42-82)
An den Anfang stellt der Verfasser eine Charakterisierung der Anwendungsfelder stationäre Regelgruppen und stationäre Intensivgruppen der Erziehungshilfe, die er mit folgenden Unterpunkten leistet: (1) Grundverständnis Hilfen zur Erziehung, (2) Rechtsstaatliche Aufgabenprofile von Mitarbeitenden, (3) Fallzahlensteigerung, Kostenaufwand, verschiedene Angebotsstrukturen, (4) gesellschaftliche Bedeutung stationärer Erziehungshilfen, (5) Definitionsmerkmale der stationären Intensivgruppen, (6) Ziel- und AdressatInnengruppe der stationären Intensivgruppen aus psychopathologischer Sicht und (7) aus gesellschaftspolitischer Sicht, (8) Auftreten regel- und grenzüberschreitender Verhaltensformen der KlientInnen, (9) gesetzlicher Arbeitsschutz sowie (10) ökonomische Steuerung der stationären Erziehungshilfe. Danach geht er auf „typische berufliche Tätigkeits- und Anforderungsprofile von sozialpädagogischen Fachkräften“ (S. 65) ein, indem er zum einen das weite Spektrum sozialer Berufe mit unterschiedlichem Fachwissensbestand erwähnt, die in stationären Settings der Erziehungshilfe arbeiten, und zum zweiten Rollenprofile der Fachkräfte benennt, wie sie im SGB VIII fixiert sind. Zudem beschreibt Winkens einige „persönlichkeitsorientierte Kompetenzanforderungen“ (S. 70), die sich aus der Interaktion mit der Klientel, aber auch aus der Arbeitsorganisation ergeben: Hierzu gehören z.B. eine hohe Kontakt-, Krisen- und Konfliktfähigkeit, Selbstregulationsfähigkeit, eine Bereitschaft zur Selbstthematisierung u.a.m. Schließlich erwähnt er die besonderen Herausforderungen der „Arbeit mit KlientInnen im Zwangskontext“ (S. 72). Der dritte Unterpunkt gilt den Arbeitsteams, in deren Rahmen die Arbeit in Intensivgruppen stattfindet. Neben einer ausgeprägten Fähigkeit zur Teamarbeit und zum kollektiven Lernen werden das „Binnenverhältnis von Team und Organisation“ (S. 74) und von Teammitglied und Team thematisiert, die Hierarchie in Form von Team- oder Gruppenleitung einschließlich übergeordneter Einheiten sowie das „Aufeinander-Angewiesen-Sein“ inklusive eines hohen Abstimmungs- und Synchronisierungsbedarfs innerhalb von Teams (mit Schichtsystem) als Arbeitskontextfaktoren diskutiert.
3. Zum Beratungsformat Fallsupervision im Kontext stationärer Regelgruppen und Intensivgruppen der Erziehungshilfe (S. 83-101)
Supervision habe sich, so Winkens, bei den stationären Erziehungshilfen als „anerkanntes Verfahren“ (S. 83) etabliert und sei in vielen Konzeptionen von Einrichtungen festgeschrieben, womit nicht einhergehe, dass es, wie Studien aufdecken, durchwegs praktiziert oder von den Fachkräften abgerufen werde. Da sein Forschungsfokus auf der Fallsupervision liegt, geht er kurz auf die Entwicklung des Verfahrens im sozialpädagogischen Kontext ein, um die Bedeutung als methodisch angeleitetes und kontrolliertes Fremdverstehen zu betonen, das dazu dient, eine mehrperspektivische und reflexive Betrachtung hervorzubringen. Im nächsten Schritt beschreibt der Autor die „Kennzeichen von Fallsupervision“ (S. 87), wie sie in verschiedenen Konzepten idealtypisch vertreten werden, jeweils mit Verweis auf eine arbeitsfeldspezifische Anpassungsanforderung. Die auf die Personen, die Teams und Arbeitsgruppen sowie die Organisation gerichteten Aspekte von Fallsupervision werden im nächsten Abschnitt auf Supervision in und mit Teams eingegrenzt, wobei die kollegiale Fallberatung nicht weiterverfolgt wird. Trotz einer von ständigen Abweichungen gekennzeichneten Vorgehensweise bei der Fallsupervision und der wenigen potenziellen Standardisierungen, rekurriert Winkens auf einen idealtypischen Ablauf aus Falldarstellung, Fragestellung, Informationsverdichtung und -anreicherung und mehrperspektivischer Betrachtung. Ihm ist es wichtig, auch die Optionenvielfalt unterschiedlicher Wissensbestände der SupervisorInnen einzubringen und damit das Praxisverständnis anzureichern. Ein weiterer Punkt widmet sich der „Kontraktgestaltung“ und dem „Verhältnis zur Organisation“ (S. 97) und wie dieses bei der Auftragsklärung berücksichtigt wird. Abschließend verweist Winkens auf Grenzen und Risiken von Fallsupervision, die er aus seiner Literaturrecherche entnommen hat. Das Forschungsdesiderat der fehlenden theoretischen und empirischen Daten zur „Anwendung von Fallsupervision im Kontext von Intensivgruppen der Erziehungshilfe“ (S. 83) wird mit diesem Kapitel hinlänglich belegt.
4. Das Konstrukt der „psychischen Resilienz“ als Zielperspektive von Supervision (S. 102-131)
Winkens beginnt mit einem kurzen Einblick in die Herkunft des Konzepts der psychischen Resilienz, verweist auf diverse Modelle, und definiert es als relational, in dem die Widerstandskraft der Erwachsenen als Zusammenspiel von individuellen und sozialen Anforderungen, Ressourcen und Schutzfaktoren gesehen wird. Im Laufe der Entwicklung des Rahmenkonzepts Resilienz gab es nicht nur eine Ausweitung auf alle Lebensalter, sondern auch über das Individuum hinaus, indem z.B. organisationsbezogene, gesellschaftliche oder andere Makrofaktoren Eingang fanden. Schließlich wurde Resilienz auch „im Kontext von Arbeit“ (S. 110) verortet, mit der Folge, dass Trainingsprogramme zur „Steigerung psychischer Widerstandsfähigkeit von ArbeitnehmerInnen“ (S. 110) angewendet wurden, um sie gesund zu erhalten. Dafür bedarf es der Voraussetzung, dass Resilienz nicht als stabile Konstante angesehen wird, sondern als veränderbar gilt. Winkens konzentriert sich im Folgenden auf solche Studien, die eine Beeinflussung bzw. Modifikation durch verschiedene Interventionen nachweisen können. Um das Konstrukt Resilienz für die eigene Studie operationalisieren zu können, greift er drei Resilienz- und Schutzfaktoren heraus, zu denen es gesicherte Erkenntnisse gibt: (a) Selbstwirksamkeitserwartung, (b) soziale Unterstützung und (c) Kohärenzgefühl. Abschließend fasst er die bekannte Kritik am Resilienzkonstrukt zusammen, nicht ohne sie auch für seine Studie zu framen.
5. Ausgesuchte Arbeitsanforderungen von PädagogInnen stationärer Hilfen als potentielle Risikofaktoren für die psychische Gesundheit (S. 132-161)
Der Autor schickt zu Beginn Erkenntnisse zum „Verhältnis protektiver Resilienzfaktoren, potentieller Risikofaktoren und individueller Vulnerabilität“ (S. 132) voraus. Er schließt sich der Auffassung, Widerstandsfähigkeit als relationales Konzept zu sehen, an. Im zweiten Kapitel referiert Winkens angenommene und nachgewiesene Korrelationen zwischen Arbeitsanforderungen und der psychischen Gesundheit (mit differenzierter Betrachtung von Stress und Burnout) von ArbeitnehmerInnen im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Dabei bezieht er arbeitswissenschaftliche, psychologische und soziologische Studien mit ein und geht vom Allgemeinen zum Spezifischen vor, d.h. immer stärker auf die Kinder- und Jugendhilfe und die Intensivgruppen fokussiert. Im dritten Unterpunkt begründet der Verfasser „die Auswahl ausgesuchter Arbeitsanforderungen“ (S. 147), indem er die empirisch belastbaren Aspekte zu zwei Kategorien zusammenfasst: (1) Anforderungen, die aus der „Emotionsarbeit“ mit der mehrdimensional und komplex belasteten Klientel (z.B. sekundäre Traumatisierungen, Mitgefühlserschöpfung) resultieren und (2) Anforderungen, die sich aus „dem Verhältnis von Arbeit und Zeit“ ergeben (z.B. Arbeitsverdichtung, -tempo, -unterbrechung, Schichtarbeit).
6. Forschungsdesign (S. 162-226)
In diesem umfangreichen Abschnitt werden rekurrierend auf die vorausgehenden Ausführungen Forschungsziele, -gegenstand, -frage und -annahmen detailliert auf den Punkt gebracht. Danach stellt Winkens vor, welches Forschungsdesign er wählt, legt die Struktur offen, begründet sein Vorgehen und inkludiert jeweils die literaturbasiert vorzubringenden und für sein Design zu berücksichtigenden kritischen Einwände. Ebenso kritisch fundiert beschreibt er die Datenerhebung mittels strukturierter Interviewleitfäden, stellt dar, wie er seine Fragen mit den Erkenntniszielen verbindet, beschreibt die Auswahl und die Zusammensetzung der zehn befragten ExpertInnen (Einrichtungsart und -größe, Dauer der Berufstätigkeit, Supervisionserfahrung), die er in drei Gruppen einteilt (SupervisorInnen, PädagogInnen, Leitungskräfte) und anonymisiert kurz charakterisiert. Weitere Unterpunkte gelten der „Interaktionsdynamik“ (S. 210) bei den Interviews sowie seines eigenen Bezugs (Supervisor) zu den Beforschten und dem Forschungsfeld. Abschließend begründet Winkens, für welche Methodik der Datenauswertung er sich entschieden hat und beschreibt, wie er unter Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse seine zwölf Oberkategorien gebildet hat.
In dieses Kapitel eingebunden ist ein Unterpunkt, in dem Winkens den „Stand der wissenschaftlichen Erforschung von Supervision“ (S. 175) in einer Art Review darlegt, d.h. systematisch vorhandene Studien auf ihre wissenschaftliche Vorgehensweise, Reichweite und Resultate prüft und präsentiert, wobei er sich von einer arbeitsfeldübergreifenden Betrachtung der Erforschung von Fallsupervision auf die Resilienz zu einer spezifisch auf die Jugendhilfe fokussierte Vorgehensweise festlegt. Resümierend kann er festhalten, dass die referenzierten Studien jeweils eine für die psychische Gesundheit förderliche Wirkung von Supervision aufzeigen können, die Studien jedoch auf viele ungesicherte Vermutungen verweisen und er mit seiner Studie Neuland betritt.
7. Darstellung, Zusammenfassung, Interpretation und Diskussion der Ergebnisse (S. 227-289)
Der Systematik des Designs folgend präsentiert Winkens die zwölf Kategorien mit 70 Unterkategorien, in die er insgesamt 406 in den Transkripten belegte Fundstellen zugeordnet hat. Die Beschreibung der Ergebnisse richtet er an den vier Forschungsannahmen aus. (1) So ließen sich bei den PädagoInnen in Intensivangeboten die theoretisch eruierten multiplen Anforderungsfaktoren belegen und ein Zusammenhang von Arbeitsbelastung und psychischer Gesunderhaltung herstellen. Ebenso berichteten die Interviewten über persönliche Ressourcen und Kompetenzen und organisationsseitige Unterstützungsformen, die sich resilienzfördernd auswirken. Als wenig ergiebig erweist sich die Rolle von Gefährdungsbeurteilungen. Ebenso kann (2) das Vorhandensein von Fallsupervision als fachlich anerkanntes Beratungsformat bestätigt werden. Beim regelmäßigen Einsatz ergeben sich jedoch Diskrepanzen zwischen der Wirkungsbestätigung und der Umsetzung. Breite Zustimmung brachten die PädagogInnen, Leitungskräfte und SupervisorInnen der die psychische Resilienz fördernden Stärkung auf vielerlei Ebenen (Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit des Tuns, Resonanzphänomen, Entdecken neuer Handlungsoptionen u.a.m.) entgegen. Auch dass Fallsupervision die Resilienzfaktoren soziale Unterstützung, Selbstwirksamkeitserwartung und das Kohärenzgefühl fördern (3), wurde intensiv bestätigt, wobei jeweils eine situationsadäquate Umsetzung sowie andere Umsetzungsbedingungen (wie z.B. die Feldkompetenz der SupervisorInnen, spezifische Kenntnisse, andere fachliche Angebote der Organisation wie z.B. Fortbildungen zur Traumapädagogik) mitbedacht werden müssen. Eine organisationale und gesellschaftliche Zuschreibung von Selbstverantwortung der Mitarbeitenden für die Arbeitsbelastungsfaktoren (4) konnte dagegen in der Studie überwiegend nicht bestätigt werden. Insgesamt ergibt sich daraus eine – mit Einschränkungen – versehene Bestätigung seiner Forschungsfrage unter den auf die Befragung zutreffenden Bedingungen und Voraussetzungen des Gegenstands. Schließlich ließen sich einige optimierende Hinweise zur Förderung von Resilienz entnehmen (z.B. Entlastung, Selbstthematisierung, Anwendungsorientierung, Konkretheit). Zum Schluss des Kapitels ordnet Winkens die Resultate hinsichtlich ihrer Reichweite und Gültigkeit ein und unterzieht sie einer kritischen Betrachtung (sowohl im Hinblick auf das Zustandekommen wie auch auf die Erwartungshaltung).
8. Forschungsausblick (S. 290-292)
Ausgehend von den bekannten und den selbst eruierten Ergebnissen formuliert Winkens Fragestellungen für Anschlussforschung: So gilt es z.B. der organisationalen Wahrnehmung von Belastung bei den ArbeitnehmerInnen und deren gesundheitspräventiven Einfluss mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch die Optionen von Fallsupervision sind noch zu wenig erforscht. Es fehlt an Längsschnittstudien und an einer systematischen Offenheit für eine Verschränkung von Wissen zur Fallsupervision, das mit BerufspraktikerInnen und für das handlungspraktische Können entwickelt wird.
9. Schlussbemerkung (S. 293-294)
Abschließend verdeutlicht der Autor die Grenzen von Fallsupervision im organisationalen Kontext und verweist auf systemgegebene Machtrelationen, die es auch anzuerkennen gilt, um die Mitarbeitenden in der Erziehungshilfe nicht in eine Selbstoptimierungsspirale hineinzutreiben. Zudem erwähnt er die noch zu wenig genutzten gesundheitspräventiven Aspekte.
Diskussion
Diese Publikation strahlt von Beginn an die Gründlichkeit und Beflissenheit einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit im positiven Sinn aus. Das spiegelt sich in der sorgfältig sequenzierten Abarbeitung der Inhaltsaspekte (u.a. Supervision, Anwendungsfeld Jugend- und Erziehungshilfe, Resilienz, pädagogische Fachkräfte, Fallsupervision) wider. Relevante Erkenntnisse sind überzeugend recherchiert und fragestellenbezogen aufbereitet. Immer ist der Verfasser darauf bedacht, Studien heranzuziehen, deren Erkenntnisse einzuordnen und sie für das eigene Forschungsinteresse zu nutzen. Ebenso akribisch wird die eigene Studie methodisch begründet, in den Annahmen dargestellt, die Operationalisierung erklärt, das Vorgehen erläutert und die Ergebnisse mit Blick auf das Erkenntnisinteresse dargestellt. Bei allen Schritten wird Winkens nicht müde, auch mit kritischer Distanz auf den Gegenstand, das Vorgehen, seine Rolle als Forscher, die Reichweite der Ergebnisse zu blicken. Damit demonstriert er gute wissenschaftliche Praxis in Reinform; manchmal miniaturisiert er dadurch den von ihm gewonnenen Erkenntnisanteil angesichts anderer, häufig weniger reflektierter bzw. weniger stringent operationalisierter Studien. Bei dem die gesamte Arbeit charakterisierenden Stil, auf die kommenden theoretischen oder empirischen Erkenntnisse zu verweisen bzw. bei der Darstellung der Resultate auf die vorangegangenen Kapitel zu rekurrieren, offenbart sich die Komposition der Arbeit, befördert aber auch eine gewisse Langatmigkeit und bisweilen kleine Redundanzen. Hier würde eine Überarbeitung der wissenschaftlichen Studie für die Fachinteressierten eine kürzere und verdichtete Version des Textes erbringen.
Zu den auf die Professionsentwicklung und die Berufsfeldspezifik zielenden Vorteilen der Studie gehören zweifelsohne die breite interdisziplinäre Verankerung. Sie bereichert die Perspektive auf das Beratungsformat Fallsupervision, das eben nicht nur auf die pädagogische Fachkraft zielt, sondern die Umweltfaktoren des Teams, der Organisation und des Jugendhilfesystems einbezieht, obschon dadurch eine Fülle von potenziellen Einflussfaktoren entsteht, die die Forschungsarbeit erschweren. Damit entgeht der Autor der Gefahr, die in der Vergangenheit oft prädominant unterstellte kausale Wirkungskette zu replizieren und Gefährdungen der psychischen Gesundheit auf „versagende“ oder „nicht-funktionierende“ Fachkräfte abzulagern. Da Fallsupervision in den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit eine große Bekanntheit und Akzeptanz genießt und in der Berufspraxis gelegentlich auch mit überhöhten Wirkungserwartungen verknüpft wird, „entzaubert“ Winkens zwar dieses Beratungsformat, erweist ihm m.E. aber auch den Dienst, es einzureihen in wirksame, aber nicht all-wirksame Supportstrukturen für sozialpädagogische Fachkräfte. Damit verdeutlicht der Autor auch, dass es ihm gelungen ist, seine Rolle während des Forschungsprozesses methodisch zu kontrollieren.
Fazit
Das Buch liefert Resultate einer gelungenen Studie zu einigen Relationen von Arbeitsbelastung, Fallsupervision und psychischer Resilienz im Anwendungsfeld Intensivgruppen der Erziehungshilfe. Neben den inhaltlichen Erkenntnissen besticht es durch eine durchgehende methoden-kritische Haltung, die die Ergebnisse nicht schmälern, sondern deren Wert steigern. Als Lektüre ist es den Fachleuten aus der Jugend- und Erziehungshilfe sehr zu empfehlen. AspirantInnen, die sich in diesem Arbeitsfeld wissenschaftlich weiterqualifizieren wollen, kann es zudem als Musterbeispiel einer Vorgehensweise dienen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 04.01.2022 zu:
Herbert Winkens: Fallsupervision in der Intensivpädagogik. Arbeitsbelastungen, Supervision und Resilienz von PädagogInnen in Intensivgruppen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-6391-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27751.php, Datum des Zugriffs 08.10.2024.
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