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Clara Arnold, Oliver Flügel-Martinsen et al.: Kritik in der Krise

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 03.05.2021

Cover Clara Arnold, Oliver Flügel-Martinsen et al.: Kritik in der Krise ISBN 978-3-8487-6998-8

Clara Arnold, Oliver Flügel-Martinsen, Samia Mohammed, Andreas Vasilache: Kritik in der Krise. Perspektiven politischer Theorie auf die Corona-Pandemie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 210 Seiten. ISBN 978-3-8487-6998-8. 39,00 EUR.

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Thema

Seit der Aufklärung gilt kritisches Denken als Kern wissenschaftlicher Innovation. Seit Beginn der Corona-Krise sind kritische Äußerungen zur Corona-Politik der Bundes- und Länderregierungen -vor allem in den Medien- selbst der Kritik ausgesetzt. “Kritik scheint angesichts der Corona-Pandemie den Atem anhalten zu müssen“ (7). Die kritische Reflexion dessen, was aktuell passiert, scheint gegenwärtig nachrangig zu sein und läuft die Gefahr als Delegitimierung von Krisenprozessen missverstanden zu werden. Dabei ist die Kritik in der Krise wichtiger denn je, „um (Herrschafts)Verhältnisse zu verstehen und zu verändern“ (7). Die Beiträge des Sammelbandes versuchen, den kritischen Diskurs zum Thema Corona aufrecht zu erhalten.

Autor*innen

Die Autor*innen studieren, promovieren und lehren mehrheitlich an der Universität Bielefeld in den Fächern Soziologie und Politikwissenschaften.

Entstehungshintergrund

Da das seit dem Sommersemester 2019 bestehende Kolloquium zu kritischer politischer Theorie aufgrund der Corona-Verordnungen nicht mehr als Präsenzveranstaltung durchgeführt werden konnte, gestalteten es die Autor*innen zu einer digitalen Textwerkstatt um, in der die Beiträge in gemeinsamer Praxis entstanden sind.

Aufbau

Die Systematik des Bandes besteht in vier unterschiedlichen Verschränkungen von Kritik und Krise:

  1. Neue Krisen in der Kritik (17-69)
  2. Kritik von Regierungstechniken in der Krise (73-130)
  3. Krise als Brennglas (133-180) und
  4. Kritik im Krisenmodus (183-207)

Inhalt

Der Beitrag von Jonas (17-32) befasst sich mit dem Alltag als kritischer Denkfigur politischer Theorie in der Corona-Krise. Theoretisch fußt er auf Bargetz  und Lefebre die Alltag als politischen Kampfplatz verstehen. Dem Alltag inhärent ist die relative Gewissheit einer täglichen Wiederkehr, gleichzeitig aber auch die Modifikation der Repetition. Die Aufforderung #stayathome verklärt ihrer Ansicht nach das Zuhause als Black Box der Sicherheit. Das Erkenntnisinteresse des Textes zielt auf das Narrativ der Rückkehr zur Normalität. Jonas stellt die Frage, wessen Normalitätsvorstellung Teil des Diskurses ist. Es herrsche die Denkfigur vor, dass ein Impfstoff die Krise beendet. Dadurch werde die Krise auf ein lediglich medizinisches Infektionsgeschehen reduziert.Normalität sollte jedoch keine Rückabwicklung der Ausnahme bedeuten, „um sodann vor allem ökonomischen Akteur*innen ein unhinterfragtes Fortschreiten zu gewähren“(29). Der Alltag als Denkfigur kann Macht- und Herrschaftsverhältnisse hyperrealistisch, d.h. übersteigert, hervortreten lassen. Die Begriffskategorien neue und alte Normalität sind laut Jonas untauglich.

Mohammed (33-47) konstatiert im anschließenden Beitrag, dass eine Rückkehr zur Vor-Corona-Normalität nicht wünschenswert ist, da sie „Abhängigkeit, Machtlosigkeit und Unterdrückung bedeutet“ (43). Zu welchem Zweck und wie Freiheit eingeschränkt werden dürfe, müsse daher Gegenstand von Aushandlungsprozessen sein.

Für Passler (49-60) sind die verwendeten Kriegsmetaphern in der Corona-Krise sehr auffällig. Frankreichs Präsident Macron formulierte, wir sind im Krieg. Der englische Premier Boris Johnson bezeichnete das Virus als Feind. Angela Merkel wählte den Zweiten Weltkrieg als Vergleichsfolie für die Corona-Krise. Die Verwendung der Kriegsmetaphorik in der Corona-Krise habe die Wirkung -so Passler-, „die Tätigkeiten der Regierung gegen Dissens zu immunisieren“(58).

Vasilache (61-69) wählt Paradoxien in der Pandemie als Gegenstand und exemplifiziert diese insbesondere an der Diskussion zu Immunitätsausweisen. Für ihn „eröffnet die Verortung der faktisch bestehenden Immunitätsausweise innerhalb des (staat-)rechtlichen Normalbetriebs die Möglichkeit ihrer unablässigen rechtsstaatlichen Hinterfragung und Kritik“ (67).

Ramadani (73-85) diskutiert, inwieweit die Corona-Krise einen biopolitischen Ausnahmezustand darstellt. Nach einer Klärung der Begrifflichkeit „Ausnahmezustand“ weist er mit Bezug auf Sabrow darauf hin, das Gesellschaften die Tendenz haben, Ausnahmezustände zur Normalität werden zu lassen. Als Mittel gegen jede unverhältnismäßige Einschränkung demokratischer Rechte sieht er Diskurs sowie politische Initiativen, den Rechtsweg oder Wahlen. „Nur so können wir Mundschutz tragen, ohne mundtot zu sein“ (84).

Duncker (87-102) befasst sich mit Rückgriff auf Foucault intensiv mit der Differenz zwischen „Biomacht“ und „Biopolitik“. Biopolitik ist für ihn die Technik, die sich in den Dienst der Biomacht stellt. Das moderne Gesundheitssystem der Biomacht beruhe auf einer starken Biopolitik. Die habe dazu geführt, dass die Imperative der Kostenminimierung medizinische Versorgungsansprüche überformen. Der Effekt war eine Herabsetzung der Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems. Das Bemerkenswerte der Corona-Pandemie als Paradebeispiel ist, „dass offenbart wurde, wie ein Staat reagiert, wenn seine neoliberal zugerichtete Biopolitik ihre Funktion im Gesundheitsdispositiv nicht mehr bewältigen kann“ (91). Das Corona-Dispositiv ist auf eine disziplinierte Bevölkerung angewiesen kombiniert mit dem Einsatz von Pastoralmacht und der digital gestützten Selbststeuerung durch Tracing-Apps.

Der Text von Klement (103-116) versteht sich als Warnung vor der bedrohlichen Dominanz von Ängsten und funktionaler Schutzpolitik. Werte ebenso wie Emotionen und Interessen dürften nicht zu einer „Begriffshülle für Systemprobleme verkommen und von diesen diktiert und nur instrumentalisiert werden“ (115). Das Austragen von Konflikt als zentrale Aufgabe politischer Selbstgestaltung ist daher wichtig.

Tiefenthal (117-130) vertritt die These, dass weder der Ausbruch der Corona-Pandemie noch die Reaktionen westlicher Demokratien überraschend sind. Die während der Pandemie aufgetretenen Probleme ergäben sich aus internen Konstellationen und Motiven eines bestimmten Politik- und Gesellschaftsverständnisses. Animistische Narrative werden eingesetzt, um vermeintliche Notwendigkeiten zu rechtfertigen (Zizek). Die biopolitischen Machtzugriffe werden während einer Pandemie besonders deutlich. „Die wirklichen Gefahren bestünden vielmehr darin, sich neuen vermeintlichen Notwendigkeiten unterzuordnen, neue Ordnungs-und Machtzugriffe zu akzeptieren“ (122). Dazu gehört beispielsweise die Akzeptanz einer flächendeckenden Bewegungsdatenspeicherung. Ob wir uns in einer Kata- oder Anastrophe befinden, ist für Tiefenthal noch nicht entschieden.

Die drei Beiträge von Weiher, Maldous und Marschner beschreiben ausgewählte Aspekte. Weiher (133-149) diskutiert den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Männlichkeit, Marschner (165-180) den Zusammenhang von Corona und Klimakrise und Maldous (151-164) greift Agamben's Figur des Homo Sacer, des 'Vogelfreien' auf, um das Leben in Syrien mit Corona zu beschreiben.

Flügel- Martinsen (183-195) konstatiert, dass die Corona-Krise in starkem Maße wissenschaftliche Diskurse beeinflusst. Er bedauert, dass ein am naturwissenschaftlichen Modell orientiertes Wissenschaftsverständnis sehr dominant geworden ist und „ein Pluralismus wissenschaftlicher Erkenntnismodelle noch nicht einmal in Betracht gezogen wird“ (183). Ein solches einseitiges Wissenschaftsverständnis enthält die Gefahr wesentliche Dimensionen kritischer Erkenntnis und Reflexion nicht wahrzunehmen und keinen Raum für eine objektivitäts- und wahrheitsskeptische, kritische politische Theorie zu lassen. Die dadurch bewirkte unterkomplexe Reflektion verliert die durch Corona verstärkten Ungerechtigkeitsstrukturen aus dem Blick. Foucault hat darauf hingewiesen, dass es sich bei Sinnordnungen immer auch um Machtordnungen handelt, das gilt auch für die Einordnung und Gewichtung vermeintlicher naturwissenschaftlicher Tatsachenwahrheiten. Flügel-Martinsen erinnert daran, dass alltägliche Überzeugungen und Wahrheiten Ausdruck von hegemonialen Ordnungen sind (Gramsci). Deshalb ist eine kritische (Selbst)Reflexion von als selbstverständlich Angenommenem und eine Diagnose von Asymmetrien der Machtbeziehungen notwendig.

Im abschließenden Beitrag des Bandes plädiert Arnold (197-207) für die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von leiblicher Präsenz an den Hochschulen. Bei leiblicher Präsenz handelt es sich „immer auch um die Erfahrung eines Weltverhältnisses, das bestehende (Sinn)Ordnungen performativ und materiell herausfordert.“

Diskussion

Alle Autor*innen nehmen in ihren Beiträgen die von Flügel-Martinsen herausgearbeitete wahrheitsskeptische Position einer kritischen politischen Theorie ein. Eine solche Position hat es in Zeiten von naturwissenschaftlicher und biopolitisch geprägtem Herrschaftsanspruch im Diskurs nicht leicht. Umso verdienstvoller ist es, dass die Autor*innen herrschende Auffassungen im und zum Corona-Pandemiediskurs konsequent dekonstruiert haben und systematisch auf die biopolitischen Machtzugriffe hingewiesen haben. Das Lesen der Beiträge ist uneingeschränkt zu empfehlen, sowohl zur Horizonterweiterung wie auch als Manual für eigenes wissenschaftliches Arbeiten.

Fazit

Der Band „Kritik in der Krise“ ist das Ergebnis einer digitalen Textwerkstatt, die aus einem Kolloquium zu kritischer politischer Theorie hervorgegangen ist. In den dreizehn Einzelbeiträgen werden unterschiedliche Verschränkungen von Kritik und Krise erörtert. Unter Bezug auf nahmhafte Autor*innen (z.B. Bargetz, Lefebre, Foucault, Agamben, Zizek, Waldenfels) und mit zahlreichen Belegen werden Alltag, Normalität und Ausnahmezustand in der Krise, Narrative und Metaphern der Corona-Pandemie sowie die Auswirkungen von Biomacht und Biopolitik diskutiert. Die Beiträge zeigen, dass ein kritischer und diskursiver Analyseansatz sinnvoll und notwendig ist, um die Corona-Pandemie und die durch sie ausgelöste gesellschaftliche Erschütterung in der ganzen Komplexität des Geschehens zu verstehen.

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 18 Rezensionen von Dieter Korczak.

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Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 03.05.2021 zu: Clara Arnold, Oliver Flügel-Martinsen, Samia Mohammed, Andreas Vasilache: Kritik in der Krise. Perspektiven politischer Theorie auf die Corona-Pandemie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. ISBN 978-3-8487-6998-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/27756.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.


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