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Annette Ullrich, Karin E. Sauer: Pädagogik für die Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 30.08.2021

Cover Annette Ullrich, Karin E. Sauer: Pädagogik für die Soziale Arbeit ISBN 978-3-8487-5340-6

Annette Ullrich, Karin E. Sauer: Pädagogik für die Soziale Arbeit. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2021. 250 Seiten. ISBN 978-3-8487-5340-6. 24,90 EUR.

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Entstehungshintergrund und Thema

Der Band erweitert als Nr. 7 die Nomos-Verlagsreihe „Studienkurs Soziale Arbeit“ und konzentriert sich auf die erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Facetten, die in den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit adressiert werden. Den Interessens- und Arbeitsgebieten der Autorinnen folgend werden exemplarisch aktuelle Wissens- und Praxisgebiete herausgehoben, anhand derer der Kompetenzerwerb der Studierenden unterstützt werden kann.

Verfasserinnen

Annette Ullrich, Ph.D. ist Professorin für Erziehungswissenschaft, Bildung und lebenslanges Lernen an der Fakultät Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) am Standort Stuttgart. Ihr Interessens- und Forschungsgebiet umfasst neben das der Denomination Stress und Coping.

Dr. Karin E. Sauer ist Professorin für Soziale Arbeit an der Fakultät für Sozialwesen der DHBW Villingen-Schwenningen. Sie forscht über Inklusion und Exklusion, Cultural und Disability Studies, Globales Lernen sowie Community Music. Beide verfügen über internationale Studiums-, Praxis- und Lehrerfahrungen.

Aufbau und Inhalt

Alle Kapitel – außer der Einführung – beginnen mit einer Zusammenfassung. Am Ende befinden sich Übungsfragen, die einerseits den Inhalt betreffen, z.T. aber auch anregen, eigene Erfahrungen einfließen zu lassen, zu transferieren bzw. zu reflektieren. Danach wird auf weiterführende Literatur hingewiesen. Zusammenfassungen, Übungsfragen und Portraits sind optisch hervorgehoben. Literaturverzeichnis (S. 173–186) und Stichwortverzeichnis (S. 187–188) beschließen den Band.

Das Buch gliedert sich in die nachfolgenden Kapitel:

1. Einführung. Pädagogik und Soziale Arbeit (S. 7–11)

Die Verfasserinnen beabsichtigen, mit den ausgewählten Inhalten Studierende anzuregen, sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen, die für die Bewältigung von pädagogischen Anforderungen an das sozialarbeiterische Handeln dienlich sind. Mit dem Verweis auf „Soziale Arbeit als Grenzbearbeiterin“ (nach Fabian Kessl und Susanne Maurer) verlangen sie eine kritische, emanzipatorische und im Kontakt mit der Klientel stehende Soziale Arbeit. Dass sie Studierende nur anstoßen können, eine pädagogische Haltung aufzubauen, aber keineswegs das weite pädagogische Feld der Sozialen Arbeit abzudecken vermögen, ist Ullrich & Sauer bewusst.

2. Anthropologische Grundlagen (S. 13–21)

Anthropologische Grundlagen werden in der pädagogischen und philosophischen Anthropologie behandelt. Mit Verweis auf verschiedene Vertreter:innen werden Instinktarmut und Bildsamkeit des Menschen begründet und Enkulturation, Sozialisation, Erziehung und Individuation (2.1.1) auf individueller und gesellschaftlicher Ebene besprochen. Der Mensch als „Geistwesen“ ist Gegenstand der philosophischen Anthropologie. Mit den Argumenten von Freerk Huisken werden die Erziehungsbedürftigkeit und die Erziehungsfähigkeit des Menschen als Setzungen der pädagogischen Anthropologie kritisch hinterfragt. Am Beispiel der sog. „Wilden Kinder“, wie sie von Jean-Marc Gaspard Itard (1774-1838) beschrieben werden, demonstrieren Ullrich & Sauer das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit zur Erziehung und den Grenzen erzieherischen Handelns. Auch auf die Biografie wird eingegangen, weil der Mensch aktiv an den pädagogischen Prozessen mitwirkt und nicht nur Adressat ist. Dies spiegelt sich in „biografischer Illusion“ und „Weltvergessenheit“ (S. 19) wider, wenn außer Acht gelassen wird, dass individuelle Äußerungen vorgeprägt sind und von lebensgeschichtlichem Vollzug weiter beeinflusst werden. Ähnlich argumentieren bildungsphilosophische Ansätze, die mit fortschreitendem Lebensalter eine Hinwendung zu inneren Motiven konstatieren. Abschließend werden Gefühle als „Bestandteil des Menschenbilds“ (S. 20) thematisiert.

3. Was ist Erziehung? (S. 23–39)

Die Definition von Erziehung nach Wolfgang Brezinka (1928-2020), der Erziehung als absichtsvolles Handeln versteht, Menschen zielgerichtet zu fördern, und die Begriffsbestimmung von Friedrich W. Kron (1933-2016), der Erziehung als wechselseitiges soziales Handeln mit emanzipatorischer Absicht auffasst, markieren den Beginn des Abschnitts. Ein kurzer Hinweis auf Erziehungsmethapern (z.B. die des Gärtners oder Bildhauers) und die Ziele, Normen und Werte, die mit Erziehung verfolgt werden, schließen sich an. Es folgt ein kursorischer Abriss der Erziehungsstile und deren Auswirkungen auf die Einzelnen und die Gruppe. Für die Annäherung an die Reformpädagogik (Anfang des 20. Jahrhunderts) wählen die Autorinnen einen internationalen Blickwinkel: Sie stellen den pädagogischen Ansatz von Rudolf Steiner (1861-1925) und die von ihm gegründete Waldorfpädagogik in der Bedeutung für die Zeit, die Rezeption und auch eine kritische Betrachtung dar. Ausführungen zum pädagogischen Ansatz von Janusz Korzcak (1879-1942) sowie ausgewählte pädagogischen Regelungen zur Struktur des Zusammenlebens unter Achtung der Würde des einzelnen Kindes schließen sich an.

4. Bildung (S. 41–62)

Handlungsformen Sozialer Arbeit begleiten auch Bildungsprozesse, indem Menschen bei der Selbst- und Weltaneignung unterstützt werden. Der Bildungsbegriff ist eine deutsche Besonderheit, die zum Ausdruck bringt, wie Menschen in der Auseinandersetzung mit sich und der Kultur zu einer Persönlichkeit werden, weshalb „Bildung eine pädagogische Grundkategorie“ (S. 41) im Unterschied zur Erziehung bleibt. Kritisiert wird, dass im Laufe der Geschichte der ursprünglich emanzipatorische Impetus vielfach überformt wurde, eine Erkenntnis, die der kritischen Bildungstheorie zu verdanken ist, die zugleich auf bestehende Gefahren von Degradierung, Vereinnahmung und Entsolidarisierung verweist. Bildung lässt sich nach Ansicht der Verfasserinnen nur annähernd bestimmen. Ein modernes Bildungskonzept müsse eine sachliche, temporäre, soziale, wissenschaftliche und autobiografische Dimension enthalten, die auf Kontexte von Arbeit, Rationalität und Wissenschaft, Subjektivität, Wertorientierung und Ethik zu beziehen seien und Momente kritischer Selbstbildung enthalten müssen. Beispielhaft werden die Dimensionen von Bildung des Philosophen Peter Bieri (*1944) aufgeführt, die eine besondere Form „des in der Welt zu sein“ beschreiben. Ein Unterkapitel widmet sich der mit Bildungsabschlüssen verbundenen und sich replizierenden sozialen Ungleichheit und ein weiteres der „Alltagsbildung“ als sozialpädagogische Perspektive, die nach anderen als formal-institutionalisierten Orten, anderen Formen und anderen Inhalten frägt und damit einen erweiterten Bildungsbegriff (Lebensweltorientierung) repräsentiert. Auch auf die Bedeutung von Bildung im Kontext des lebenslangen Lernens wird (kritisch) eingegangen. Das Kapitel endet angesichts der Bedeutung von Emotionen für Bildung, Lernen und Lebensbewältigung mit einer Diskussion um „positive Gefühle als Bildungsauftrag“ (S. 58).

5. Pädagogisches Denken und Handeln (S. 63–94)

Ausgehend von den Lerndimensionen Können, Wissen und Wollen, die mit unterschiedlicher Priorisierung während des Lernens über die Lebensalter relevant sind, ist der pädagogische Takt das besondere Vermögen, in unsicheren Situationen gelassen zu handeln. Das Zeigen (ostensives, repräsentatives, direktives, reaktives) ist mit Bezug auf Prange die pädagogische Grundoperation, auf welche die Verfasserinnen rekurrieren und die sie den Formen der Erziehung und des Lernens zuordnen. „Pädagogisches Ethos“ (S. 69) basiert auf ethischen Grundsätzen, einer „Moral des Zeigens“ (S. 70), die Orientierungsgesichtspunkte liefern für Familie, Schule und Lernen im Lebensverlauf. Pädagogisches Handeln lässt sich nach Ansicht von Ullrich & Sauer bestimmen als eine auf Menschen gerichtete, theoriegeleitete, zielgerichtete und bewusste Tätigkeit in einer pädagogischen Konstellation zum Aufbau von Mündigkeit. Ausdruck von Respekt, Offenheit für situativen Veränderungsbedarf und Reflexion sind Merkmale einer professionellen pädagogischen Beziehung. Sehr ausführlich wird das lebensalterspezifische pädagogische Handeln für die Phasen der Kindheit und Jugend, des Erwachsenenalters und Alters diskutiert, jeweils vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen und Herausforderungen. Abschließend werden Behüten, Gegenwirken – Mitwirken und Unterstützen als „Formen des pädagogischen Handelns“ (S. 88) im Detail beschrieben.

6. Herausforderndes Verhalten im Kindes- und Jugendalter (S. 95–107)

Zunächst werden einige Formen herausfordernden Verhaltens in pädagogischen Einrichtungen Sozialer Arbeit mit Blick auf Erklärungs- und Lösungsansätze auf Basis wissenschaftlichen Wissens dargestellt: Aggressivität, Sprachprobleme, Hyperaktivität, auffälliges Essverhalten, Einnässen, soziale Unsicherheit, Furchtsamkeit (Ängste), Schlafprobleme, psychosexuelle Auffälligkeiten, Daumenlutschen sowie Stehlen und Lügen. Als Option für den pädagogischen Umgang wird die Methode Marte Meo (Selbstanalyse von Videoaufnahmen pädagogisch Handelnder) vorgestellt. Des Weiteren wird auf das Verhalten in akuten Krisen eingegangen, deeskalierendes Vorgehen bei Widerstand und Verweigerung beschrieben und die Bedeutung von „Sanktionen im Kontext von Erziehung“ (S. 103) erläutert. Orientierung für das pädagogische Handeln sind im pädagogischen Bezug und in der Lebensweltorientierung zu finden, die nach Ansicht der Autorinnen im pädagogischen Takt (distanzierte und reflektierte Wahrnehmung), in der persönlichen Haltung der Pädagogin oder des Pädagogen und in den Merkmalen der pädagogischen Beziehung, verstanden als Kompensation verletzender Erfahrungen mit einer Selbstreflexion der Fachkräfte, zu finden sind.

7. Sozialisation (S. 109–126)

Als dritte Form von Weltaneignung wird Sozialisation im Sinne der Sozialen Arbeit unter dem Blick auf die Strukturen der Gesellschaft und die Erweiterung der Handlungskompetenz der Individuen behandelt. Die Verfasserinnen greifen drei sozialisationstheoretische Ansätze heraus: „Sozialisation als Verinnerlichung sozialer Strukturen“ (S. 110) kann als Auffassung von Pierre Bourdieu (1930-2002) umschrieben werden. Klaus Hurrelmann (*1944) fasst Sozialisation als „produktive Realitätsverarbeitung“ (S. 113) innerer und äußerer Wahrnehmungen im Lebensverlauf der Individuen. Und Lothar Böhnisch (*1944) begründet Sozialisation in enger Anlehnung an das Konzept der Lebensweltorientierung als Lebensbewältigung von Anforderungen aus Gesellschaft, Kultur und Lebenslagen, die über den gesamten Lebenslauf individuell zu erbringen ist. Aus den Konzepten werden Konsequenzen für „habitussensibles Handeln in der Sozialen Arbeit“ (S. 119) abgeleitet, was u.a. mit der Selbstreflexion der eigenen Berufsbiografie beginnt und in Antidiskriminierungsarbeit fortgesetzt werden kann. Mit den Forderungen von Silvia Staub-Bernasconi (*1936) nach einer Sozialen Arbeit, die Menschenwürde und Menschenrechte in einer Risikogesellschaft achtet, materalisieren Ullrich & Sauer die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft und zeigen im Anschluss Konsequenzen für eine „Pädagogik einer menschenrechtsorientierten Sozialen Arbeit“ (S. 122), insbesondere für die politische Bildung von Jugendlichen, auf.

8. Friedenspädagogik und Demokratiebildung am Beispiel von Erinnerungsarbeit in Deutschland und Ruanda (S. 127–143)

Dass es mehr denn je nötig sei, politische Bildungsarbeit in einer globalisierten Welt mit knappen Ressourcen zu betreiben, schicken Ullrich & Sauer voraus, um danach den Ansatz zur Demokratiebildung von John Dewey (1859-1952), bei dem es um die Herausarbeitung der „etablierten“ und der „neuen“ Öffentlichkeiten geht, am Beispiel von Jugendbildung und Antidiskriminierungsarbeit aufzuzeigen. Dewey selbst hat pädagogische und Soziale Arbeit miteinander verbunden, weshalb der Ansatz für den Transfer so wertvoll für die transnationale Verständigung ist. Die Grundideen von Paulo Freire (1921-1997) richten sich gegen die Unterdrückung von Menschen und zeigen Optionen zur Selbstermächtigung auf. Sein methodischer Dreischritt der Bewusstseinsbildung identifiziert das Veränderungspotenzial. Exemplarisch gezeigt wird er an der Aufarbeitung der rassistischen Vergangenheit in Deutschland und Ruanda. Schritt 1 besteht darin, ein „rationales Verständnis historischer Wirklichkeit“ (S. 134) zu erarbeiten. In Schritt 2 erfolgt zunächst die retrospektive Analyse der Wirklichkeit, die dann mit einer Prospektion in Richtung einer offenen und autonomen Gesellschaft ohne Gewalt verbunden wird. Daraus bildet sich in Stufe 3 eine „historische Verpflichtung als moralischer Forderung nach praktischem Engagement“ (S. 137). Wie Paulo Freires Ansatz in der internationalen Erinnerungsarbeit auch unterschiedlich praktiziert wird, wird in einem weiteren Abschnitt erläutert, bevor zusammenfassend Forderungen an Demokratiebildung und Friedenspädagogik in Schule und außerschulischer Bildung formuliert werden.

9. Klimapolitische Jugendbewegungen im Spiegel der Pädagogik der Befreiung nach Paulo Freire und Augusto Boal (S. 145–155)

Auf Basis der Ansätze von Paulo Freire und Augusto Boal (1931-2009) werden die Phänomene des Adultismus, der altersspezifischen Diskriminierung und des Paternalismus erklärt und Formen der Verhinderung von Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen aufgezeigt. Bei den Fridays for Future (FFF) wird die Anknüpfung an die Pädagogik der Befreiung nach dem Stufenmodell von Freire herausgearbeitet. Bei Extinction Rebellion (XR) verbindet sich das emanzipatorische Element mit dem theaterpädagogischen Ansatz von Boal, der die Unterdrückungserfahrungen in Szene setzt und dialogisch mit dem Publikum nach Lösungsansätzen sucht. XR proklamiert dabei explizit die generationenübergreifende Solidarität, die gleichberechtigte Teilhabe, Gewaltfreiheit und den Dialog als Vorgehensweisen. Als Umsetzungsoption nutzt XR Aktionen als „Spielarten des Theaters der Unterdrückten“ (S. 151). Dialog und Solidarität sind nicht auf einen regionalen sozialen Raum beschränkt, sie haben eine globale Bedeutung und nutzen digitale Medien. Beide Bewegungen binden das utopische Moment als Kraftquelle für ihren selbstbestimmten Veränderungsanspruch ein.

10. Von der Behindertenpädagogik zu den Disability Studies – von dominanten Machtverhältnissen zu Powersharing? (S. 157–171)

Eingangs wird der lange Weg vom Ableism/​Ableismus hin zu den Disability Studies kurz angedeutet, der Menschen mit Behinderung aus der Defizit-Perspektive des Nicht-Leisten-Könnens heraus begleitete und der aufzeigt, wie stark Umfeld und Umwelt behindern, u.a. weil das Anders-Sein negativ bewertet wird. Am Beispiel einiger „Machtverhältnisse in pädagogischen Beziehungen am Beispiel Erziehung und Bildung“ (S. 158) wird die Konstruktion von Normalität und Behinderung durch Wissensordnungen und Praktiken des Behinderns nachgezeichnet. Zehn Leitlinien enthalten, was ethisch begründet und unzulässig ist. Eine Möglichkeit der Dekonstruktion von Macht in sozialpädagogischen Beziehungsverhältnissen besteht darin, den Objektstatus und die Fremdbestimmtheit von Menschen mit Behinderung aufzulösen, sie als Subjekte der Inklusion agieren zu lassen – ein Prozess, der auch für die Forschung gilt, nicht als Beforschte, sondern mit ihnen. Ent-hindernde Lebensrealitäten lassen sich in sozialpädagogischen Kontexten nach Mai-Anh Boger durch ein „subjektorientiertes Verständnis von Differenz“ erlangen, das im Trilemma der Inklusion als Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion besteht. Um Diskriminierung und Handlungsräume aufzudecken, kann „Othering als Referenzrahmen“ (S. 166) dienen, damit auf Ebene der gesellschaftlichen Strukturen, der sozialen Diskurse und der individuellen Praxen angesetzt wird. An einigen Handlungsfeldern weisen die Autorinnen auf Konsequenzen hin, die eine differenzsensible (sozial-)pädagogische Haltung bereits sichtbar werden lassen. In der Zusammenfassung sind einige Anforderungen für die professionelle sozialpädagogische Arbeit mit Menschen mit Behinderungen formuliert.

Diskussion

Die Autorinnen verfolgen die Intention, aus Sicht der Disziplin der Sozialen Arbeit Fragen an die Erziehungswissenschaft zu stellen. Das ist gelungen und zeitigt bisweilen auf den ersten Blick auch irritierende Kombinationen. Das Denken „out of the box“ bietet aber auch viele Chancen, die in der und für die Lehre genutzt werden können. So erweisen sich die Kapitel 8 bis 10 als außergewöhnliche Ideen, Demokratiebildung, Friedenspädagogik und Erinnerungsarbeit aus sozialpädagogischer Perspektive mit Ansätzen zur politischen Bildungsarbeit zu verbinden und konkret anhand zweier ausgewählter Länder (Deutschland und Ruanda) Erinnerungsarbeit vergleichend zu betrachten und z.B. im Hinblick auf alltagsrassistische oder herrschaftskritische Elemente zu beleuchten. Einen weiteren aktuellen Anknüpfungspunkt bieten die klimapolitischen Jugendbewegungen, die neben den emanzipatorischen Aspekten auch mit Themen wie Adultismus und Paternalismus verschränkt werden. Und auch bei den Disability Studies sind andere als die klassischen Zugänge einer Behindertenpädagogik angesprochen und motivieren zu einer veränderten theoretischen wie forschungsmethodischen „Denke“. Diese Beispiele wirken erfrischend in Abgrenzung einer stark auf die Logik der Bezugsdisziplin Erziehungswissenschaften fokussierten Vorgehensweise und verschieben die Achse auch zugunsten von sozialpädagogisch relevanten Sachverhalten. Bei der Klärung der grundlegenden Begriffe von Erziehung, Bildung und Sozialisation und auch bei den anthropologischen Grundlagen ist die Variationsbreite nicht ganz so groß, wobei auch hier konsequent die sozialpädagogisch relevanten Aspekte extrapoliert werden, sodass mit den Inhalten des Bandes der häufig gestellten Frage von Studierenden in erziehungswissenschaftlichen Grundlagenvorlesungen, was dieses Wissen nun für die sozialpädagogischen Arbeitsfelder bringen würde, passend begegnet werden kann. Das sehr umfangreiche Kapitel zum pädagogischen Denken und Handeln überzeugt mit seiner Konzentration auf das „Zeigen als pädagogische Grundoperation“ (S. 66), das auch die weitere Strukturierung vorgibt. Trotz der Vorstellung der einzelnen Lebensalterspezifika und der Formen bleibt die Übersicht gewahrt.

Als ungewöhnlich erscheint die Praxis der Autorinnen, in manchen Kapiteln nur einen Unterpunkt auszuweisen (z.B. 10.1.1 ohne 10.1.2). Ebenso gewöhnungsbedürftig sind die doch häufigen Sekundärzitate aus Lehrbüchern, wie z.B. von namhaften Erziehungswissenschaftlern wie Wolfgang Brezinka (Seite 24). Ganz und gar nicht zum macht-, gender-, differenz- und diversitysensiblen Anspruch passt die Auswahl der Portraits: Hier bleibt die Frage, wieso es nur eine einzige Frau in die 13 Portraits des Buches geschafft hat, in einer Disziplin, die eine Frauendomäne war und ist.

Fazit

Als „Pädagogik für die Soziale Arbeit“ ist der Band den Studierenden als Begleit- oder vertiefende Lektüre zu empfehlen. Lehrenden gibt er hilfreiche Anregungen für neue Zugänge.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 83 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245