Sabrina Duppel: Nähe und Distanz [...] in der ambulanten Pflege
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter, 04.10.2005
Sabrina Duppel: Nähe und Distanz als gesellschaftliche Grundlegung in der ambulanten Pflege.
Schlütersche Fachmedien GmbH
(Hannover) 2005.
99 Seiten.
ISBN 978-3-89993-143-3.
22,90 EUR.
CH: 39,90 sFr.
Reihe: Pflegebibliothek : Bremer Schriften.
Autorin
Die Autorin Sabrina Duppel ist Krankenschwester und Diplom-Berufspädagogin in Bremen.
Zielgruppe
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die aktualisierte Version einer im Jahr 2002 an der Universität Bremen eingereichten Diplomarbeit. Nach Einschätzung der Herausgeber (Ingrid Darmann, Stefan Görres, Martina Hasseler, Helga Krüger, Martha Meyer) sollen mit dieser Arbeit in erster Linie beruflich Pflegende in unterschiedlichen Funktionen sowie Pflegelehrer angesprochen werden (S. 7).
Aufbau und Inhalte
Nach einem Vorwort der Hausgeberinnen und Herausgeber sowie einem Vorwort und einer Einleitung der Autorin gliedert sich das Buch in:
- Nähe und Distanz in der Pflege
- Die historischen Wurzeln von Nähe und Distanz in der Pflege
- Dimensionen gesellschaftlich definierter Distanz in der ambulanten Pflege
- Phänomene kulturell erwarteter Nähe in der ambulanten Pflege
- Anforderungen an die professionelle Pflege
- Nähe und Distanz als Gegenstand der pflegerischen Ausbildung
- Schlussbetrachtung
Ein Anhang, ein Literaturverzeichnis und ein Register ergänzen dieses Programm.
Die Autorin setzt sich in ihrer Schrift mit dem prekären Spannungsverhältnis von professioneller Nähe und beruflicher Rollendistanz in der Pflege auseinander. Dabei geht sie von der These aus, dass sich die Anforderungen der häuslichen und ambulanten Pflege als ein Balanceakt zwischen "gesellschaftlich definierter Distanz" und "kulturell erwarteter Nähe" darstellen.
- Das erste Kapitel umfasst nur knapp vier Seiten und ist das
mit Abstand kürzeste. Hier versucht sich die Autorin an der begrifflichen
Klärung von "Nähe" und "Distanz". Duppel
konstatiert zu Recht, dass eine "allgemeine Bestimmung des Begriffspaares (...)
kaum möglich (ist)" und "dass es keine feststehende Grenze zwischen Nähe und
Distanz geben kann" (S. 15). Folglich versteht sie die beiden Begriffe auch
nicht als dualistisches Gegensatzpaar, sondern als eine "dialektische Einheit"
bzw. als "ein sich ergänzendes Begriffspaar mit fließenden Übergängen, wobei
auch Überschneidungen möglich sind" (S. 16). Die theoretische Herleitung eines
solchen Verständnisses bleibt jedoch weitgehend im Dunkeln. Als Referenzen
werden neben einem Aufsatz von Heine
("Pflege als Übungsweg") noch ein Lexikon (1994) und ein Wörterbuch der
Soziologie (aus dem Jahre 1969 !) angegeben - leider ohne die Herausgeber und
Autoren der Stichworte bzw. Aufsätze genannt zu haben. Hier wäre etwas mehr
Präzision wünschenswert gewesen. So wirken die Hinweise auf die zweckhaften und
"affektiv neutralen Beziehungen" des Gesellschaftshandelns und auf die "stark affektiv gefärbten und
solidarischen Beziehungen" im Gemeinschaftshandeln (S. 17) etwas verloren. Eine stärkere Einbettung in
das Rationalitätskonzept von Max Weber - der mit diesen Termini schließlich das begriffliche Doppel von Tönnies
(Gemeinschaft und Gesellschaft)
aufgegriffen und handlungstheoretisch gewendet hat - hätte an dieser Stelle gut
getan. Somit wäre der im weiteren Verlauf dieser Arbeit thematisierte
Rationalisierungsprozess in der Pflege auch theoretisch zu erklären und nicht
nur zu beschreiben gewesen.
Wenn man "Nähe und Distanz als gesellschaftliche Grundlegung in der ambulanten Pflege" (eigene Hervorhebung, K.R.S.) in den Fokus rückt, dann sollte man sich auch nicht davor scheuen, die grundlegenden Begriffe gesellschaftswissenschaftlich deutlicher herauszuarbeiten oder sich auf Studien berufen, die das getan haben. Die Soziologie hat hier durchaus etwas zu bieten und ein genauerer Blick, z.B. bei Simmel, Schütz oder Elias, hätte - auch ohne tiefe Theorieexegese - schnell Aufschluss gegeben. Er hätte auch gezeigt, dass der Spannungsbogen von Nähe und Distanz die - später dann auch erwähnte, aber theoretisch nicht hergeleitete - soziale Figur des Vertrauens nicht unwesentlich tangiert. Und Vertrauen ist, zumal in der Pflege - ob in Institutionen, Systeme oder Interaktionen -, ein konstituierender Aspekt sozialer Beziehungen und gleichsam ein kontinuitätsfördernder Mechanismus, der als sozialer Kitt so manches - in Nähe und Distanz - zusammenhält. Doch legen wir die Messlatte nicht zu hoch, wir haben es hier mit einer Diplomarbeit und nicht mit einer Dissertation zu tun. - Im zweiten Kapitel führt uns die Autorin zu den "historischen Wurzeln von Nähe und Distanz in der Pflege". Dazu zeigt sie zum einen die zunehmende Distanzierung der Pflege am Prozess ihres beruflichen Institutionalisierungsprozesses und der damit einhergehenden Veränderungen der pflegerischen Arbeitsstrukturen. Dabei rezipiert sie im Wesentlichen die pflegehistorischen Arbeiten von Bischoff und Steppe. Zum anderen geht es ihr um die historische Veränderung der "kulturell erwarteten Nähe" in der Pflege. Dabei greift sie vor allem auf ein Referat von Silvia Käppeli zurück. Die sieht einen Wandel in der Motivation zur Pflege von einem ursprünglichen Beweggrund der christlichen Liebe i.S. der Hingabe nach den Beispiel von Gottes Liebe zu einem seit der zweiten Hälfte des 20. Jhd. verbreiteten säkularisierten humanistischen Ethos.
- Im dritten Kapitel behandelt die Autorin verschiedene "Dimensionen
gesellschaftlich definierter Distanz in der ambulanten Pflege". Sie skizziert die fortschreitende Trennung von
gesundheitlicher und sozialer Versorgung bis hin zur Entwicklung der
Pflegeversicherung und der Etablierung und Expansion kommerzieller Pflegedienste
und stellt fest, dass auch "im ambulanten Bereich (...) eine einseitige
Betonung/Verschiebung zugunsten medizinisch-pflegerischer Tätigkeiten
stattgefunden hat" (S. 35f.).
Duppel unterscheidet im Einzelnen fünf verschiedene Dimensionen gesellschaftlicher Distanz: Ausgehend von der These, "dass die Motivation der politischen Steuerungen im deutschen Gesundheitswesen ökonomisch determiniert ist und sich nicht unbedingt an den Bedürfnissen bzw. dem Bedarf der Bevölkerung orientiert" (S. 38), sieht sie zum einen eine "Distanz durch ökonomischen Druck". In Anlehnung an die ökonomiekritischen Überlegungen von Deppe kommt sie in ihren Ausführungen zu dem Schluss, dass auch in der ambulanten Pflege der "Preiswettbewerb vor dem Qualitätswettbewerb" und "das Vertragsverhältnis vor dem Vertrauensverhältnis" gilt. Dadurch fände "eine Industrialisierung des pflegerischen Arbeitsprozesses statt, in welcher ökonomische Regeln und Prinzipien der Marktwirtschaft auf die Rahmenbedingungen der ambulanten Pflege übertragen" würden (S. 43). Zum anderen leitet Duppel die "gesellschaftlich definierte Distanz" aus den "gesetzliche(n) Grundlagen der ambulanten Pflege" (S. 43ff.) ab, wobei sie insbesondere die aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbare Unterscheidung von Grund- und Behandlungspflege ins Visier der Kritik nimmt. Das überwiegend nach dem "Komplexleistungsprinzip" erfolgende Vergütungssystem führt nach ihrer Einschätzung sodann zu einer "Distanz durch Abstraktion vom Zeitfaktor" (S. 45ff.). Das Resultat ist dann eine sich an betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen orientierende Pflege, die "auf den Produktionsvorgang von Verrichtungen bzw. Tätigkeiten reduziert" und als "fertiges Produkt vergütet" wird (S. 46). Weil der durch den Medizinischen Dienst (MDK) ermittelte Pflegebedarf durch eine rigide - und an industriellen Zeitmessungen orientierte - Pflegezeitbemessung vorgenommen wird, werden pflegerische Leistungen von persönlichen Bedürfnissen abstrahiert und standardisiert. Und da "(d)ie Pflegebedürftigen (...) dadurch zu Gegenständen des pflegerischen Handwerks degradiert (werden) (...) und (...) Objektcharakter (erhalten)" (S. 51), spricht Duppel in diesem Zusammenhang von einer "Distanz durch Verobjektivierung". Und weil schließlich "(d)er Genehmigungszwang und die Entscheidungsgewalt der Kassen (...) zu einer ökonomischen Überfrachtung der Versorgung und damit zu einer bürokratisch-restriktiven, distanzierten Haltung gegenüber der spezifischen Situation der Pflegebedürftigen (führen)" (S. 55), differenziert sie fernerhin noch die "Distanz durch institutionelle Kontrolle", die sich eben durch die Macht der Krankenkassen, Leistungen zu bewilligen oder abzulehnen, ergibt. - Kapitel vier behandelt die "Phänomene kulturell erwarteter Nähe in der ambulanten Pflege", wobei Duppel im Einzelnen zwischen der "Nähe durch Angewiesen-Sein", der "Nähe durch (mit-)menschliche Zuwendung" und der "Nähe durch Intimität" unterscheidet. Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist die These, dass die Privathaushalte der pflegebedürftigen Menschen sowohl deren Lebenswelt als auch die Arbeitswelt der dort beruflich Tätigen bilden. Dabei ist der Autorin bewusst, dass auch die auf Reziprozität ausgerichtete und Intimität bzw. körperliche und soziale Nähe beinhaltende ambulante Pflege stets eine formal asymmetrische Beziehung ist. Jedoch könne - "als Ideal (d.h. als ethische Wertsetzung des professionellen Handelns" (S. 61) - das zwischen Pflegekräften und zu Pflegenden bestehende Machtgefälle in konkreten Situationen durch die mitmenschliche Zuwendung der Pflegenden überwunden werden.
- In dem kurz gehaltenen Kapitel fünf behandelt die Autorin die verschiedenen Widersprüchlichkeiten in den "Anforderungen an die professionelle Pflege". Sie verweist auf die Unvereinbarkeiten zwischen den gesetzlich normierten Leistungsanforderungen und den von den zu Pflegenden subjektiv erwarteten Leistungserbringungen, auf den Antagonismus von verallgemeinerter Regelanwendung und hermeneutischem Fallverstehen und auf den Widerspruch zwischen der vertraglich gesicherten Verbundenheit und der affektiv geprägten Beziehungsarbeit. All das führe dazu, dass die Pflegenden u.U. gezwungen seien, "ihre Handlungsziele und ebenso auch ihre professionelle Authentizität zu maskieren" (S. 72). Duppel unterstreicht die in der Pflege sattsam bekannte Herausforderung, einen angemessenen Balanceakt zwischen beruflicher Rollendistanz und persönlichem Engagement herzustellen. Sie sieht das zentrale Problem der Pflegenden darin, "dass unterschiedliche Ebenen, nämlich die Leistungserbringung (Arbeitnehmerstatus), die Beziehungsarbeit (personenbezogene Dienstleistung) und das Privatleben, sowohl einzeln auch insgesamt, ausbalanciert werden müssen" (S. 75).
- Im sechsten Kapitel ("Nähe und Distanz als Gegenstand der pflegerischen Ausbildung") befasst sich Duppel mit der Frage, welche Fähigkeiten ausgebildet werden müssen, um eine angemessene Balance zwischen gesellschaftlich definierter Distanz und kulturell erwarteter Näher herzustellen. Dazu nennt sie eine ganze Reihe von Kompetenzen (u.a. Ambiguitätstoleranz, Konflikt- und Problemlösungskompetenz, Empathiefähigkeit, flexibles Denken, Reflexionsfähigkeit, emotionale Stabilität, diverse fachliche und persönliche Kompetenzen, Improvisationsfähigkeit ....) und fordert für die Pflegeausbildung "sowohl eine fächerintegrative Unterrichtsgestaltung als auch eine Methodenvielfalt", die sie durch ein "gestaltpädagogisches und erfahrungsbezogenes Lernen" (S. 79) am ehesten zu verwirklichen sieht. Hier plädiert sie in Anlehnung an Brater et al. für die Integration künstlerischer Bildung in die pflegerische Ausbildung, weil z.B. "das Erlernen der Krankenbeobachtung durch künstlerische Übungen vorbereitet und unterstützt werden (kann)". Denn "mit Hilfe dieser Methode (kann) geübt werden, das Leben eines Menschen als (objektives) Kunstwerk aufzufassen, welches gefallen oder missfallen kann, um z.B. die emotionale Distanz zu schulen" (S. 83).
Einschätzung
Duppels Arbeit über "Nähe und Distanz als gesellschaftliche Grundlegung in der ambulanten Pflege" ist keine empirische Studie, in der mit eigens erhobenen oder sekundär ausgewerteten Daten gearbeitet wird. Der Titel verspricht eher Theorie. Doch die ist spärlich gesät. Es fehlt ein theoriegeleitetes Grundkonzept, in welches das hier behandelte Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz in der ambulanten Pflege einzubetten wäre. Wir haben es hier eher mit einer interpretativen Studie des Pflegegeschehens zu tun. Das äußert sich auch darin, dass die Autorin an verschiedenen Stellen immer wieder in Meinungsäußerungen verfällt, wie z.B. "Ich vertrete die Meinung, dass ...", "Ich bin der Ansicht, dass ...", "Ich vertrete die Auffassung, dass ...", "Ich gelange daher zu der Ansicht, dass ..." usw. Trotz alledem ist diese Interpretation zuweilen ganz originell, insbesondere bei der Kategorienbildung der Dimensionen "gesellschaftlicher definierter Distanz" und "kultureller erwarteter Nähe" - zu bedenken ist jedoch, dass auch kulturelle Erwartungen nicht jenseits gesellschaftlicher Übereinkünfte und Festlegungen gedeihen. Mit theoretischer Fantasie und begrifflicher Schärfe ließe sich dieses Vorgehen sicherlich weiter entfalten und präzisieren. Doch auch in der vorliegenden Form werden die sich aus der Enge des gesundheitsökonomischen Korsetts ergebenden pflegepraktischen Konsequenzen sichtbar. Inwieweit freilich der hier vorgeschlagene Weg, Gestaltpädagogik und künstlerisches Arbeiten als integrierte Bestandteile in der Pflegeausbildung zu verankern, den skizzierten Spagat in der Pflegepraxis wirklich zu meistern hilft, lässt sich nur in der empirischen Realität zeigen.
Fazit
Die Autorin greift mit der Nähe-Distanz-Problematik einen thematischen Dauerbrenner in der Pflege auf. Dieses Spannungsverhältnis wird – trotz Schwächen in der theoretischen Herleitung – durchaus plausibel erklärt und anschaulich beschrieben. Das am Ende gehaltene Plädoyer für eine verstärkte Einbindung künstlerisch-kreativer Elemente in die Pflegeausbildung klingt innovativ. Ob ein solches Vorgehen jedoch hinreichend Impulse setzen kann, um gesellschaftliche und gemeinschaftliche Strukturen nachhaltig zu durchstoßen, bleibt fragwürdig. Und so bleiben am Ende einige offene Fragen. Auch wenn der Titel „Nähe und Distanz als gesellschaftliche Grundlegung in der ambulanten Pflege“ gewaltig klingt und mehr verspricht als in einer Diplomarbeit eingelöst werden kann, lohnt sich ein Blick in diese durchaus lesenswerte Arbeit.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)
Hochschule für Soziale Arbeit,
Institut Integration und Partizipation
Professur für Altern und Soziale Arbeit
Mailformular
Es gibt 12 Rezensionen von Klaus R. Schroeter.
Zitiervorschlag
Klaus R. Schroeter. Rezension vom 04.10.2005 zu:
Sabrina Duppel: Nähe und Distanz als gesellschaftliche Grundlegung in der ambulanten Pflege. Schlütersche Fachmedien GmbH
(Hannover) 2005.
ISBN 978-3-89993-143-3.
Reihe: Pflegebibliothek : Bremer Schriften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2780.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.